Der Europäische Rat hat der Ukraine den Status eines Beitrittskandidaten verliehen. Trotz politischen Momentums wird der Weg in die EU lang und beschwerlich. Welche Herausforderungen stellen sich für EU und Ukraine bei der Vorbereitung des Beitritts und einer eventuellen Aufnahme? Die Koordination dieses 360 Grad hat Nicolai von Ondarza übernommen.
Mit der Zuerkennung des Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldau hat der Europäische Rat (ER) das Tor für die zweite große Osterweiterung aufgestoßen. Nimmt man nur die sechs Länder des Westbalkans und Georgien hinzu, so haben die 27 EU-Staaten in Brüssel die Pflöcke für eine EU-36 eingeschlagen. Allein der Krieg hat bewirkt, dass die EU dem Assoziierten Trio so schnell die Mitgliedschaftsperspektive eröffnete. Unter den Vorzeichen einer zerstörten europäischen Sicherheitsordnung kehren integrationspolitische Grundsatzfragen mit Vehemenz zurück. In Anlehnung an die Agenda 2000 müsste die EU eine „Agenda 2030“ entwickeln, in der sie ihre strategischen Überlegungen für die Erweiterung und damit einhergehende interne Reformen darlegt.
Mit Blick auf eine EU-36 hat der ER den Begriff des „Größeren Europa“ reaktiviert. Darunter subsumierte die EU zur Zeit der Osterweiterung von 2004 jene osteuropäischen Nachbarn, für die der damalige Kommissionspräsident Prodi als Beziehungsperspektive ausrief: „Alles außer Institutionen!“ Mit dieser Leitidee und ihren Problemen setzen sich Vorschläge auseinander, in denen Zwischenstadien oder Provisorien für den langen Weg zur Mitgliedschaft skizziert werden. Alle Konzepte wollen Trassen für eine schnelle sektorale Integration legen (z. B. abgespeckter Binnenmarkt, Energieversorgung). Strittig bleibt, ob und wie lange die immer enger Assoziierten als Drittstaaten behandelt werden oder aber doch abgestufte Beteiligungsrechte in EU-Organen und -Politiken erhalten sollen. Der ER greift Macrons unausgereifte Idee einer Europäischen Politischen Gemeinschaft für alle europäischen Länder auf, mit denen die EU enge Beziehungen hat. Sie erinnert an die unergiebige Initiative zu einer Europa-Konferenz von 1998/2001.
Wann immer die 27 beschließen werden, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu eröffnen, werden sie auch einen Verhandlungsrahmen festlegen. Darin könnte der Rat die Beitrittsverhandlungen mit dem laufenden Assoziierungsprozess verzahnen und optional auch mit einem neuen Zwischenformat. Das betrifft auch die unterschiedlichen Instrumente dieser Heranführungsprozesse, einschließlich der massiven Finanzhilfen, die auf die Kontexte von Krieg, Konflikt und Wiederaufbau abzustellen sind. Wie bei den Staaten des Westbalkans werden die „fundamentals“ (Rechtsstaatlichkeit, unabhängige Justiz, Korruptionsbekämpfung, institutionelle Stabilität) große Beitrittshürden darstellen, ebenso die Ent-Oligarchisierung der Wirtschaft. Auch die sicherheitspolitischen Implikationen sind prekär, denn die Ukraine wird auf absehbare Zeit nicht Nato-Mitglied, und die EU kann ihr in ihrer heutigen Verfassung nicht militärisch beistehen. Diese Fragen werden nicht in Beitrittsverhandlungen, sondern anderen Formaten zu lösen sein.
Wie jeder EU-Beitritt hätte jener der Ukraine Auswirkungen auf die Institutionen der EU. Angesichts der Größe des Landes – gemessen an der Bevölkerungszahl vor Kriegsbeginn wäre es das fünftgrößte in der Union und das größte Neumitglied seit den 1980er Jahren – würden diese Auswirkungen besonders gravierend sein. Insofern werfen sie Fragen auf, die etwa Reformen von Entscheidungsverfahren und die institutionelle Aufnahmekapazität betreffen.
