Im östlichen Teil von Europäischer Union und Nato wächst die Zahl regionaler Kooperationsprozesse. Zu etablierten Formaten wie der Visegrád-Gruppe sind in den letzten Jahren weitere Zusammenschlüsse getreten, so die Drei-Meere-Initiative, das Lubliner Dreieck oder die mitteleuropäischen Central Five. Diese Initiativen verfolgen recht unterschiedliche Ziele. Manche sollen Wirtschaftsbeziehungen intensivieren, andere wollen mehr Einfluss in der EU, einige werden durch sicherheitspolitische Herausforderungen angetrieben. Zwar werden nicht alle dieser Gruppen politische Schlagkraft gewinnen. Doch zeugen die minilateralen Entwicklungen in Europas Ostteil davon, dass die Staaten dort neben ihrem Zusammenwirken mit den USA und dem Zentrum der EU vermehrt nach selbstorganisierten Kooperationsformen in ihrer Umgebung streben. Der Krieg in der Ukraine bringt für die regionalen Formate einen spürbaren Versicherheitlichungsschub.
Die Länder im Ostteil von EU und Nato sind traditionell eng mit Deutschland und anderen Ländern der »alten EU« verflochten, etwa Österreich und nordeuropäischen Staaten. Zudem sind sie sicherheitspolitisch meist intensiv mit den USA verkettet. Dadurch ist in der EU ein Nabe-und-Speichen-Gefüge aus den Staaten der Region und dem Integrationszentrum, vor allem Deutschland, entstanden. Entwickelt hat es sich komplementär zu den mehr oder minder intensiven, sicherheitspolitisch unterlegten bilateralen Partnerschaften einiger Staaten mit den USA. Lange waren es vor allem die Visegrád-Gruppe (V4), also Polen, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn, sowie die drei baltischen Staaten mit ihrer eingespielten Zusammenarbeit, die als plurilaterale Gruppen in der Region fungierten. Seit Mitte der 2010er Jahre traten weitere Kooperationsformate auf den Plan: Anfang 2015 gründeten die Tschechische Republik, Österreich und die Slowakei die Slavkov-Gruppe (S3). Ende 2015 fanden sich neun Länder der Nato-Ostflanke als lockeres Konsultationsformat Bukarest Neun (B9) zusammen. 2016 schufen zwölf Länder die Drei-Meere-Initiative (3SI). Im Sommer 2020 vereinbarten die Außenminister Litauens, Polens und der Ukraine eine Kooperation als Lubliner Dreieck (L3). Kurz zuvor hatten sich die Außenminister fünf mitteleuropäischer Länder zur besseren Abstimmung bei der Covid-19-Pandemie als Central Five (C5) getroffen. Anders als bei der Kooperation zwischen China und den Ländern Mittel- und Osteuropas (17+1/16+1) geht es diesen Initiativen um die Vernetzung und Zusammenarbeit mit regionalen Nachbarn. Die Betrachtung der Formate bringt ein Kaleidoskop an Gruppen sowie an Bündelungs- und Ausdifferenzierungsprozessen zum Vorschein.
Visegrád-Gruppe: Kooperation mit ideologischen Differenzen
Die Visegrád-Gruppe ist traditionell die intensivste regionale Kooperationsplattform in Ostmitteleuropa. 2021 beging die Gruppe ihr dreißigjähriges Jubiläum. Sie deckt ein breites Themenspektrum ab und arbeitet auf mehreren Ebenen. Es geht um low politics, also wirtschaftliche und infrastrukturelle Bindungen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Austausch, wie auch um high politics, etwa europapolitische Koordination, die Zusammenarbeit mit Partnern oder die Positionierung zu außenpolitischen Herausforderungen. Die Programme der im Jahresrhythmus rotierenden Vorsitze gleichen ausführlichen Themenkatalogen mit detaillierten Projektlisten.
