Kurz bevor die Europäische Kommission ihre ersten Stellungnahmen zu den Beitrittsanträgen der Ukraine, Georgiens und Moldaus vorlegt, bringt Präsident Emmanuel Macron eine zusätzliche Integrationsperspektive ins Spiel. Es wäre gut, wenn die Idee politisch zünden würde, meint Barbara Lippert.
Zu Beginn seiner zweiten Amtszeit hielt Präsident Macron am 9. Mai eine Rede zur Reform und Erweiterung der EU. Während andere Spitzenpolitiker über den prompten Kandidatenstatus für die Ukraine und einen beschleunigten Aufnahmeprozess sprechen, setzt Macron einen ganz anderen Akzent. Er lanciert die Idee eines neuen Formats für europäische Länder, die die Werte der EU teilen, deren Beitritt aber in weiter Ferne liegt. Bei der Ukraine rechnet Macron realistisch mit Jahrzehnten bis zur EU-Mitgliedschaft. Das neue Format soll jene Kooperationsfelder umfassen, die vor allem für das sogenannte Assoziierte Trio, bestehend aus Ukraine, Georgien und Moldau, besonders relevant sind. Das sind Infrastruktur (Verkehr, Energie), die Modernisierung der Wirtschaft und nicht zuletzt die sicherheitspolitische Kooperation mit EU-Ländern. Macron nennt explizit die Freizügigkeit für Personen. Interessanterweise unterstreicht er, dass dieses neue Format ein politisches Profil haben sollte und nennt es entsprechend „europäische politische Gemeinschaft“ (EPG). Dies signalisiert, die EPG soll mehr sein als eine reine Wirtschaftsintegration, wie sie die EU und drei Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation mit dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) begründet haben.
Macrons Vorschlag ist wohl noch nicht sorgfältig ausgearbeitet, aber gerade das bietet anderen Akteuren die Möglichkeit, ihre eigenen Vorstellungen einzubringen. Und die Grundidee ist klar: eine enge Anbindung durch Kooperation und Integration unterhalb der Mitgliedschaft, in der Spur der immer engeren Assoziierung. Es geht – zumindest zunächst – nicht um Mitgliedschaft, die bis dato immer Vollmitgliedschaft mit befristeten Übergangsregelungen bedeutete. Und es geht auch nicht um einen neuen Status der Teilmitgliedschaft in der EU.
Eine dem Macron-Vorschlag verwandte Überlegung ist die Schaffung eines Europäischen Politik- und Wirtschaftsraums (EPWR). Dessen Ziel wäre es, ungefestigten osteuropäischen Transformationsstaaten, die sich in einem prekären Sicherheitsumfeld befinden und mittelfristig weder auf eine EU- noch auf eine Nato-Mitgliedschaft bauen können, eine sichtbare und effektive Anbindung an das demokratische Europa zu bieten. Er wäre nicht einfach ein EWR 2.0, in dem die Binnenmarkt-Gesetzgebung der EU in Gänze für alle Teilnehmer verbindlich ist. Denn im EPWR müssten die Partnerländer der EU den Binnenmarkt-Acquis nicht zwingend komplett, sondern nur schrittweise übernehmen. Die vertieften und umfassenden bilateralen Freihandelsabkommen (DCFTA) mit der Ukraine, Georgien und Moldau sind dafür bereits eine gute Ausgangsbasis. Darüber hinaus sollten weitere Politikfelder zum EPWR gehören, wie Agrarhandel und Landwirtschaft und die Vielzahl von Projekten und Programmen im Rahmen des Green Deal und der digitalen Transformation. Ein weiteres wichtiges Feld wäre die sicherheitspolitische Zusammenarbeit und die sukzessive Einbindung der Trio-Länder in die Strukturen und Aktivitäten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP).
