Während russische Panzer und Artillerie nach Charkiw und Kiew vorstießen, unterzeichnete Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Aufnahmegesuch an die EU. Er fordert eine besondere Aufnahmeprozedur, die die Ukraine schnell in die EU führt. Die Ukraine strebt nicht erst unter Raketenbeschuss eine EU-Mitgliedschaft an; sie sieht – ähnlich wie Moldau und Georgien – in ihrem heutigen Status der Assoziation mit der EU nur eine Vorstufe zum Beitritt. Der Antrag vom 28. Februar ist ein Hilferuf aus dem schrecklichen Krieg heraus. Erste Antworten aus der Kommission und dem Europäischen Parlament bezeugten zwar viel politische Sympathie für das Drängen der Ukraine. Dennoch stellen die EU-Spitzen keine schnelle Mitgliedschaft in Aussicht. Die Zurückhaltung entspringt der Erfahrung, dass Aufnahmeverhandlungen in der Regel anspruchsvoll und langwierig sind, es also keine Abkürzungen zum Ziel gibt. Es gibt aber auch Interessen der EU, die selbst einer expliziten Beitrittsperspektive entgegenstehen. In jedem Fall sollte die EU ihre Politik der Integration und Kooperation mit Ländern der Östlichen Partnerschaft sicherheitspolitisch flankieren.
Auf das Beitrittsgesuch der Ukraine antwortete Kommissionspräsidentin von der Leyen Präsident Selenskyj umgehend: »Wir wollen sie [die Ukraine] drin haben« und ging damit über die unionsinterne Konsensformel hinaus, wonach die EU die Bestrebungen der Ukraine und deren Entscheidung für Europa durchaus anerkennt, sich selbst jedoch nicht auf dieses Ziel politisch verpflichtet. Die Kommission in Brüssel ist zwar der stets wohlwollende Manager des Erweiterungsprozesses, aber es sind die Mitgliedstaaten, die den Kurs und das Tempo bestimmen. Seit der Orangen Revolution in der Ukraine 2004, dem russisch-georgischen Krieg 2008 samt Anerkennung der abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien durch Russland und der Anbahnung der Östlichen Partnerschaft (ÖP) 2009 zeigen sich innerhalb der EU die baltischen Staaten, Polen und Schweden immer offener für eine explizite Beitrittsofferte an das sogenannte Assoziierte Trio (Ukraine, Moldau und Georgien). Diesem Kurs haben sich allerdings weder Frankreich noch Deutschland angeschlossen. Beide haben auch nach dem Euromaidan 2013/14 und der Annexion der Krim durch Russland 2014 darauf beharrt, dass auf mittlere Sicht die erfolgreiche Implementierung der Assoziierungsvereinbarungen inklusive der umfassenden und vertieften Freihandelszone und nicht die Mitgliedschaft oben auf der Tagesordnung steht.
Die EU begreift Putins Krieg gegen die Ukraine jedoch als Zeitenwende. Was heißt das für die Ukraine-Politik? Welche Handlungsmöglichkeiten hat die EU und was sind die Implikationen für ihre Erweiterungspolitik?
Die im Folgenden skizzierten Optionen haben nur dann Realisierungschancen, wenn die EU nach dem Ende des Krieges noch eine legitime Regierung in Kiew vorfindet, die ihre Souveränität gegenüber Moskau bewahrt hat. Setzt Russland aber in Kiew Statthalter ein, dann ist die Option Beitrittskandidat ohnehin obsolet. Gegebenenfalls würde die EU dann vor der Frage stehen, ob und wieweit sie mit einer ukrainischen Exilregierung zusammenarbeiten kann, um die European vocation der Ukrainer wachzuhalten.
Den Erweiterungskonsens revidieren?