Die Visegrád-Gruppe ist wenig formalisiert, auch kaum institutionalisiert, mit Ausnahme des Internationalen Visegrád-Fonds, der zivilgesellschaftliche, kulturelle und forschungsbezogene Vorhaben unterstützt. Sein Jahresbudget wurde im Herbst 2021 von 8 auf 10 Millionen Euro erhöht. Allerdings besteht ein dichtes Netzwerk an Zusammenkünften auf Spitzenebene, zwischen Fachministern und auf Arbeitsebene. Vor Europäischen Räten oder Treffen der Räte für Allgemeine und für Auswärtige Angelegenheiten sowie bei der Vorbereitung anderer Ratsformationen finden Konsultationen im V4-Rahmen statt.
Spürbar verstärkt hat sich auch die Partnerpolitik der V4. Unter den EU-Ländern wird der Kontakt mit dem jeweiligen Ratsvorsitz gesucht. Vertreter aus Slowenien, Kroatien, Rumänien und Bulgarien werden zu Treffen eingeladen, bei denen Themen wie etwa Landwirtschaft oder Nachhaltigkeit im Mittelpunkt stehen. Immer wieder gibt es Begegnungen mit anderen Gruppen, so mit den baltischen Staaten. Der ungarische Vorsitz plante mehr Zusammenkünfte der Visegrád-Gruppe mit Deutschland. Dazu kommen viele V4-Plus-Formate mit Drittländern. Hier geht es darum, wirtschaftliche Bindungen zu festigen – etwa mit Südkorea, für das die V4 das größte Investitionsgebiet ist –, EU-Nachbarn in der Östlichen Partnerschaft und auf dem Westbalkan zu unterstützen oder Sonderbeziehungen wie etwa zu Israel zu unterstreichen.
Der Zusammenhalt der V4 wird vor allem durch drei Faktoren erschwert. Erstens weichen die Ansätze in der Russland- und zunehmend auch in der China-Politik voneinander ab. Polen und die Tschechische Republik sind hier mit Ungarn nicht einig. Zweitens gibt es Unterschiede im Verhältnis zu Deutschland. Polens deutschlandkritische Eindämmungspolitik kontrastiert mit der engen politischen und wirtschaftlichen Bindung der anderen drei an Deutschland. Drittens ist auch die Haltung zur EU nicht unumstritten. Tschechische Republik und Slowakei sind EU-freundlich und unterstützen weitgehend die Rechtsstaatspolitik der EU-Organe. Polen und Ungarn dagegen lehnen unter anderem EU-Interventionen bei Rechtsstaatlichkeit ab.
Schon früher waren innere Ausdifferenzierungen (Visegrád 2+2 oder 1+3) die Folge. Schon länger versuchen die Tschechische Republik und die Slowakei, sich von Polen und Ungarn abzugrenzen, indem sie in anderen Gruppen aktiv sind, mit Deutschland zusammenarbeiten und EU-freundliche Positionen vertreten. Nun hat sich durch den Krieg in der Ukraine eine neue 3+1-Konstellation ergeben: Ungarns »pragmatischer« Kurs gegenüber Russland weicht spürbar von der konsequent russlandkritischen Haltung der anderen drei Länder ab. Die Russlandpolitik zerteilt die Vierergruppe und hat bewirkt, dass das Verhältnis zwischen Warschau und Budapest sich abgekühlt hat. Dies wird dazu führen, dass die außen- und sicherheitspolitische Dimension von Visegrád reduziert wird. So wurde ein für Ende März geplantes Treffen der V4-Verteidigungsminister in Budapest abgesagt, nachdem der tschechische und der polnische Minister ihre Teilnahme zurückgezogen hatten. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Differenzen über Russland auch in die Europapolitik verlagern und beispielsweise Zusammenkünfte der V4-Regierungschefs ausfallen werden. Gleichwohl wird die Visegrád-Gruppe nicht zerbrechen, sondern sich auf wirtschaftliche und kulturelle Themen sowie weiterhin auch auf Europapolitik wie etwa Binnenmarktfragen und Migration konzentrieren.
