Die Russland-Krise dominiert die diesjährige Münchener Sicherheitskonferenz. Das überlagert andere Herausforderungen - vor allem China. Die Bundesregierung muss das in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie berücksichtigen, meinen Laura von Daniels, Stefan Mair und Claudia Major.
Endlich! Nachdem die Münchener Sicherheitskonferenz (MSC) 2021 pandemiebedingt nur virtuell stattgefunden hatte und angesichts der international vielfach angespannten Lage schien die sicherheitspolitische Gemeinde umso begieriger, am vergangenen Wochenende wieder persönlich in München zusammenzutreffen. Von VN-Resolution 1325 bis nuklearer Abschreckung, Weltraum bis Klimawandel und Künstlicher Intelligenz – die Agenda des Hauptprogramms und der Nebenveranstaltungen deckte alles ab.
Doch wie kaum eine MSC in den Jahren zuvor, wurde die 2022er Ausgabe von einem Thema dominiert. Die von Russland angefachte Krise um die Ukraine warf die alte machtpolitische Frage auf: Gibt es Krieg oder Frieden in Europa? Zwar haben sich die Mittel verändert: Russland will die Ukraine auch im Cyberbereich mit Fake news und wirtschaftlichem Druck in die Knie zwingen. Umgekehrt drohen die USA, die anderen Nato-Staaten und die Europäische Kommission damit, Russlands Wirtschaft effektiv von Weltmärkten abzuschneiden, wenn es zu einer weiteren Eskalation kommt. Letztendlich ging es in München aber im Kern um traditionelle militärische Mittel: um jene bis zu 190.000 Truppen, die Russland in einem Halbkreis um die Ukraine zusammengezogen hat. Durch dieses klassische militärische Bedrohungsmanöver ist es Moskau gelungen, Europa eine Debatte über seine hinreichend definierte Sicherheitsordnung aufzuzwingen. Sollte Putins Hauptziel allerdings die Spaltung der transatlantischen Gemeinschaft gewesen sein, ist ihm dies misslungen. Während die MSC noch 2020 »Westlessness« heraufbeschwor, bemühten sich diesmal alle Redner des »verlorenen« Westens, die Einheit, Stärke und Entschlossenheit des Bündnisses zu betonen. Es gehe ums Grundsätzliche: ob eine liberale Ordnung, Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung als wichtigste Grundsätze auf dem europäischen Kontinent bewahrt werden und von dort aus weiter auf die Welt ausstrahlen könnten.
Es mutet einerseits als Anachronismus an, dass so alte Themen wie militärische Gewalt und Geschlossenheit des Westens (ob nun beschworen oder angezweifelt) wieder zum Leitmotiv der MSC wurden. Andererseits scheint diese Herausforderung aber auch geeignet, dem Gefühl der »Helplessness«, wie es die MSC dieses Jahr in den Mittelpunkt stellte, entgegenzuwirken. Seit dem erneuten Beginn der Eskalation um die Ukraine zeigten die Europäer und die westliche Allianz insgesamt, dass sie, wenn notwendig, einen Sprint hinlegen können. Entscheidungen treffen, Maßnahmen koordinieren und umsetzen – das alles gelang in kürzester Zeit. Aber wie sehen sie im Zweifel auf der Langstrecke aus, wenn Putin den Konflikt immer wieder rauf und runterfährt und den Westen zermürbt?
Die akute Kriegsgefahr in Europa hat viele andere ebenso wichtige Themen verdrängt: von Klimawandel über neue Technologien bis zur feministischen Außenpolitik. Die aktuelle Russland-Krise prägte daher auch drei andere bleibende Eindrücke der Konferenz:
Von München ging erstens ein deutliches Zeichen der Blockbildung zwischen liberalen Demokratien und Autokratien aus. Die russische Delegation blieb erstmals seit 1991 demonstrativ fern. Auch hochrangige chinesische Offizielle nahmen nur virtuell teil. Dies war umso bemerkenswerter, nachdem Putin gerade erst bei der Eröffnung der Olympischen Spiele die Allianz mit China gefeiert hatte und Peking ihm demonstrativ den Rücken bei seinen Forderungen gegenüber Europa und den USA stärkte. Bei der MSC blieb der Westen also weitgehend unter sich, mit einer bemerkenswert hohen Zahl an hochrangigen politischen Vertretern: Kamala Harris, Boris Johnson, Olaf Scholz, Ursula von der Leyen, Jens Stoltenberg und viele andere mehr. Die Gefahr der Entfremdung zwischen dem westlichen Bündnis einerseits und China sowie Russland andererseits ist damit gewachsen. Allerdings ist auch zu vermerken, dass der chinesische Außenminister Wang Yi in seiner virtuellen Zuschaltung die Bedeutung des Völkerrechts und der nationalen Souveränität betonte – was durchaus als Warnung an Russland verstanden werden konnte.