Die EU agiert auf der Basis des erneuerten Konsenses zur Erweiterungspolitik von 2006, der aus den »drei K« besteht: Konsolidierung des Erweiterungsraums, strikte Konditionalität im Sinne der Kopenhagener Beitrittskriterien und Kommunikation der Ziele, Kosten und Nutzen der Aufnahme neuer Länder, um die öffentliche Akzeptanz der Erweiterung zu verbessern. Der »Kiew-Effekt« (Manfred Weber, MdEP) könnte Anpassungen bei allen drei Prinzipien auslösen:
Konsolidierung: Der Grundsatz der Konsolidierung bezieht sich auf die politischen Verpflichtungen, die die EU gegenüber Ländern mit einer expliziten Beitrittsperspektive eingegangen ist. Das sind die Türkei und die Länder des Westlichen Balkans. Mit der Erhebung dieses Ziels zu einer der drei Prämissen des Erweiterungsprozesses signalisierte die EU jedoch anderen europäischen Staaten, die prinzipiell gemäß Artikel 49 EUV einen Beitrittsantrag stellen können, dass sie nicht per se mit einer politischen Unterstützung der Union rechnen können. Das richtete sich an Länder der Östlichen Partnerschaft wie die Ukraine. Ihnen gegenüber zog Brüssel eine Grenze zwischen Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik, die genau bei der Frage der Beitrittsperspektive ansetzt.
Nun könnte die EU diese Linie überschreiten und nach dem Modell Thessaloniki erklären, dass die Zukunft der Ukraine und die Moldaus und Georgiens in der EU liege. 2003 hatte die EU ein solches politisches Signal an die Länder des Westbalkans ausgesendet, von denen allein Kroatien inzwischen (2013) beigetreten ist. Es gibt auf beiden Seiten viele Gründe, weshalb die Botschaft verpuffte und die Glaubwürdigkeit des Beitrittsversprechens gelitten hat. Aber Thessaloniki hat zumindest die Selbstbindung der EU so weit gehärtet, dass eine Abkehr nahezu auszuschließen ist. Zumeist bedeutet eine Beitrittsperspektive für ein Land noch nicht, dass es auch zum Beitrittskandidaten wird. Der Rat verlangt, dass ein Land dafür einen gewissen Vorbereitungsstand für Aufnahmeverhandlungen vorweisen kann. Er muss die Entscheidung einstimmig fällen. Auch dieser Status besagt noch nicht, dass sich direkt Verhandlungen anschließen. Das bedeutet mit Blick auf die Ukraine, dass es prinzipiell zu (scheinbar) geringen Kosten einen Spielraum für anerkennende Symbolpolitik gibt. Ferner sind Beitrittsperspektive und Antragstellung nicht unbedingt eng gekoppelt. Ein Antrag ist Voraussetzung für ein sorgfältiges Prüfverfahren samt Empfehlung der Kommission zur Aufnahme von Verhandlungen. Von den aktuell fünf Kandidatenländern stehen drei, nämlich die Türkei, Serbien und Montenegro, in Beitrittsgesprächen, während Albanien und Nordmazedonien auf grünes Licht warten und Bosnien-Herzegowina und Kosovo nur als potentielle Kandidaten firmieren. Bisher wurde in der EU um jede kleine Rangerhöhung gestritten, zum einen, weil sie an nachprüfbare Fortschritte der Kandidaten bei der Erfüllung der Beitrittskriterien geknüpft ist, aber auch weil einzelne Mitgliedstaaten in diesem Kontext ihre bilateralen Konflikte mit Aspiranten austragen und mit einem Veto Prozesse abbremsen. Die Ukraine bekäme aus Sicht Brüssels mit einer Beitrittsperspektive oder gar dem Kandidatenstatus durchaus einen exzeptionell schnellen Einstieg. Wie zügig es dann weitergeht, ist allein für die EU-Seite schwer auszumachen. Die Grundregel der Beitrittskonferenzen von ihrer Eröffnung bis zu ihrem Abschluss ist die Einstimmigkeit. Im gesamten Verlauf gibt es für die 27 Regierungen viele individuelle Veto- und Interventionsmöglichkeiten.