Slavkov und C5: Zusammenarbeit in der Mitte Europas
Die Kooperation zwischen der Tschechischen Republik, der Slowakei und Österreich wurde am 29. Januar 2015 im südmährischen Slavkov (deutsch Austerlitz) durch ein Treffen der (damals sozialdemokratischen) Regierungschefs der drei Länder aus der Taufe gehoben. Der inhaltliche Rahmen der Dreierzusammenarbeit wurde weit gesteckt: Er soll von Fragen der nachbarschaftlichen Kooperation über europäische Angelegenheiten bis zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung reichen. Bei der ersten Zusammenkunft besprach man auch die damalige Russland-Ukraine-Krise sowie »externe Herausforderungen« der EU. Das Slavkov-Trio hat keine festen Institutionen. In Arbeitsplänen eines jährlich wechselnden Vorsitzes werden die Schwerpunkte konkretisiert. Neben den Treffen der Regierungschefs (bisher fünf) und auf Ministerebene werden Gespräche auf Arbeitsebene abgehalten, die von nationalen Koordinatoren vorbereitet werden. Im Vordergrund des trilateralen Austauschs stehen Themen wie Ausbau von Verkehrsinfrastrukturen und Energiesicherheit, Migration oder Wettbewerbsfähigkeit. Während des österreichischen Vorsitzes wurde im Herbst 2021 eine Erklärung der Außenminister zur digitalen Transformation angenommen. Die drei Länder betonen auch ihren gemeinsamen Willen, die europäischen Perspektiven des Westbalkans zu unterstützen.
Das Trio hat sich auch nach Regierungswechseln in den drei Ländern gehalten. Eine Alternative zur Visegrád-Gruppe ist es nicht, obschon Slavkov für Prag und Bratislava die Chance bietet, auch ohne Warschau und Budapest außenpolitische Akzente zu setzen. Die gemeinsame Reise der drei Außenminister Anfang Februar 2022 in die Ukraine oder ihr Besuch in der Republik Moldau Anfang April 2022 sind ein Beleg hierfür.
Als Central Five treffen sich seit Juni 2020 die Außenminister der Tschechischen Republik, der Slowakei, Österreichs, Ungarns und Sloweniens. Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit der fünf mitteleuropäischen Länder war die Covid-19-Pandemie. Nach unkoordinierten Grenzschließungen wollten die Regierungen gemeinsame Wege zu einem effektiveren und besser kommunizierten Management der coronabedingten Reiseeinschränkungen finden.
Die C5 öffnete sich nach einiger Zeit für außenpolitische Themen. Alle fünf Staaten engagieren sich in der EU und mit bilateralen Aktivitäten dafür, die Westbalkanstaaten an die EU heranzuführen. Trotz unterschiedlicher Vorstellungen zur Russland- und Ukrainepolitik wurde der ukrainische Außenminister zum C5-Treffen in Bratislava im Mai 2021 eingeladen. Wie schon bei anderen Zusammenkünften gab es aber keine gemeinsamen Stellungnahmen der C5.
Unabhängig von den Themenfeldern werden die C5-Treffen von einem Set spezifischer Interessen getragen. Für Österreich sind C5 und Slavkov-Trio Kooperationsinitiativen für eine aktivere Mitteleuropa- und Nachbarschaftspolitik. Sie seien ein »Ring an tragfähigen Partnerschaften um uns herum«, so Außenminister Schallenberg auf der österreichischen Botschafterkonferenz im September 2021. Für Slowenien bietet C5 die Möglichkeit, seine mitteleuropäische Außenpolitikidentität zu unterstreichen. Die Tschechische Republik und die Slowakei ergänzen durch C5 und Slavkov ihre Palette zentraleuropäischer Kooperationsplattformen.
Lubliner Dreieck: Antwort auf die Russkij Mir
Am 28. Juli 2020 schufen die Außenminister Polens, Litauens und der Ukraine im ostpolnischen Lublin eine trilaterale Kooperationsstruktur. Das Lubliner Dreieck baut auf bestehende bi- und trilaterale Zusammenhänge auf, vor allem die Litauisch-Polnisch-Ukrainische Brigade und die seit 2005 existierende trilaterale parlamentarische Versammlung. Ursprünglich hatte man auch erwogen, Belarus einzubeziehen. Nach dem August 2020 war es indes ausgeschlossen, Offizielle aus Minsk an den Treffen teilhaben zu lassen. Allerdings könnte bei bestimmten Aspekten die belarussische Zivilgesellschaft involviert werden.