Mit dieser unklaren Positionierung verstärkte China zweitens den Eindruck, nach wie vor der »Elefant im Raum« zu sein, der als zentrale außenpolitische Herausforderung für die USA und auch für Europa alle anderen Politikfelder mitbestimmt, aber dessen Bewegungen und Lautäußerungen viele Unklarheiten darüber lassen, was seine wirklichen Absichten sind. Ist China bereit, für ein Bündnis mit Russland die Wirtschaftsbeziehungen zum Westen zu gefährden? Fühlt es sich stark genug, die USA offen herauszufordern? Strebt es eine bipolare Weltordnung an, in der es eine der Blöcke dominiert, oder fühlt es sich nach wie vor dem Konzept der Multipolarität verpflichtet? Und was bedeutet dies für die China-Strategien der USA und Europas? Für die Diskussion derartiger Fragen blieb bei der MSC verhältnismäßig wenig Zeit. Die USA wissen allerdings, dass China ganz genau beobachtet, wie sehr der Westen mit Blick auf die Ukraine bereit ist, seine Prinzipien zu verteidigen. Daraus lassen sich Schlüsse ziehen, wie die USA auch in anderen internationalen Konfliktfragen, etwa Taiwan, agieren könnten. Die aktuelle Krise um die Ukraine verdrängt zwar momentan China vom ersten Platz der sicherheitspolitischen Prioritätenliste der Biden-Administration – aber das Thema wird mit voller Wucht zurückkehren.
Europa und der Westen haben drittens nicht den Luxus, sich die Herausforderungen auszusuchen: Sie finden nicht nur parallel statt, sondern erfordern teils unterschiedliche Analyseraster, um sie zu erkennen, und verschieden Ansätze, um sie zu meistern. Je nach Bedrohung ist eine andere »Grammatik der Macht« gefordert. Die aktuelle Russlandkrise und denkbare Konflikte im indopazifischen Raum erfordern schnelles Krisenmanagement und entschlossenes Handeln, einschließlich militärischer Optionen. Geht es darum, die Klimakrise zu bewältigen, im internationalen Innovationswettbewerb mitzuhalten oder ethische Standards für den Einsatz neuer Technologien und künstlicher Intelligenz zu vereinbaren, reichen die klassischen Ansätze nicht mehr aus. Hier müssen Europa und die USA ihre wieder gefundene Geschlossenheit und ihren Einfluss nutzen, um in multilateralen Formaten China und andere Länder zur Kooperation zu bewegen. Und sie müssen selbst innovativ bleiben: sowohl bei Spitzentechnologien, aber auch mit Blick auf Regulationsmechanismen im technischen, militärischen und politischen Bereich.
Deutschland sieht sich in dieser neuen Welt drei unterschiedlichen Anforderungen ausgesetzt:
Erstens die Fähigkeiten weiterzuentwickeln, auf die seine Anziehungskraft und sein internationaler Einfluss aufbauen: ein dichtes Netz an globalen Wirtschaftsbeziehungen, die Pflege von Interdependenzen, die stete Dialogbereitschaft, das Engagement in multilateralen Institutionen und die Bereitschaft, durch Finanzzuschüsse die EU zu stabilisieren sowie nachhaltige Entwicklung zu fördern.
Zweitens sich umfassender für eine Welt zu rüsten, in der klassische Machtpolitik dominiert, diese Macht aber mit neuen und diversen Mitteln angewandt wird: sie reichen von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen über Cyberangriffe und Fake news bis zur Drohung mit beziehungsweise dem Einsatz von militärischer Gewalt.
Und drittens Analyseraster und Instrumente zu entwickeln, um den internationalen Kurs mit zu bestimmen, in dem die Grenzen zwischen Krieg und Frieden, innen und außen, zivil und militärisch, staatlich und privat immer mehr verwischen.
Diesen drei Anforderungen gerecht zu werden, sie auszubalancieren und zu priorisieren, wird die zentrale Aufgabe der noch zu schreibenden Nationalen Sicherheitsstrategie Deutschlands sein.