Bei entsprechend starkem politischem Willen aller 27 Mitgliedstaaten könnte die EU mit der Regierung Selenskyj im Prinzip sogar kurzfristig Verhandlungen symbolisch eröffnen, um ein Signal der Zusammengehörigkeit und Unterstützung an die Bevölkerung der Ukraine zu senden. Zugleich wäre das die Ansage an den russischen Aggressor, dass die EU die Ukraine aus der gefährlichen Zwischenlage erlösen und fest in den euroatlantischen Strukturen verankern will. Die anvisierte Mitgliedschaft der Ukraine wäre dann Ausdruck der sich abzeichnenden Blockbildung.
Vom Beitrittsgesuch bis zum Beitritt sind bei Ländern mit erheblichem Rückstand zum Acquis und gravierenden Governance-Defiziten leicht zehn bis zwanzig Jahre zu veranschlagen. Nur die neuen Bundesländer konnten durch ihre Eingliederung in das Geltungsgebiet des Grundgesetzes ohne Verzug und ohne Verhandlungen den Europäischen Gemeinschaften »beitreten«.
Konditionalität: Das Gebot der strikten Einhaltung der Beitrittskriterien wurde durch die Neuerungen in der Methodologie des Beitrittsprozesses, die Frankreich 2019 angestoßen hat, noch schärfer gefasst. Auch im Fall der Ukraine und trotz der vielfältigen Formen der differenzierten Integration hat die EU nur wenig Spielraum, um die politischen und wirtschaftlichen Anforderungen abzusenken oder die Rechte und Pflichten der Übernahme des Primär- und Sekundärrechts im neuen Mitgliedsland nur selektiv handzuhaben. Denn vorrangig sind der Schutz der Werte der Union (politische Kriterien, siehe Artikel 2 EUV), die Einheitlichkeit des Rechtsraums und die Funktions- und Leistungsfähigkeit der EU (wirtschaftliche und Acquis-Kriterien). Die traditionellen Stellschrauben in Form zeitlich befristeter Übergangsregelungen würden angesichts der fundamentalen Rückstände, die die Ukraine gegenüber dem Acquis aufweist, nicht ausreichen, um eine überstürzte Aufnahme des Landes abzufedern.
Die Ukraine der Vorkriegszeit hätte die politischen Kriterien sicher nicht erfüllt. Andererseits hat die EU auch schon bei der Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei Abstriche bei den politischen Kriterien gemacht. Ihr Vertrauensvorschuss auf den Willen und die Fähigkeit Ankaras zur Reform wurde jedoch nach kurzer Zeit enttäuscht. Der zentrale Handlungsstrang wird der konkrete Heranführungsprozess der Ukraine an den EU-Acquis sein. Hier kann die EU bewährte und neue Instrumente zur Unterstützung, zum Monitoring und zur Verzahnung mit den wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau- und Reformprogrammen einsetzen. Die sicherheitspolitische Kooperation dürfte künftig und im Unterschied zur traditionellen Erweiterungspolitik wesentlich mehr Raum einnehmen, insofern die Nachkriegsukraine ein Land mit einer permanenten politischen und auch physischen Konfliktlinie gegenüber Russland, ungefestigten Außengrenzen und einem fragilem Frieden in einer unruhigen Nachbarschaft sein wird. Die Beitrittsgespräche sind der Handlungsstrang, auf den zwar die politische Öffentlichkeit blickt, aber er reflektiert vor allem die Fortschritte und Probleme im Heranführungsprozess.
Kommunikation: Die EU könnte eine wie auch immer gestaltete besondere Prozedur für die Ukraine als eine außerordentliche Notaufnahme begründen und müsste sie als solche kommunizieren.