Im Rat der EU sowie im Europäischen Rat würde die Ukraine wie jeder andere Mitgliedstaat bei Einstimmigkeit ein Veto-Recht erhalten. Ein Staat mehr würde die Verfahren nicht erheblich erschweren. Kommen aber weitere neue Mitglieder etwa aus dem westlichen Balkan hinzu, steigt die Notwendigkeit, Mehrheitsentscheidungen auszuweiten. Bei qualifizierter Mehrheit müssen einem Ratsbeschluss 55 Prozent der Mitgliedstaaten zustimmen, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Die Ukraine würde auf ungefähr 9 Prozent der Stimmen kommen, was etwa dem heutigen Stimmgewicht Polens entspricht. Gleichzeitig würden aber auch die prozentualen Stimmanteile der anderen Mitgliedstaaten sinken, derjenige Deutschlands beispielsweise von 18,6 auf etwa 16,9 Prozent. Gemeinsam hätten Polen und die Ukraine dann etwa das Stimmgewicht Deutschlands.
Im Europäischen Parlament (EP) werden die Sitze pro Mitgliedstaat nicht rein mathematisch verteilt, sondern gemäß dem Prinzip der degressiven Proportionalität ausgehandelt. Die Ukraine dürfte sich hier zwischen Polen (52 Sitze) und Spanien (59) einordnen. Insofern könnten ihre Abgeordneten durchaus das Machtgefüge im EP beeinflussen. Außerdem würde damit das vertraglich festgelegte Limit von 751 EU-Abgeordneten (Aktuell: 705) überschritten. Mit dem Beitrittsvertrag der Ukraine müsste also entweder das EP erweitert und/oder die Anzahl der Sitze für Abgeordnete aus anderen EU-Staaten proportional reduziert werden. Auch die jüngst vom EP vorgeschlagene Einführung eines EU-weiten Wahlkreises unter Nutzung jener EP-Sitze, die durch den Brexit freigeworden sind, wäre ohne Veränderung der Sitzverteilung nicht mehr möglich.
Nicht zuletzt stünden der Ukraine in der EU-Kommission ebenso wie in allen weiteren EU-Institutionen proportional Positionen zu. Doch wäre die Arbeitsfähigkeit insbesondere der EU-Kommission gefährdet, bliebe die EU nach dem eventuellen Beitritt der Ukraine und möglicherweise weiterer Staaten des westlichen Balkans bei dem Prinzip ein Kommissar oder eine Kommissarin pro Mitgliedstaat. Spätestens zur Aufnahme der Ukraine sollte die EU also auch ihre institutionellen Grundlagen anpassen – mit einer Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen, Anpassung der Sitzverteilung im EP und einer Verkleinerung der EU-Kommission.
Die engsten Partner der Ukraine in der EU wären voraussichtlich Polen und die baltischen Staaten sowie andere Länder Ostmittel- und Südosteuropas. Parallele Bedrohungswahrnehmungen, ein vergleichbarer Erfahrungsschatz und eine ähnliche Sicht auf Russland würden die Gruppe jener Mitgliedstaaten stärken, die eine härtere Gangart gegenüber Moskau fordern. Polen wäre ein Schlüsselpartner. Die Beziehungen zu Warschau werden sich in den nächsten Jahren voraussichtlich weiter verstärken, etwa durch ein neues bilaterales Abkommen, das möglicherweise die Tiefe des Élysée-Vertrags haben würde. Auch zu Litauen und den anderen baltischen Staaten sowie zu den meisten EU-Ländern, die sich als Frontline-States des Westens verstehen, würde Kyjiw ein enges Verhältnis pflegen.
Die Ukraine würde in der EU eine proamerikanische Haltung einnehmen und die im Krieg aufgebauten intensiven sicherheitspolitischen und militärischen Bindungen an die USA (und an Großbritannien) in die EU hineintragen. In der Gemeinschaft würde damit der transatlantische „Klub“ gestärkt. Gleichzeitig hätte das Land angesichts seiner Nichtzugehörigkeit zur Nato ein Interesse an der Weiterentwicklung von Solidar- und Schutzklauseln sowie von militärischen Fähigkeiten im Rahmen der GSVP und an der Verbesserung der EU-Nato-Kooperation.