Ein wesentliches Ziel des L3 ist es, die Westbindung der Ukraine durch die EU- und Nato-Länder Polen und Litauen zu unterstützen sowie die gegenseitigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Beziehungen zu festigen. Vor allem begreift sich das Lubliner Dreieck als Forum, das russischem Ausgreifen in Ost- und Ostmitteleuropa entgegentritt. Neben der geostrategischen und sicherheitspolitischen hat das Format eine historisch-normative Dimension. Das L3 knüpft an das Erbe der polnisch-litauischen Adelsrepublik an, die 1569 durch die Lubliner Union gegründet worden war. In einer Erklärung vom Juli 2021 heben die Außenminister der drei Länder explizit auf mannigfache Traditionen und Werte ab sowie auf das aus ihrer Sicht hierin wurzelnde polnische, litauische und ruthenische (ukrainische) Freiheitsstreben. Das »gemeinsame europäische historische Vermächtnis« verbinde weiterhin »unsere Nationen im vereinten Europa und gibt uns das Gefühl gegenseitiger Verbundenheit und Solidarität«. Der ukrainische Außenminister Kuleba bezeichnete das Lubliner Dreieck, offenkundig mit Blick auf dessen geokulturelle Komponente, als Alternative zu Moskaus Konzept der Russischen Welt (Russkij Mir).
Um die Tätigkeit des L3 zu konkretisieren, wurde im Juli 2021 ein Aktionsplan angenommen. Er sieht das Zusammenwirken in internationalen und regionalen Organisationen ebenso vor wie sicherheitspolitische Zusammenarbeit, zudem Kooperation bei Energie, Cybersicherheit, Pandemiebekämpfung, auf zivilgesellschaftlichem und humanitärem Gebiet sowie bei der Abwehr von Desinformation.
Angesichts der Kriegsgefahr und nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden die L3-Treffen intensiver. Seit Ende 2021 werden auch L3-Gipfel abgehalten. Gut zwei Wochen nach Ausbruch des Krieges wurde eine Zusammenkunft der Regierungschefs in Warschau organisiert. Die Zukunft des L3 wird davon abhängen, in welcher Form die Ukraine nach dem Krieg existieren wird und welchen Einfluss Polen und Litauen in EU und Nato ausüben werden.
Drei-Meere-Initiative: Konnektivität im Osten der EU
Die 2016 in Form eines Gipfeltreffens etablierte Drei-Meere-Initiative (3SI) vereint zwölf EU-Mitgliedstaaten zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Adria. Sie will wirtschaftliche und infrastrukturelle Verbindungen zwischen den Teilnehmern verbessern. Auf ihrem letzten Gipfel Anfang Juli 2021 in Sofia bekräftigte die 3SI ihr Selbstverständnis als »Kooperationsplattform, die auf eine wachsende Konnektivität insbesondere entlang der Nord-Süd-Achse in der Region von Mittel- und Osteuropa auf den Feldern von Verkehr, Energie und Digitalisierung« abzielt.
Die 3SI hat sich in den vergangenen Jahren konsolidiert und konkretisiert. Zu den jährlichen Gipfeln hinzu kamen ein Businessforum und Fachministertreffen. So wurde im November 2021 erstmals eine Fachministerkonferenz zur digitalen Transformation einberufen. Der Investitionsfonds der Initiative (3SIIF) soll Projekte aus den drei Schwerpunktbereichen mitfinanzieren, um gegenüber dem Westen der EU Entwicklungsrückstände in der Region aufzuholen und Infrastrukturlücken dort zu schließen. Am Fonds sind vor allem nationale Entwicklungsbanken beteiligt. Zusammen mit Einlagen internationaler Finanzinstitutionen und privater Geldgeber soll er auf ein Volumen von bis zu 5 Milliarden Euro anwachsen.