Eine Notaufnahme europäischer Staaten wurde in der EU bereits in den 1990er Jahren unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs diskutiert. Auslöser dafür waren die prekären inneren Entwicklungen in Ländern Ostmittel- und Südosteuropas und die Hoffnung, durch einen solchen Schritt eine gefährliche Abkehr vom Demokratisierungspfad verhindern zu können oder aber einen Ausweg aus den kriegerischen Auseinandersetzungen im zerfallenden Jugoslawien zu eröffnen.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist wie 1989/90 eine Zäsur und Zeitenwende. Damals legten die KSZE-Staaten mit viel Zuversicht die Grundlagen für eine gesamteuropäische Architektur der Demokratie, des Friedens und der Einheit (Charta von Paris für ein neues Europa). Die von den europäischen Gemeinschaften geschaffene Teilordnung im Westen des Kontinents stellte dabei das politische Gravitationszentrum dar. Im Unterschied dazu bricht 2022 eine Zeit an, die von Geopolitik und Gegenmachtbildung geprägt und vom Interaktionsmodus der Eindämmung und Konfrontation zwischen Russland einerseits und der EU und den an ihr orientierten Ländern andererseits bestimmt sein wird. Eingedenk dessen ist die Not der Ukrainer heute größer, als es die der Länder Ostmitteleuropas in den neunziger Jahren war, so dass eine Notaufnahme-Strategie prima facie plausibel erscheint.
Um es kurz zusammenzufassen: Die EU-Mitgliedstaaten sind frei, der Ukraine eine Beitrittsperspektive zu geben, sie als Beitrittskandidat anzuerkennen und sogar, wenn auch nur symbolisch, Beitrittsverhandlungen zu eröffnen. Sie würden damit ihre Solidarität mit dem ukrainischen Kampf um Souveränität und Demokratie ausdrücken und sich politisch verpflichten, die Ukraine aufzunehmen, wenn sie die Bedingungen erfüllt. Der Hauptunterschied zur Ukraine-Politik der Vorkriegszeit wäre also, dass es nicht mehr die Frage ist, ob, sondern wann die Ukraine der EU beitreten wird.
Mit diesen Entscheidungen würden allerdings die beiden anderen »K«, Konsolidierung und Konditionalität, hintangestellt bzw. ausgehöhlt. Das Bemühen der EU, die Glaubwürdigkeit ihrer Erweiterungspolitik, die im Falle des Westbalkans erheblich gelitten hat, wieder zu stärken, wird bei einer Ausdehnung des Aufnahmekreises auf die Länder der Östlichen Partnerschaft einem noch größeren Test ausgesetzt. Auch wenn im Moment die Sympathie für die Ukraine sehr groß ist und die augenblicklichen Umstände besondere Maßnahmen akzeptabel machen, würde die Eröffnung einer Beitrittsperspektive für Kiew eine Revision von Eckpunkten der Erweiterungspolitik bedeuten, die nachhaltige Folgen für die EU‑27 haben wird.
Die EU könnte deshalb zu der Einschätzung gelangen, dass es geboten ist, im Rahmen der europäischen Verträge einen neuen Status der Teil‑ oder Juniormitgliedschaft zu definieren oder aber unterhalb der Schwelle zur Mitgliedschaft mit und für assoziierte Drittstaaten einen neuen Europäischen Politik- und Wirtschaftsraum mit starker sicherheitspolitischer Komponente zu schaffen. Dieser kann eine Vorstufe oder dauerhafte Alternative zur Vollmitgliedschaft sein. Bei dem Konstrukt, das zu entwickeln wäre, handelte es sich also eher um eine intensivierte ÖP, die institutionell enger mit der EU verschränkt wäre, als um eine defekte EU-Mitgliedschaft.
Sicherheits- und integrationspolitische Aspekte
Wenn sie der Ukraine eine Beitrittsperspektive eröffnete, wäre dies für die EU ein sehr weitreichendes Versprechen. Es einzulösen bedürfte einer umsichtigen Strategie, die außen- und sicherheitspolitische sowie integrationspolitische Dimensionen zu berücksichtigen hätte. Diese sollen hier nur angerissen werden:
EU und Nato: Die EU müsste zügig klären, wie eine Erweiterungsstrategie gegenüber ÖP-Ländern im Verhältnis zur Nato und deren Politik der offenen Tür steht. Immerhin hält die Allianz offiziell an dieser Politik fest, die ja von EU-Staaten, die zugleich Bündnismitglieder sind, mitgetragen wird.