Eine Rückkehr der klassischen Machtpolitik beobachtet die Militärexpertin Claudia Major. Der Russland-Ukraine-Konflikt werde noch mit Cyberattacken, wirtschaftlicher Erpressung und Fake-News ausgetragen. Doch die Bereitschaft, Militär einzusetzen, sei gestiegen.
Sie ist das Sinnbild für diplomatischen Austausch: Die Münchner Sicherheitskonferenz. Ausgerechnet Russland nimmt aktuell nicht an ihr teil - und das angesichts des weiterhin schwelenden Konflikts an der ukrainisch-russischen Grenze. Verliert die Sicherheitskonferenz dadurch an Bedeutung?
Was sind Russlands Ziele in der Ukraine, was bedeutet der Konflikt für die europäische Sicherheitsordnung, welche Handlungsoptionen hat der Westen und wie konkret ist die Gefahr für einen Krieg in Europa? Darüber diskutieren Claudia Major und Margarete Klein mit Dominik Schottner.
Nach dem Besuch von Scholz in Moskau gibt es vorsichtige Anzeichen der Entspannung im Russland-Konflikt. Was will Russland wirklich erreichen? Und welche Optionen haben die Nato-Länder?
Sicherheitsvereinbarungen und Rüstungskontrolle müssen wiederbelebt werden
doi:10.18449/2022A11
Die Staatschefs von Russland und China haben sich in den vergangenen Monaten immer wieder gegenseitige Unterstützung zugesichert und ihre »Freundschaft« betont. Was steckt hinter der strategischen Allianz der beiden Länder? Darüber diskutieren Angela Stanzel und Janis Kluge mit Dominik Schottner.
In Europa wächst die Sorge vor einer militärischen Intervention Russlands in der Ukraine. Neben dem Aufmarsch von rund 100.000 Soldaten in der Nähe der ukrainischen Grenze ist für Februar ein Manöver in Belarus geplant. Was hat Moskau vor? Margarete Klein hält drei Szenarien für möglich.
Prioritäten setzen – Platz definieren – Partnerschaften vertiefen
doi:10.18449/2022A05
Die russischen Vorschläge für eine europäische Sicherheitsordnung reflektieren eine Rückkehr zum Großmachtdenken. Ob die Bundesregierung auf Moskaus Abkehr vom Prinzip der gemeinsamen Sicherheit angemessen reagieren wird, ist fraglich, meint Markus Kaim.
doi:10.18449/2022A02
Russland hat Vertragsentwürfe für künftige Abkommen mit den USA und der Nato veröffentlicht. Diese sind als Versuch zu sehen, die Nato zu spalten und die Ukraine unter Druck zu setzen. Washington und die europäischen Verbündeten sollten jedoch nur Vorschläge verhandeln, die das Bündnis sowie die Souveränität der post-sowjetischen Partnerstaaten nicht in Frage stellen, meint Sabine Fischer.
Russia has confronted the EU and the US with the threat of war in Europe, demanding legitimization of its spheres of influence. The way they respond to this challenge will affect how the West is perceived in other regions, including by China, says Dumitru Minzarari.
Pekings Autarkiestreben und seine aggressive Außenpolitik machen eine Kurskorrektur in Berlin erforderlich
doi:10.18449/2021S23v02
There are concerns about China's cyber activities and its increasing presence in the Arctic.
Beitrag zu einer Sammelstudie 2021/S 15, 30.09.2021, 134 Seiten, S. 123–126
Unstete Bedingungen, neue Impulse
doi:10.18449/2021S15
Großmächtekonflikte, instabile Regionen und globale Krisen: Wie sollte sich die kommende Bundesregierung außen- und sicherheitspolitisch aufstellen? Nana Brink im Gespräch mit Stefan Mair und Bastian Giegerich über strategische Herausforderungen und den notwendigen Wandel.
Joe Biden möchte eine »Foreign Policy for the Middle Class« machen, eine Außenpolitik, die eng mit der Innenpolitik verknüpft ist. Welche Motive stehen dahinter und wie sieht die Bilanz Joe Bidens in diesem Zusammenhang aus? Laura von Daniels und Johannes Thimm geben Antworten. Moderation: Nana Brink.
Seit dem russischen Angriff im Februar 2022 ist die gemeinsame Unterstützung für die Ukraine und die Abstimmung der Reaktion auf den Völkerrechtsbruch durch Russland das dominierende Thema in den transatlantischen Beziehungen. Das Dossier beschäftigt sich darüber hinaus mit den strukturellen und längerfristigen Entwicklungen in den USA.