Mit Blick auf die Zukunft der EU ist von konkurrierenden Zielen Kyjiws auszugehen. Einerseits möchte die Ukraine der EU beitreten, weil sie „mehr Europa“ möchte. Eine Verflachung der europäischen Integration liegt nicht in ihrem Interesse, würde damit doch die finanzielle und politische Solidarität unterminiert. Andererseits wird ein Staat, der im Krieg um seine Unabhängigkeit kämpft, nur zögerlich Souveränität „poolen“ lassen wollen. Grundsätzlich dürfte die Ukraine differenzierten Formen der Integration wohl zurückhaltend gegenüberstehen, hätte sie doch die Befürchtung, dabei (wie etwa bei der Eurozone, der das Land lange nicht angehören würde) außen vor zu bleiben.
Insgesamt würde mit dem Beitritt der Ukraine die politische und sozioökonomische Heterogenität zunehmen. Diese ließe sich auch durch Vertragsänderungen nicht einfach „wegreformieren“. Eine neue, durch die Verflechtung mit den USA zusätzlich aufgewertete „Ostflanke der EU“ hätte gegenüber dem bisherigen Süden mehr Gewicht, die Gestaltungskraft des deutsch-französischen Tandems würde schwinden. Deutschland müsste daher mehr in die Sicherung der Einheit der EU investieren. Chancen ergäben sich für Deutschland daraus, dass mit der Ukraine ein Land in die Union käme, das die Anstrengungen der Gemeinschaft für mehr sicherheitspolitische Effektivität und höhere Resilienz mittragen würde.
Vor Russlands Invasion am 24. Februar zeichnete sich die EU-Politik der Ukraine durch zwei langanhaltende Trends aus. Erstens führte der Abschluss des Assoziierungsabkommens im Jahr 2014 zu einer spürbaren „Pragmatisierung“ des EU-Diskurses, der zuvor lange durch symbolisch-normative Debatten über eine zukünftige Mitgliedschaft bestimmt worden war. Die postrevolutionären politischen Eliten, in der Mehrheit nun klar proeuropäisch ausgerichtet, aber auch eine professioneller agierende Zivilgesellschaft arbeiteten in der Folge vor allem an einer vertieften sektoralen Integration mit der EU. Gleichzeitig bezeugten Umfragen, wie verbreitet die Erkenntnis unter den Ukrainern war, dass eine Mitgliedschaft in weiter Ferne lag. Ein zweiter Trend war die wachsende Kritik der ukrainischen Führung an der EU, die sich trotz der Reformerfolge des Landes nach 2014 nicht ernsthaft mit Vorschlägen für eine Aufwertung des Formats der Östlichen Partnerschaft beschäftigen wollte. Zuletzt war das Projekt des „Assoziierten Trios“ in Brüssel mit Zurückhaltung aufgenommen worden.
Mit Ausbruch des Krieges veränderte sich der Kontext nachhaltig. Führung und Gesellschaft der Ukraine sahen sich in neuer Einigkeit als vorgeschobener Posten in einem Abwehrkampf des demokratischen Europas gegen die russisch-imperiale Aggression. Damit öffnete sich ein moralisches und geopolitisches „Möglichkeitsfenster“ für die Ukraine. Die Argumentation Kyjiws für einen schnellen Beitritt zur Union war nun erneut wie vor 2014 vor allem stark normativ geprägt. Aus der Sicht Präsident Selenskyjs ist die Zuerkennung des Kandidatenstatus nur „gerecht“ eingedenk dessen, dass das ukrainische Volk seine Existenz für die europäischen „Werte und Rechte“ riskiere. Fragen etwa nach dem Stand der Justizreformen oder des Kampfes gegen die Korruption wurden von ukrainischen Regierungsvertretern dagegen als unzulässige „Mikroargumente“ bezeichnet.