Die Beitritte der EFTA-Staaten 1995 und der Mittelmeerländer Zypern und Malta 2004 waren die letzten Erweiterungsrunden, bei denen nicht-paktgebundene Staaten aufgenommen worden sind. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine erwägen auch Schweden und Finnland einen Nato-Beitritt konkreter denn je. Nur Irland, Österreich, Malta und Zypern blieben dann bündnisfreie EU-Mitglieder. Das heißt, in der Regel geht die Mitgliedschaft in der Nato der in der EU voran, was zum Beispiel mit Ausnahme Serbiens auch bei den Kandidaten des Westlichen Balkans der Fall ist. Sollte nun im Falle der Ukraine die Zugehörigkeit zur EU vorangehen oder gar ein Eintritt in die Nato faktisch ausgeschlossen bleiben, dann hieße das für die Union, dass sie ein geopolitisch extrem exponiertes Land in prekärer Sicherheitslage aufnehmen würde. Auch für ein Mitglied Ukraine müsste die EU nach dem Beistandsartikel 42 (7) EUV Hilfe und Unterstützung leisten, was sie selbst dann, wenn sie über robustere eigene Fähigkeiten verfügen sollte, ohne Nato-Absicherung im Fall eines bewaffneten Angriffs nicht leisten könnte. Perspektivisch müsste die Hilfe und Unterstützung der Mitgliedstaaten füreinander stärker militärisch und sicherheitspolitisch gedacht werden, als es der derzeitige Wortlaut des Artikels hergibt. Die Nato und die EU sollten auch ungeachtet von Mitgliedschaftsfragen ihre Zusammenarbeit mit ÖP-Ländern im Bereich der Sicherheit und der Verteidigung eng abstimmen. In den Jugoslawien-Kriegen der 1990er Jahre hat die inzwischen aufgelöste Westeuropäische Union (WEU) als eine der EU unterstellte Organisation für bündnisfreie ostmitteleuropäische Länder einen neuen Status als assoziierte Partner geschaffen. Das hieß zwar nicht, dass die WEU sich ihnen gegenüber – wie für ihre Mitglieder, die sämtlich der Nato und der EG/EU angehörten – zum Beistand verpflichtete. Aber die assoziierten Partnerstaaten waren damit regelmäßig in ein Sicherheitsbündnis einbezogen, das unter anderem der Konsultation und Verteidigungsplanung diente. Zudem gab es in Form des Eurocorps eine Brigade, die unter doppeltem Kommando der EU und der Nato stand und zum Beispiel an der Stabilisation Force (SFOR) in Bosnien beteiligt war.
Es wäre zu überlegen, ob EU und Nato gemeinsam eine Organisation für die sicherheitspolitische Kooperation mit den ÖP-Ländern ins Leben rufen. Kerngruppe dieser Ausgründung wären die Länder, die den europäischen Pfeiler der Nato bilden; bestenfalls wäre auch das Vereinigte Königreich mit dabei, immerhin eine der Garantiemächte des Budapester Memorandums von 1994. Das Themenspektrum könnte alle Fragen der Verteidigung inklusive Cyberbedrohungen und Schutz kritischer Infrastruktur einschließen; vor allem aber müsste die neue Organisation die Frage von Sicherheitsgarantien für die Ukraine behandeln und die langanhaltenden Konflikte in den Sezessionsgebieten und De-facto-Staaten des Assoziierten Trios bearbeiten. Die EU müsste diese euroatlantische Ausgründung verbinden mit anderen Kooperations- und Integrationsformaten, insbesondere mit der Energieunion, und die Initiative verknüpfen mit den politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zur Kräftigung der Resilienz der ÖP-Länder. Diese neue Organisation wäre eine sicherheitspolitische Flankierung der EU-Erweiterung und könnte eine Vorstufe für die Nato-Mitgliedschaft von ÖP-Staaten sein.
Wie groß wäre der Kreis der neuen Kandidaten zu ziehen? Würde das politische Signal der Beitrittsperspektive nur an die Ukraine oder insgesamt an das Assoziierte Trio oder noch darüber hinaus gehen? Diese Frage und vor allem das Problem der Nato-Mitgliedschaft machen deutlich, dass die Erweiterungsstrategie transatlantisch und sicherheitspolitisch eingebettet werden muss. Denn sie müsste in einem feindlichen Umfeld umgesetzt werden, auf das die EU in ihren anvisierten neuen Grenzen direkt stoßen würde.
