Russland hat Vertragsentwürfe für künftige Abkommen mit den USA und der Nato veröffentlicht. Diese sind als Versuch zu sehen, die Nato zu spalten und die Ukraine unter Druck zu setzen. Washington und die europäischen Verbündeten sollten jedoch nur Vorschläge verhandeln, die das Bündnis sowie die Souveränität der post-sowjetischen Partnerstaaten nicht in Frage stellen, meint Sabine Fischer.
Das Risiko einer Eskalation im russisch-ukrainischen Konflikt bleibt bestehen. Das geht aus zwei Vertragsentwürfen für künftige Abkommen über sogenannte Sicherheitsgarantien mit den USA und der Nato hervor, die das russische Außenministerium am Freitag veröffentlichte. Neben dem Inhalt gibt auch der Umgang mit den Dokumenten Aufschluss über die Verhandlungsoffensive Russlands.
Im Kern geht es in den beiden Vorlagen darum, in Europa eine russische und eine amerikanische Einflusszone zu errichten. Washington und die anderen Nato-Mitglieder sollen sich verpflichten, keine neuen Mitglieder mehr aufzunehmen. Zudem soll das Bündnis seine militärische Infrastruktur auf den Stand von 1997 zurückbauen, also noch vor den Erweiterungsrunden 1999 und 2004. Und die USA müssten ihre Atomwaffen aus Europa abziehen. Würden die Vertragsentwürfe in ihrer jetzigen Form umgesetzt, entstünde aus russischer Perspektive eine sicherheitspolitische Pufferzone auf dem östlichen Nato-Territorium und nicht etwa entlang der Außengrenzen der Nato. Die Staaten in Moskaus unmittelbarer Nachbarschaft könnten nicht mehr mit westlicher Unterstützung rechnen. Russische Gegenangebote gibt es dafür nicht. Beide Vertragsentwürfe sind so formuliert, dass Moskau keine seiner Positionen, vom Truppenaufmarsch an der russisch-ukrainischen Grenze bis zu den Iskander-Raketen in Kaliningrad, zurücknehmen müsste. Es bietet lediglich an, den Nato-Russland-Rat und andere Konsultationsmechanismen wiederzubeleben.
Allen Beteiligten, höchstwahrscheinlich auch im Kreml, ist klar, dass weder Washington noch seine europäischen Verbündeten sich auf diese Vorschläge einlassen können. Die Entwürfe vermischen Elemente, die aus westlicher Perspektive durchaus interessant sind, mit inakzeptablen Maximalforderungen. Zur ersten Kategorie zählen die Wiederbelebung von Konsultationsmechanismen oder die Nicht-Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in territorialer Reichweite der Vertragspartner. Die Forderung nach einem prinzipiellen Erweiterungsverzicht fällt in die zweite Kategorie und bedeutet nichts weniger als eine Änderung des Nordatlantikvertrags. Umgesetzt kämen die Verträge einer Großmacht-Entente gleich, die über die Köpfe nicht nur der Nachbarstaaten Russlands, sondern auch der europäischen Verbündeten der USA hinweg geschlossen würde. Letzteres wird dadurch unterstrichen, dass Moskau vor allem mit Washington verhandeln will. Beide Textentwürfe nennen die Ukraine mehrfach. Mit ihrer Unterschrift würden die USA die ukrainischen Grenzen so anerkennen, wie Russland sie seit 2014 sehen möchte - nämlich ohne die Krim.
Das russische Außenministerium veröffentlichte beide Entwürfe nur zwei Tage, nachdem sie der amerikanischen Seite überreicht worden waren. Das gleicht einem Ultimatum - zumal Moskau nun auf eine rasche Reaktion drängt. Fast wirkt es, als wolle der Kreml die Ablehnung seiner Vorschläge herbeiführen, um den Graben zwischen sich und dem Westen weiter zu vertiefen.