Gleichzeitig ist ein neues Selbstbewusstsein Kyjiws gegenüber der EU spürbar. Die Repräsentanten der Ukraine sehen ihr Land auf Augenhöhe mit den großen EU-Staaten und stellen sich in puncto Umsetzung des Assoziierungsabkommens als regionale Avantgarde und durchsetzungsstarke Reformer dar. Die ukrainische Zivilgesellschaft wiederum betont die Bedeutung des Kandidatenstatus für neuen Reformschwung. Regierung und Zivilgesellschaft haben in den letzten Monaten eine sehr professionelle und gut koordinierte Kampagne für die Erteilung des Kandidatenstatus innerhalb der EU geführt. Die Östliche Partnerschaft dagegen hat ihren Zweck aus Sicht Kyjiws erfüllt. In eine Neuausrichtung oder neue Formate wird die Ukraine nur investieren, falls diese klare Sicherheitsdividenden abwerfen.
Die Ukraine ließe sich vergleichsweise schnell in die operative und rüstungspolitische Dimension der GSVP integrieren. Ein Beteiligungsabkommen (Framework Participation Agreement) regelt die Einbindung der Ukraine in GSVP-Operationen. Seit Beginn der 2000er Jahre nimmt das Land an ihnen teil, darüber hinaus beteiligt es sich an den EU-Battlegroups. Seit 2015 regelt eine Verwaltungsvereinbarung mit der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) die bilateralen Beziehungen und bietet Kyjiw die Möglichkeit einer Teilnahme an ihren militärtechnischen Projekten und Programmen. Im Oktober 2021 erkannten die EU-Mitgliedstaaten den Wunsch der Ukraine an, sich an Projekten der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ) zu beteiligen.
Ungeachtet dieser Einbindung müsste eine Einbeziehung des EU-Mitglieds Ukraine in die GSVP gleichwohl einhergehen mit einer geostrategischen Neupositionierung, einer Neuausrichtung der EU-Nato-Beziehungen und einer Ausweitung der EU-Fähigkeiten, Cyberangriffe und Desinformationskampagnen abzuwehren. Denn mit ihrer neuen Außengrenze wird die EU eine weitere direkte Grenze zu Russland haben. Ihre Außengrenze wird überdies nicht deckungsgleich sein mit derjenigen der Nato.
Nach einem Beitritt der Ukraine wäre die EU Russlands ungerechtfertigter Aggression gegen die Ukraine, seinen strategischen Einschüchterungen und direkten Bedrohungen noch direkter ausgesetzt. Um Russland abzuschrecken, müsste die EU ihre Beistandspflicht erheblich schärfen. Gemäß Artikel 42.7 des Lissabonner Vertrages gilt derzeit, dass im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates die übrigen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung schulden.
Solange sich die EU an ihrer Kernaufgabe – das internationale Krisenmanagement – ausrichtet, müsste die Nato ihr ihre Bereitschaft zusichern, dem EU-Mitglied Ukraine konventionellen Schutz und Sicherheit zu garantieren. Die Streitkräfte der Ukraine dürften auf lange Sicht außerstande sein, diese Aufgabe zu übernehmen. Bereits vor Beginn des russischen Angriffskrieges wiesen sie einen schlechten Organisationsgrad auf. Seit 2014 unterstützt die EU im Rahmen der Beratungsmission Ukraine (EUAM) Kyjiw darin, nachhaltige, rechenschaftspflichtige und effiziente zivile Sicherheitsdienste aufzubauen. Im Januar 2022 bewilligte der Rat 31 Millionen Euro aus der Europäischen Friedensfazilität dafür, in den kommenden drei Jahren Kapazitäten der ukrainischen Armee in den Bereichen Medizin, Technik, Mobilität und Logistik sowie Cyberverteidigung zu stärken. Er prüft zudem, die Ukraine bei der militärischen Berufsausbildung zu unterstützen.
Schließlich müssten die EU-Staaten die Kommission darin bestärken, die gemeinsame Entwicklung von Cyber-, Hybrid- und Desinformationsfähigkeiten erheblich auszuweiten, und ihr den dazu notwendigen finanziellen Spielraum geben.
Agrarverhandlungen sind in jedem Beitrittsprozess mit am langwierigsten: Unmittelbar verbunden sind sie mit Budgetfragen und damit der Mittelverteilung innerhalb eines neuen Mitgliedslands sowie zwischen neuen und alten Mitgliedern. Agrarausgaben machen 30 Prozent des EU-Etats aus und bestimmen maßgeblich die Nettozahler- und Empfängerpositionen.