Aufnahmefähigkeit der EU: Eine Aufnahme der Ukraine in den Kreis der Beitrittskandidaten hätte erhebliche Auswirkungen auf die mittelfristige Entwicklung der EU. Selbst wenn man die Erweiterung primär als Instrument der Außenpolitik versteht, eine Sichtweise, die im Fall der Ukraine dominieren dürfte, dann führt doch kein Weg daran vorbei, die Folgen für das Regierungssystem EU und einzelne Politikfelder in die Betrachtung einzubeziehen. In den Jahren der Polykrise hatte die EU bereits mit zentrifugalen Tendenzen unterschiedlicher Art zu kämpfen. Sie zeigt bei den Prozessen der Politikformulierung und Entscheidungsfindung deutlich Symptome einer Überdehnung, deren Ursache nicht nur die schiere Zahl der Mitglieder, sondern auch die Heterogenität ihrer Präferenzen und Ausgangssituationen ist. Diese Zeichen der Überlastung können durch die Formen der differenzierten Integration und den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen höchstens abgeschwächt werden. Jede Erweiterung, zumal um nicht konsolidierte Demokratien mit schwachen Ökonomien, vergrößert den Problem- und Reformdruck der EU. Die Kapazitäten zur Lösung schwieriger Aufgaben, von Krisen und beim Umgang mit Zielkonflikten und Prioritäten in der 27er Gemeinschaft wachsen nicht entsprechend mit. Viel spricht deshalb dafür, dass die EU nur dann weitere Länder aufnehmen sollte, wenn sie zuvor ihre Institutionen und Entscheidungsverfahren reformiert hat. Mit den bestehenden und neuen Zusicherungen an zehn Länder beschwört die EU ein Szenario herauf, das ihre Aufnahmefähigkeit – auch auf die beiden nächsten Dekaden hin betrachtet – weit übersteigt: Ein Beitritt der Ukraine (rund 44 Millionen Einwohner) und der nicht völlig auszuschließende der Türkei (rund 84 Millionen Einwohner) würde zudem den geographischen Schwerpunkt der EU an ihre heutige Peripherie verlagern. Das Kerneuropa um Frankreich, Deutschland und die Gründerstaaten könnte eine solcherart überdehnte Union wohl immer weniger zusammenhalten. Es träten Länder einer womöglich noch stärker als heute integrierten EU bei, die ein ungebrochenes Selbstverständnis von nationaler Souveränität im Sinne des 19. Jahrhunderts mitbringen und sich – polemisch zugespitzt – von Brüssel so beherrscht sähen wie weiland von Moskau.
Für die Aufnahme von Ländern der ÖP ist die EU heute und auf absehbare Zeit nicht reif. Um tatsächlich effektiv die Grenzen zu Russland sichern zu können, müsste sie ihre militärischen Fähigkeiten im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) wesentlich erweitern und die Zusammenarbeit mit der Nato ausbauen.
Umgang mit dem Aufnahmeantrag
Die Kommission und der Rat werden das Beitrittsgesuch aus Kiew nicht einfach liegen lassen. Die EU wird sich aber wohl nicht die Zeit nehmen, um ihre Antwort in einem internen Klärungsprozess sorgfältig vorzubereiten und verschiedene Gesichtspunkte abzuwägen. EU-Ratspräsident Michel hat schon auf die Differenzen unter den Mitgliedstaaten in dieser Frage hingewiesen. Die Kommissionspräsidentin mahnt eine »Stunde der Wahrheit für Europa« an.
Die EU hat mindestens zwei miteinander kombinierbare Möglichkeiten, mit dem Aufnahmeantrag umzugehen: Erstens könnte der Europäische Rat der Ukraine auf Empfehlung der Kommission den Kandidatenstatus quasi freihändig und ohne geschäftsmäßigen Vorlauf verleihen. Das bliebe bis auf weiteres ein rein symbolischer Akt, mit dem die EU vorübergehend moralische Reputation gewinnen kann. Er könnte der Ukraine Mut machen und den Rücken stärken, sollte es zu echten Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen mit Russland kommen.