Unter den teilnehmenden Ländern herrscht Konsens über die wirtschaftliche und konnektivitätsbezogene Orientierung der 3SI. Uneinig ist man sich, inwieweit der Zusammenschluss eine sicherheitspolitische Stoßrichtung haben soll. Für Polen, den Motor der Initiative, sowie die baltischen Staaten, Rumänien und die Tschechische Republik unter neuer Regierung ist die 3SI auch ein geopolitischer Verbund, der nicht zuletzt die Anbindung der Region an die USA verstärkt. Wie zuvor die Trump-Administration stützt auch die Biden-Administration die 3SI, sieht sie in ihr doch ein Mittel, russischen und chinesischen Einfluss im Osten Europas einzudämmen. Die USA wollen sich mit 300 Millionen Dollar am 3SIIF beteiligen und diesen Betrag auf bis zu einer Milliarde aufstocken, wenn die 3SI-Länder die doppelte Summe aufbringen.
Zwar hat sich die 3SI stabilisiert, doch angesichts divergierender geostrategischer Prioritäten, schleppender Projektumsetzung und schwankenden Engagements der Teilnehmer steht sie vor der Herausforderung, neuen Schwung zu gewinnen. Das lässt sich an der Situation des Fonds illustrieren: Die polnische Entwicklungsbank BGK stellt allein drei Viertel seiner Einlagen, Österreich beteiligt sich nicht am Fonds, die Tschechische Republik hat sich erst Ende 2021 zu einer Einlage durchgerungen, auch die Slowakei zögert. Mehrere Teilnehmerländer möchten offenbar erst das weitere Geschehen abwarten. Gipfeltreffen in verschiedenen Ländern abzuhalten reicht nicht aus, um ownership zu schaffen.
Sicherheitspolitische Formate an der Nato-Ostflanke
Im November 2015 fanden sich in Bukarest die Staats- und Regierungschefs von neun Ländern aus dem Ostteil des Nato-Gebiets zusammen, nämlich Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Hinter der Initiative standen vor allem Polen und Rumänien. Ausgangsimpuls war Russlands Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine. Die neun Länder verurteilten Russlands Verhalten und forderten unter anderem, die Kollektivverteidigungsfähigkeiten der Nato zu verstärken sowie Abschreckung und Verteidigung an der Nato-Ostflanke zu verbessern, um dem neuen sicherheitspolitischen Umfeld gerecht zu werden. Seither gab es vier Gipfeltreffen der Bukarest Neun, seit 2018 werden auch Zusammenkünfte der Verteidigungsminister organisiert. Die B9 möchte gleichsam als Lobby für die Nato-Ostflanke fungieren.
Die B9 ist darauf bedacht, sich nicht als Spaltprojekt in der Nato, sondern als Motor ihrer Einheit darzustellen. In Erklärungen werden daher etwa die Bedeutung der südlichen Dimension der Nato und generell der Zusammenhalt des Bündnisses betont. Am B9-Gipfel im Mai 2021 in Bukarest nahmen auch US-Präsident Biden und Nato-Generalsekretär Stoltenberg teil. Bei einer Zusammenkunft auf Spitzenebene unmittelbar nach Russlands Angriff auf die Ukraine war Kommissionspräsidentin von der Leyen zugegen, womit die Gruppe sich auch im Rahmen der EU profilierte.