Entscheidend für Budgetrückflüsse ist die konkrete Ausgestaltung der EU-Agrarsubventionen, die zum Großteil als Direktzahlungen flächenbezogen geleistet werden. In der Ukraine gibt es neben kleinen privaten Landwirtschaftsbetrieben auch große Staatsunternehmen und vor allem Agrarholdings mit deutlich mehr als 1.000 ha Betriebsgröße. Eine Übertragung des aktuellen Typs der Direktzahlungen würde zu großen einzelbetrieblichen und Gesamttransfers an die Ukraine führen. Für die Abwicklung und Auszahlung dieser Subventionen müssten aber erst Verwaltungsstrukturen nach EU-Vorbild aufgebaut werden.
Vergangene Erweiterungen zeigen neben Konflikten auch Lösungsansätze: Vor der Osterweiterung 2004 sorgten sich die alten EU-Mitgliedstaaten um ihre Agrarbudgetzuflüsse. Umgekehrt kämpften große Beitrittskandidaten wie Polen für eine hohe Agrarunterstützung. Schließlich wurde nach einer deutsch-französischen Einigung das künftige Agrarbudget gedeckelt, die neuen Mitglieder mussten einen zehn Jahre langen Phasing-in-Prozess durchlaufen, bis sie zum gleichen Niveau der Agrarzahlungen aufschließen konnten. Für die Ukraine ist auch eine längere Eingliederungsphase denkbar. Entscheidend wird sein, ob sie ihre Wettbewerbsfähigkeit trotz Krieg halten kann oder auf spezielle landwirtschaftliche Wiederaufbauhilfen angewiesen sein wird. Voraussetzung für den Beitritt ist zudem, dass die vor dem Krieg begonnene Bodenmarktreform vollendet wird, um Transparenz und Verfahrensgerechtigkeit bei Landkäufen und ‑eigentum sicherzustellen. Hierdurch ließen sich Korruption eindämmen und auch kleinere Betriebseinheiten vor umfangreichen Landaufkäufen schützen. Gleichzeitig sollten aber leistungsstarke Größenstrukturen nicht prinzipiell verhindert werden.
Die Angleichung von Nahrungsmittelstandards, ebenfalls wichtig für die Eingliederung in den Binnenmarkt, ist wegen verschiedener geltender Handelsbestimmungen bereits fortgeschritten. Als WTO-Mitglied muss die Ukraine generelle Importstandards ohnehin einhalten. Die Übernahme weiterer EU-Standards wird bereits seit 2016 durch den Handelsteil des bilateralen EU-Ukraine-Assoziierungsabkommens unterstützt, auch durch Kooperationen relevanter Institutionen.
Erweiterungsrunden fördern durch den mit ihnen verbundenen Budgetdruck auch EU-Agrarreformen. So könnte vom Beitritt der agrarstarken Ukraine ein Impuls ausgehen, die derzeit flächenbezogenen Agrarsubventionen abzuschaffen zugunsten definierter Natur- und Umweltleistungen.
Schließlich würde der Beitritt der Ukraine die EU als geostrategischen Agrar- und Versorgungsakteur stärken. Nach einer Erweiterung läge ihr Exportanteil allein bei Weizenausfuhren mit rund 30 Prozent noch über jenem Russlands, dem bisher dominanten Weltmarktakteur.
Der russische Angriff auf die Ukraine hat der EU vor Augen geführt, dass Handelsbeziehungen, die überwiegend dem Import fossiler Energieträger dienen, Aggressionen finanzieren statt verhindern. Zugleich wird deutlich, dass mehr Ehrgeiz beim Ausbau der Erneuerbaren und der Steigerung der Energieeffizienz kurzfristig nur begrenzt geeignet ist, Öl, Gas und Kohle in großem Umfang zu ersetzen. Trotz der klimapolitischen Vorreiterrolle liegt der Anteil fossiler Energieträger am EU-Energiemix immer noch bei gut 70 Prozent. Daran lässt sich ablesen, wie komplex und langwierig der Weg zur Klimaneutralität ist.