Mit diesem Schritt würde die EU wohl nicht nur die Ukraine, sondern das Assoziierte Trio auf das Gleis von sehr langen Beitrittsverhandlungen setzen. Georgien und Moldau sind bereits auf den Zug aufgesprungen und haben Anfang März gleichfalls Anträge gestellt, ein Akt, von dem die EU zuvor oftmals abgeraten hatte, da er zu früh komme und eine Antwort wohl negativ ausfallen würde. Die Kandidatenländer des Westbalkans werden voraussichtlich ebenso den Druck auf die EU dahingehend erhöhen, die laufenden bzw. stockenden Verhandlungen zügig abzuschließen.
Beim informellen Gipfel in Versailles Anfang März 2022 einigten sich die 27 Staats- und Regierungschefs auf die zweite Option: Sie würdigten den Antrag Kiews diplomatisch (Anerkennung der »europäischen Bestrebungen« und der »Entscheidung [der Ukraine] für Europa«). Sie verweisen darauf, dass der Rat schon rasch gehandelt und die Kommission um Stellungnahme gebeten hat. Damit kommt das übliche Verfahren nach Artikel 49 EUV in Gang. Zudem werden die 27 nationalen Parlamente und das Europäische Parlament über den Antrag informiert. Aber eine Antwort auf das Gesuch wird faktisch bis zum Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine vertagt. Denn eine eingehende Prüfung des Antrags durch die Kommission, bei der es ja im Wesentlichen um die Frage geht, wie die aktuelle Beitrittsreife eines Landes im Lichte der Kopenhagener Kriterien einzuschätzen ist (»Screening«), kann angesichts des Krieges und seiner Folgen gar nicht in sinnvoller Weise stattfinden. Deshalb kündigen die 27 auch an, die Beziehungen zur Ukraine zu vertiefen, bis die Stellungnahme der Kommission vorliegt. Bezugspunkt bleibt das Assoziierungsabkommen. Ferner hat der Rat die Kommission geschäftsmäßig um Stellungnahme zu den Anträgen Moldaus und Georgiens gebeten. Mit Blick auf die Ukraine versichern die 27, dass sie »Teil unserer europäischen Familie« ist. Insgesamt werden damit Formeln gewählt, die die hochfliegenden Erwartungen all jener beitrittsaffinen Kräfte dämpfen, zu denen nicht nur die Ukraine selbst gehört, sondern auch diejenigen EU-Länder, die jetzt offensiv für einen Kandidatenstatus der Ukraine werben (z. B. Estland). Diese haben sicher die Solidarität mit der Ukraine im Sinn. Aber zumindest Polen und auch das in Sachen Ukraine verhaltener auftretende Ungarn könnten das Momentum der Versicherheitlichung, von dem die EU nun ergriffen worden ist, auch dazu nutzen, um den Konflikt mit Brüssel über Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als irrelevant von der Tagesordnung zu drängen.
Die EU sollte sich auch angesichts der Weichenstellung von Versailles fragen, wie tragfähig eine Beitrittsperspektive für die Ukraine ist, wenn ihr eine kühle Kosten-Nutzen-Kalkulation einzelner Mitgliedstaaten gegenübergestellt wird und die jetzt noch unabsehbaren geopolitischen Effekte eingerechnet werden. Wie bei der Osterweiterung von 2004 läuft die EU Gefahr, sich in ihrer eigenen politischen Rhetorik zu verstricken (Frank Schimmelfennigs »rhetorical entrapment«), wenn sie sich die moralische Argumentation von Präsident Selenskyj zu eigen macht. Dieser forderte vor den EU-Staats- und Regierungschefs und den Europaabgeordneten eine Beitrittsperspektive für sein Land. Mit einer solchen Zusage könnten sich die Entscheidungsträger als Europäer beweisen und zeigen, dass sie auf der Seite der Ukraine stehen, die für ihre Rechte, ihre Freiheit und ihr Leben kämpfe und darum, gleichberechtigtes Mitglied Europas zu werden. Er appelliert damit an die normativen Grundlagen der EU als Friedensgemeinschaft und setzt die Union so moralisch unter Druck. Weil die Ukraine das Opfer des russischen Angriffskriegs ist und in ihrer Gegenwehr jene Werte verteidigt, auf die die EU, aber auch die Nato gründen, »verdiene« sie (so der polnische und der litauische Präsident in Kiew am 23. Februar 2022) den Kandidatenstatus. Je stärker sich die EU auf die Argumentation einlässt, desto schwieriger wird es, dieser andere Gesichtspunkte und Interessen (Aufnahmefähigkeit, Sicherheit der EU) entgegenzusetzen und auf die technokratische Logik der Beitrittsverhandlungen zu verweisen.