Für die (meisten) B9-Staaten ist die Plattform daher nicht nur eine Pressure-Group in der Nato, sondern auch ein zusätzlicher Rahmen für Gespräche mit den USA. Im Kontext der russischen Drohkulisse gegenüber der Ukraine telefonierte der amerikanische Außenminister Austin mit seinen B9-Kollegen. Hierbei wurde auch Solidarität mit Litauen bei dessen Streit mit China signalisiert, der sich um die Eröffnung einer Vertretung Taiwans in Vilnius drehte. Für Polen und Rumänien geht es in der B9 auch darum, die Anliegen der Nato-Nordostschulter und des südöstlichen Flügels der Allianz, also Rumäniens, Bulgariens und der Schwarzmeerregion, auf der Agenda zu halten. In diese Richtung zielt auch der polnisch-rumänisch-türkische Trilog. Dieser versteht sich als sicherheitspolitischer Konsultationsrahmen der drei größten Nato-Staaten an der im weiten Sinne verstandenen Ostflanke des Bündnisses. Der Trilog findet seit 2016 auf Außenministerebene statt und widmet sich der strategischen Ausrichtung der Nato sowie Fragen der regionalen Sicherheit in Osteuropa und im Schwarzmeerraum. Er soll auf die Ebene der Staatschefs gehoben werden.
Triebkräfte regionaler Zusammenarbeit
Die Vielzahl regionaler Kooperationen im Ostteil von EU und Nato reflektiert die nach wie vor beträchtliche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Heterogenität. Nur in Gestalt der 3SI hat sich ein Gebilde etabliert, das alle Länder der Region umfasst. Auch dieses ist aber ein eher lockerer Zusammenhang, in dem sich mannigfache Interessenunterschiede widerspiegeln.
Die vielfältigen Prozesse strukturierter Konsultation und Zusammenarbeit in der Region konzentrieren sich zum einen auf nachbarschaftliche und wirtschaftliche Belange. Das trifft von Anfang an auf die Slavkov-Gruppe und die Central Five zu, ihrem erklärten Selbstverständnis nach auch auf die 3SI. Zum anderen stehen sicherheitspolitische Aspekte im Mittelpunkt, etwa beim Lubliner Dreieck, beim Trilog Polen-Rumänien-Türkei, bei der B9 und nun auch im Slavkov-Trio. Die Visegrád-Gruppe und aus Sicht einiger Teilnehmer auch die 3SI wiederum befassen sich mit beiden genannten Themenfeldern und zusätzlich mit Europapolitik.
Dabei verdichten sich die Interaktionen in der Zusammenarbeit vor allem zwischen den Ländern im östlichen Mitteleuropa, während Südosteuropa dahinter zurückbleibt. In Nordosteuropa hingegen werden die bewährten Kooperationsrahmen konsolidiert. Allerdings bewirken die sicherheitspolitischen Herausforderungen in Belarus und der Ukraine, dass die baltischen Staaten neue Kontakte zu Polen suchen.
Für Diskrepanzen sorgen unterschiedliche Bedrohungswahrnehmungen und daraus abgeleitete Strategien im Umgang mit großen Mächten. Derlei erhält durch Großmachtkonkurrenz und vor allem den Krieg in der Ukraine neue Brisanz. Außenpolitische und ideologische Gegensätze zwischen Regierungen haben das Zusammenspiel in Ländergruppen der Region erschwert, aber nicht gesprengt.
Trotz solcher Differenzen und Differenzierungen sichert ein Ensemble von Triebkräften Kooperationstrends in der Region. Hierzu gehören wichtige inhaltliche Überlappungen beispielsweise bei der Sicherung des Binnenmarkts, in der Klimapolitik oder bei der Modernisierung von Infrastrukturen. Dazu kommen sicherheitspolitische Motive, die allerdings Spezifika im Verhältnis zu Russland, China und den USA widerspiegeln. Das gilt etwa für das Lubliner Dreieck, Konsultationen zwischen Polen und den baltischen Staaten oder den polnisch-rumänisch-türkischen Trilog. Aufgrund der Problematik geschlossener Grenzen war die Pandemie ebenfalls ein Impuls dafür, sich um bessere minilaterale Abstimmung zu bemühen – auch wenn dies letztlich wenig fruchtete.
»Souveränistisch« inspirierte Regierungen wie in Warschau oder Budapest erblicken in regionaler Kooperation auch die Chance zur Gegenmachtbildung, sei es gegen EU-Institutionen oder vermeintliche deutsche oder deutsch-französische Hegemonie. Auch andere Exekutiven hoffen auf mehr actorness und Gestaltungsmöglichkeiten in der EU oder generell auf regionaler, europäischer oder internationaler Ebene.