Mit einem Beitritt der Ukraine würden sich die von der EU rechnerisch bereits erreichten Minderungswerte spürbar verbessern, denn die ukrainischen Emissionen sind seit 1990 mehr als doppelt so stark gesunken wie die der EU27. Allerdings weist die Ukraine einen weit geringeren Anteil erneuerbarer Energiequellen und eine wesentlich ineffizientere Energienutzung auf. Darin ähnelt sie vielen mittel- und osteuropäischen Staaten zu Beginn ihrer EU-Mitgliedschaft. Künftige energiepolitische Schwerpunkte der Ukraine lassen sich derzeit ebenso wenig seriös einschätzen wie Exportpotentiale für Atomstrom, Biomasse oder Wasserstoff. Unbestritten ist aber, dass die Ausgestaltung des Wiederaufbaus der zerstörten oder modernisierungsbedürftigen Infrastruktur essentiell sein wird, denn sie wird langfristige Auswirkungen auf die Struktur des Energieverbrauchs haben.
Zwar ist die Angleichung an die energie- und umweltpolitischen Rechtsvorschriften der EU schon seit dem Beitritt der Ukraine zur Europäischen Energiegemeinschaft 2011 im Gange. Jedoch würde ein EU-Beitritt erfordern, die politikfeldspezifischen Maßnahmen und Regulierungsinstrumente im Land beträchtlich zu stärken. Das beträfe unter anderem die Beteiligung am Emissionshandelssystem oder die Übernahme zahlreicher sektoraler Vorschriften, etwa zur Energieeffizienz von Gebäuden oder zur Nachhaltigkeit der Bioenergie-Nutzung.
Wegen des fehlenden mittelfristigen Planungshorizonts und der wirtschaftlichen Folgen des Krieges dürfte es nicht zu den Hauptprioritäten der Ukraine zählen, den Rechtsbestand anzupassen und administrative Kapazitäten in besonders regulierungsintensiven Politikfeldern zu schaffen. Umfassende infrastrukturelle und industrielle Wiederaufbauprogramme, ökologische Sanierungsinitiativen und der Zugang zu „grünen“ Finanzmitteln werden unerlässlich sein, um die Ukraine auf dem Weg zum „ersten klimaneutralen Kontinent“ mitzunehmen. Sehr optimistisch erscheint indes die Erwartung, das Land werde bereits 2050 den EU-Durchschnitt von netto null Treibhausgas-Emissionen erreichen. Der Übergang zu einer klimaneutralen Volkswirtschaft dürfte um einiges länger dauern. Dies hängt nicht zuletzt vom Kriegsverlauf ab.
Der Krieg in der Ukraine tangiert viele Bereiche der nichtmilitärischen Sicherheit. Befürchtungen, Russland könne Terroristen oder Saboteure unter die Geflüchteten mischen, haben sich vorerst nicht bewahrheitet. Die Sorge vor Menschenhandel und sexueller Ausbeutung bewog nationale Sicherheitsbehörden, schnelle Gegenmaßnahmen zu ergreifen, so dass bislang kein massiver Zuwachs in diesen Deliktfeldern zu erkennen ist.
Mittelfristig stellen sich aber große Herausforderungen. Erstens bildet die rapide wachsende Verfügbarkeit von Kriegswaffen in der Ukraine ein erhebliches Risiko für die innere Sicherheit der EU. Erfahrungen der 1990er Jahre zeigen, dass Feuerwaffen über lange Zeit illegal zirkulieren und für kriminelle Zwecke genutzt werden können. Unumgänglich sind daher strengere Grenzkontrollen zwischen der Ukraine und dem Schengen-Raum, sowohl bei Waren als auch bei der steigenden zirkulären Migration. Nach einem Waffenstillstand ist anzustreben, dass die EU die Demobilisierung bewaffneter Gruppen in der Ukraine möglichst eng begleitet.