Im EPWR müsste ein eigener Mechanismus für die Übernahme von oder Harmonisierung mit EU-Recht geschaffen werden. Hinzu kämen Anreize für die Umsetzung der Verpflichtungen durch maßgeschneiderte Fonds und ein Monitoring. Für den EPWR müssten eigene Organe geschaffen werden, die sich am Institutionengefüge des EWR orientieren können. Zu überlegen wäre, ob analog zum EFTA-Pfeiler im EWR auch die Trio-Länder einen Pfeiler bilden könnten, beginnend mit einem gemeinsamen Sekretariat des Assoziierten Trios. Die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft sind auch im EPWR sehr anspruchsvoll: Im Hinblick auf die Um- und Durchsetzung von Recht in einem gemeinsamen Politik- und Regulierungsraum brauchen sie eine funktionierende Marktwirtschaft und Gewaltenteilung sowie eine leistungsfähige Verwaltung.
Macrons Vorschlag für eine „europäische politische Gemeinschaft“ kann sich also auf viele Überlegungen stützen, die seit längerem in akademischen und politischen Zirkeln auf Alternativen zur Erweiterung und zur immer größer werdenden Union gerichtet waren. Auch im Lissabonner Vertrag gibt es mit dem Artikel 8 EUV über die EU und ihre Nachbarn einen Anknüpfungspunkt für „spezielle Übereinkünfte“. Die Option wurde nicht von ungefähr in einer Zeit in die Verträge eingefügt, in der die EU die Europäische Nachbarschaftspolitik und später das Projekt der Östlichen Partnerschaft anstieß.
Trotz der vielen Ansätze haben diese Vorschläge politisch nie Fahrt aufgenommen. Jetzt könnte ein politisches Momentum entstehen, weil die Ukraine den Erwartungs- und Erweiterungsdruck auf die EU maximiert und weil sie über sehr lange Zeit erhebliche Unterstützung für den Wiederaufbau und die Übernahme des EU-Sekundärrechts benötigt. Zudem befinden sich die Ukraine wie auch Georgien und Moldau in einer prekären sicherheitspolitischen Lage, so dass die Regel der letzten Osterweiterungen – erst Nato-, dann EU-Mitgliedschaft – kaum direkt anzuwenden sein wird. Auch die EU braucht Zeit: Sie müsste allein schon wegen der zugesagten Beitrittsperspektive für die sechs Westbalkan-Länder ihre Institutionen und Entscheidungsverfahren vor einer Erweiterung in Richtung auf mehr Legitimität und Effizienz reformieren. Macron drängt bereits seit längerem darauf, ebenso wie auf Reformen in der Fiskal-, Wirtschafts- und Verteidigungspolitik. Das schließt eine Überarbeitung der europäischen Verträge nicht aus.
Die Debatte um Vertiefung und Erweiterung ist damit wieder eröffnet. Deutschland sollte aus der Deckung kommen und zusammen mit Frankreich eine gemeinsame Agenda erarbeiten. Zumindest findet Bundeskanzler Scholz den EPG-Vorschlag Macrons interessant, andere werden darin ein Täuschungs- und Ablenkungsmanöver sehen, mit dem das stets erweiterungsskeptische Paris die Erweiterung der EU torpediert. Aber es gibt gute Gründe, zweigleisig vorzugehen und jetzt mit der EPG oder einem EPWR eine zweite Trasse neben der der EU-Mitgliedschaft anzulegen. Es geht ja in dieselbe Richtung.
Der alte und neue Präsident Frankreichs heißt Emmanuel Macron. Welchen Handlungsspielraum hat er in seiner zweiten Amtszeit? Und was bedeutet sein Wahlsieg für die künftige Europapolitik? Darüber spricht Ronja Kempin mit Dominik Schottner.
Keine Revision, aber sicherheitspolitische Flankierung der Erweiterungspolitik ratsam
doi:10.18449/2022A23
Das Wohlstandgefälle zwischen den Staaten des Westbalkans und Westeuropa zeigt: Der Beitrittsprozess trägt nicht zur Verbesserung der Bedingungen in der Region bei. Barbara Lippert und Dušan Reljić diskutieren die Frage, ob die EU nun ernst mit der Erweiterung machen oder sich zum Scheitern des Prozesses bekennen sollte. Moderation: Alexander Moritz.