In die vielfältigen Gruppenkooperationen spielen intensive bilaterale Beziehungen hinein. Hierzu gehören die weltanschaulich abgestützte Allianz zwischen Polen und Ungarn, das parteipolitisch unterlegte Nahverhältnis zwischen Ungarn und Slowenien, die durch die Ereignisse in Belarus und den Blick auf Russland beförderte polnisch-litauische Partnerschaft oder die seit jeher engen Beziehungen zwischen Prag und Bratislava.
Russlands Krieg in der Ukraine hat auch Konsequenzen für die gruppenschaftlichen Kooperationen im Ostteil von Nato und EU. Der Versicherheitlichungsschub, den der Krieg bringt, wertet Formate mit verteidigungs- und sicherheitspolitischer Stoßrichtung auf und verstärkt geopolitisch
Tabelle 1 Überblick über gruppenschaftliche Kooperationsformate im Ostteil von EU und Nato |
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Gruppe |
Teilnehmer |
Themen |
Institutionalisierung |
Visegrád-Gruppe |
Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn |
grenzüberschreitende Kooperation, zivilgesellschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit, Europapolitik, Außenpolitik (v.a. Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik) |
jährlich wechselnder Vorsitz; europapolitische Konsultation (z.B. vor Europäischen Räten), Visegrád-Fonds als Finanzierungsinstrument; V4-Treffen der Exekutiven auf allen Ebenen und zwischen Fachressorts; lockere parlamentarische Kontakte |
Slavkov-Gruppe |
Tschechische Republik, Slowakei, Österreich |
Regionalkooperation der |
geringe Institutionalisierung; jährlich wechselnder Vorsitz, getragen durch Außenministerien; vereinzelt Gipfeltreffen |
Central Five |
Tschechische Republik, Slowakei, Österreich, Ungarn, Slowenien |
ursprüngliches Vorrangthema Pandemie (u.a. Grenzproblematik); Westbalkan als außenpolitischer Schwerpunkt |
getragen von Außenministerien bzw. Treffen der Außenminister |
Lubliner Dreieck |
Litauen, Polen, |
Heranführung der Ukraine an EU und Nato; Energiesicherheit, Verteidigung, Infrastruktur, Cybersicherheit |
zunächst Außenministertreffen; seit Ende 2021 auch Zusammenkünfte der Staatsoberhäupter und Regierungschefs |
Drei-Meere- |
Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn, Österreich, Slowenien, Kroatien, Rumänien, Bulgarien |
Konnektivität, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Infrastrukturausbau in den Bereichen Energie, Verkehr und Digitales; partieller Einbezug von Partnern (USA, Deutschland) und Nachbarregionen |
jährliche Gipfeltreffen in unterschiedlichen Teilnehmerländern; Investitionsfonds; kein Sekretariat, nationale Koordinatoren; einzelne Sektoraltreffen (Landwirtschaft, Energie im Rahmen der Partnership for Transatlantic Energy and Climate Cooperation); Businessforum; 2021 erstmals parlamentarisches Forum |
Bukarest Neun |
Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien |
Stärkung der Nato-Ostflanke |
Gipfeltreffen sowie Zusammenkünfte von Verteidigungs- und Außenministern |
bedingte Trennlinien in einzelnen Gruppen, etwa in V4 oder B9. Unverkennbar hat sich Polen hier zu einem wichtigen Kooperationszentrum entwickelt. Dies gelang durch diplomatische Anstrengungen und multiple Vernetzungen, sowohl in der Region – mit den baltischen Staaten, der Ukraine oder als neuem Format durch Koordination mit der Tschechischen Republik und Slowenien sowie insgesamt an der Ostflanke – als auch mit den USA und Großbritannien. Noch kurz vor Ausbruch des Krieges hatte Warschau eine britisch-ukrainisch-polnische Trilaterale initiiert. Der Besuch von US-Präsident Biden in Polen Ende März und zahlreiche andere hochrangige Kontakte mit amerikanischen Politikern zeugen von der Bedeutung Polens als regionaler Akteur.