Perspektiven: Ambivalenzen bleiben
Die EU hat die geopolitischen Implikationen der Erweiterung wie auch der ÖP lange unterschätzt oder falsch eingeschätzt. Das zeigte sich 2013, als die russische Intervention gegen das Assoziierungsabkommen Kiews mit der EU verhindern sollte, dass die Ukraine in Richtung der Ordnungsvorstellungen des Westens und seiner Organisationen abbiegt. Die EU hatte/hat ihren östlichen Nachbarn mit der ÖP durchaus ein weitgehendes Assoziierungsangebot gemacht, das aber nur in einem kooperativen Umfeld, sprich, mit einem nicht revisionistischen Russland Entwicklungsmöglichkeiten bis hin zur Mitgliedschaft bot. Letztere ist ja von der EU zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen worden.
Mit dem Krieg in der Ukraine wird, wenn sich die EU auf die geopolitische Logik einlässt, die Epoche der inkrementellen EU-Osterweiterung enden. Mit dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 öffnete sich unverhofft das Gelegenheitsfenster, mit der Aufnahme mittel- und osteuropäischer Nachbarstaaten in die EU die Friedenszone in Europa auszudehnen. Die Rahmenbedingungen für Kooperation und Integration in Europa waren günstig, und es gab eine berechtige Hoffnung auf konvergierende Ordnungsvorstellungen unter den KSZE-Staaten.
Es spricht viel dafür, dass die EU ihre Erweiterungspolitik unter den Bedingungen der neuen Blockbildung in Europa mit dem Ziel einer Konsolidierung der Beitrittsversprechen weiterführt. Eine Notaufnahme ist höchst unwahrscheinlich; ein regulärer Beitritt liegt in sehr weiter Ferne. Deshalb sollte die EU (zumindest) mit Blick auf die ÖP-Länder Integrations- und Kooperationsarrangements unterhalb der EU-Mitgliedschaft – wie oben skizziert – entwickeln und ihre eigene Handlungsfähigkeit auf allen Feldern verbessern, um ihre Werte und Interessen selbst behaupten zu können. Insofern werden Ambivalenzen im Hinblick auf die Ukraine und andere Länder der ÖP noch bestehen bleiben. Solange Russland eine aggressive und imperiale Politik gegenüber seinen Nachbarländern betreibt, muss die EU, zusammen mit den USA, dem mit allen Mitteln und auf längere Sicht entgegenwirken.
Nichts schweißt so zusammen wie ein gemeinsamer Gegner. Der von Putin initiierte Krieg gegen die Ukraine könnte bewirken, dass die äußere Bedrohung die 27 zu einer nie dagewesenen politischen Geschlossenheit und Konsequenz im Handeln zusammenführt. Die EU hat in ihrer Reaktion auf den Überfall der Ukraine gezeigt, dass sie in dieser Ausnahmesituation zu gemeinschaftlicher Machtprojektion in der Lage ist. Die Basis dafür ist ihre Wirtschafts- und Finanzmacht sowie eine supranationale Exekutive, die es zu vertiefen bzw. zu sichern gilt.
Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP und Mitglied der Institutsleitung.
© Stiftun g Wissenschaft und Politik, 2022
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autorin wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
doi: 10.18449/2022A23