Zweitens krankt die Ukraine an grassierender Korruption und schwacher Rechtsstaatlichkeit. Der Krieg hat einen dynamischen Prozess des „nation-building“ in Gang gesetzt und bewirkt, dass die staatlichen Institutionen gestärkt wurden. Auch die juristische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen, unterstützt durch internationale Akteure, kann Rechtsstaatlichkeit befördern. Umso wichtiger ist, dass die Ukraine der Versuchung widersteht, mutmaßliche russische Kriegsverbrecher zu rasch abzuurteilen und überhart zu bestrafen. In EU-Beitrittsverhandlungen sollte außerdem konsequent systematische Korruptionsbekämpfung eingefordert werden. Ferner gilt es zu verhindern, dass die kriegsbedingte Dominanz der Exekutive und die notwendige Abwehr russischer Unterwanderungsversuche die ukrainische Demokratie dauerhaft und schwerwiegend beschädigen, beispielsweise durch weitere Parteiverbote oder zu viel Einfluss von Veteranenorganisationen.
Drittens hat die EU nur im Falle Zyperns Erfahrung mit international nicht anerkannten Grenzen. Massive Probleme werden bei der Kontrolle der regulären Außengrenzen gegenüber Belarus und der Russischen Föderation ebenso entstehen wie beim Umgang mit den voraussichtlich langfristig umstrittenen Waffenstillstandslinien. Beides wird einer Schengen-Vollmitgliedschaft der Ukraine auch nach einem EU-Beitritt im Weg stehen. Daher sollten im politischen Erwartungsmanagement eher die Vorteile der EU-Grundfreiheiten hervorgehoben werden.
Umgekehrt kann die EU-Sicherheitsunion schon während der Beitrittsverhandlungen von der Ukraine profitieren. Nicht nur in rein militärischen, sondern auch in „hybriden“ Konfliktfeldern wird bereits intensiv zusammengearbeitet, besonders in der Cyberabwehr. Zurzeit sind es westliche Staaten, die Hilfsleistungen für die Ukraine erbringen. Doch dieser Trend könnte sich umkehren, indem ukrainische IT-Spezialisten immer häufiger die EU unterstützen.
Zitiervorschlag 360 Grad gesamt:
Nicolai von Ondarza (Koord.), Der mögliche EU-Beitritt der Ukraine und seine Konsequenzen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 06.07.2022 (360 Grad)
Zitiervorschlag einzelner 360 Grad-Beitrag:
Barbara Lippert, „Die EU und die zweite große Osterweiterung – Déjà-vus und Neuerungen“, in: Nicolai von Ondarza (Koord.), Der mögliche EU-Beitritt der Ukraine und seine Konsequenzen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 06.07.2022 (360 Grad)
Die russische Invasion in die Ukraine, ein großer Weizenexporteur, verursacht weltweit Versorgungsrisiken. Dabei ist die Versorgungslage vielfach ohnehin angespannt. Unsere Beispiele zeigen auf, wie unterschiedlich einzelne Länder auf die Weizenknappheit reagieren. Individuelle Problemlagen in den Ländern bestimmen deren Lösungsansätze, zusätzlich zu den generelleren aktuellen Beschlüssen der G7 und der WTO zur Ernährungssicherheit. Die Koordination dieses 360 Grad hat Bettina Rudloff übernommen.
Trotz des andauernden Kriegszustands in der Ukraine funktionieren die demokratischen Prozesse weiter. Was hält das Land zusammen? Wie sieht es mit den Reformvorhaben aus und welche Chancen hat die Ukraine als EU-Beitrittskandidat? Darüber diskutiert André Härtel mit Dominik Schottner.
doi:10.18449/2022A37
Kurz bevor die Europäische Kommission ihre ersten Stellungnahmen zu den Beitrittsanträgen der Ukraine, Georgiens und Moldaus vorlegt, bringt Präsident Emmanuel Macron eine zusätzliche Integrationsperspektive ins Spiel. Es wäre gut, wenn die Idee politisch zünden würde, meint Barbara Lippert.
Verbindungen schaffen, Einfluss gewinnen, Sicherheit verbessern
doi:10.18449/2022A32
Keine Revision, aber sicherheitspolitische Flankierung der Erweiterungspolitik ratsam
doi:10.18449/2022A23