Regionale Kooperationsprozesse im Blick behalten
Die mini- und plurilateralen Kooperationsformate im östlichen Teil Europas sind kein Ausdruck eines neuen Regionalismus. Vielmehr zeugen sie davon, dass die Länder der Region unterschiedliche Formen nachbarschaftlicher Zusammenarbeit testen und ihre Außen- und Europapolitik diversifizieren wollen. So verschieden die Beweggründe sein mögen, scheint doch in diesen Prozessen der Wille auf, europa- und außenpolitisch aktiver zu werden. Es geht darum, Wege aus der wirtschaftlich-politischen Peripherie der europäischen Integration zu finden, Sicherheitsrisiken am vulnerablen Saum der Nato zu reduzieren, die fragilen Zonen jenseits der westlichen Verbundsysteme stabiler zu machen oder schlicht Eigeninteressen besser durchzusetzen. Vor allem Warschau und Budapest versuchen, durch regionale Kooperation politische Alternativen im (nicht zum) Westen zu schaffen. Anderswo findet diese Politik indes wenig Anklang.
Die Zusammenschlüsse in Ostmittel-, Südost- und Nordosteuropa zielen denn auch nicht darauf ab, die EU oder andere Organisationen entlang einer Ost-West-Trennlinie zu spalten. Einige der Formate, nämlich C5, S3 und 3SI, beziehen auch Länder der »alten EU« ein. Zudem sind Länder aus dem östlichen Mitteleuropa bestrebt, in Verbünden aus anderen Teilen der EU mitzuwirken: die baltischen Staaten mit nordeuropäischen Ländern, Polen im Weimarer Dreieck oder Slowenien und Kroatien seit Herbst 2021 in der EuroMed-Gruppe, also den Ländern des EU-Südens. Die breit angelegten Zusammenschlüsse 3SI und B9 betonen hingegen ihre kohäsionsstiftende Funktion in EU und Nato.
Nicht alle diese Formate entwickeln politische Schlagkraft. Manche Initiative kommt zum Erliegen. Das gilt etwa für die Craiova-Gruppe, die aus Bulgarien, Rumänien, Serbien und Griechenland bestand und ein Visegrád Südosteuropas werden sollte. Andere bleiben hinter den Erwartungen zurück: Das 17+1/16+1-Format von Ländern aus dem Osten der EU und dem Westbalkan bröckelt und entfaltet weniger Dynamik als geplant.
Daher sollte Deutschland Optionen für die Einbindung solcher Gruppen und Offerten einer Zusammenarbeit mit ihnen entwickeln. Die Kontaktaufnahme wird nicht überall möglich und nicht durchweg erwünscht sein. Dennoch sollten »Andockmöglichkeiten« geprüft werden. Wichtige Kriterien dafür wären die politische Relevanz und der praktische Mehrwert einzelner Formate. Anzustreben wäre vor allem die Kooperation mit der V4, nämlich bei Themen wie Wirtschaft, Klima, Energie und Migration, mit der B9 als sicherheitspolitischer Klammer der Ostflanke und mit der 3SI aufgrund neuer, auch geopolitischer Aspekte von Infrastrukturen. Überdies sollten gruppenschaftliche Kontakte in die Region, wie im Weimarer Dreieck oder durch die 3+1-Treffen mit den drei baltischen Staaten – die gerade wegen der Russland-Ukraine-Krise Impulse brauchen – fortgeführt oder wiederbelebt werden. Auf jeden Fall ist Deutschland gehalten, die regionalen gruppenschaftlichen Konstellationen der Zusammenarbeit aufmerksam zu beobachten. Aus der einen oder anderen Initiative können sich nämlich Formate entwickeln, welche europapolitische oder geostrategische Bedeutung in einer Region gewinnen können, die für die Bundesrepublik wirtschaftlich wie außen- und sicherheitspolitisch relevant ist.
Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2022A32