Seit dem vergangenen Jahr deutet viel darauf hin, dass der russische Präsident endgültig regeln will, was aus seiner Sicht in den letzten Jahrzehnten nicht geregelt wurde: Die Verfassungsreform von 2020 ermöglicht es Putin, bis 2036 an der Macht zu bleiben. Die politische Opposition ist mittlerweile so gut wie ausgeschaltet. Auch die kritische Zivilgesellschaft wird immer härter bedrängt. Das zeigen unter anderem die laufenden Prozesse gegen die russische Menschenrechtsorganisation Memorial.
Moskau versucht seit 2020, den Status Quo im Donbas-Konflikt* zu verändern. Doch die Verhandlungen sind blockiert, während Kyjiw* sich um Annäherung an EU und NATO bemüht. Russland hat 2021 weiter Einfluss in der Ukraine eingebüßt - und hat alle Hoffnung verloren, mit der bisherigen Mischung aus hybridem Krieg und Verhandlungen seine Interessen in der Ukraine durchsetzen zu können. Also baut es bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr militärischen Druck auf.
Die manipulierte Staatsduma-Wahl im September 2021 hat den erwünschten Sieg der Partei der Macht »Einiges Russland« gesichert. Damit ist ein wichtiges innenpolitisches Etappenziel auf dem Weg zur 2024 anstehenden Präsidentschaftswahl erreicht. Nun kann sich der Kreml darauf konzentrieren, seine internationalen Ordnungsvorstellungen voranzutreiben.
Moskau inszeniert sich mit seiner Zwangsdiplomatie und den beiden Vertragsentwürfen als Supermacht auf Augenhöhe mit Washington. In Ermangelung überzeugender Argumente und Hebel greift es auch hier zu militärischem Druck. Die gegenwärtige Krise auf dem europäischen Gasmarkt erzeugt Stress in Brüssel und bei den EU-Mitgliedsstaaten, das spielt der russischen Führung zusätzlich in die Hände. Mit seinen roten Linien hat Putin aber nicht nur Washington, sondern auch sich selbst unter Zugzwang gesetzt. Sollten etwaige Verhandlungen mit den USA und der Nato scheitern, steigt deshalb die Gefahr eines erneuten Angriffs auf die Ukraine. Ob und wann dies passieren könnte, bleibt jedoch unklar.
Die Kosten einer Invasion wären jetzt schon hoch. Die westlichen Verbündeten und die Ukraine müssen sich deshalb auf alle Eventualitäten vorbereiten und gleichzeitig einen kühlen Kopf bewahren. Die Vertragsentwürfe sind ein Versuch, die Nato zu spalten. Washington und die europäischen Verbündeten sollten daher mit internen Konsultationen reagieren, bevor sie Gespräche mit Moskau aufnehmen, zum Beispiel im NATO-Russland-Rat oder im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Sie sollten nur Vorschläge verhandeln, die das Bündnis sowie die Souveränität der post-sowjetischen Partnerstaaten nicht in Frage stellen. Die Entspannung der Situation entlang der russisch-ukrainischen Grenze sollte zur Bedingung für Verhandlungen gemacht werden. Berlin und Paris sollten in Absprache mit Washington und Kyjiw* eine neue Initiative im Normandie-Format starten und Moskau gegenüber europäische Verhandlungsautonomie demonstrieren. Und die EU muss jede militärische Eskalation mit einem deutlich sichtbaren Preisschild versehen. Die neue Bundesregierung sollte deshalb schnell zu einer gemeinsamen Position im Hinblick auf mögliche Sanktionen finden, denn die Lage bleibt ernst.
*Im Text wird die lateinische Transkription der ukrainischen Schreibweise genutzt. Gängig sind zudem folgende Schreibweisen: Donbass und Kiew.
Russia has confronted the EU and the US with the threat of war in Europe, demanding legitimization of its spheres of influence. The way they respond to this challenge will affect how the West is perceived in other regions, including by China, says Dumitru Minzarari.
Tausende Migranten sitzen im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen fest. Und an der Grenze zur Ukraine lässt Russland Truppen aufmarschieren. Wie diese brisanten Konflikte in der Region miteinander verknüpft sind, darüber spricht Dominik Schottner mit Sabine Fischer, Astrid Sahm und André Härtel.
Bereits im März hatte Russland Truppen nahe der Ukraine zusammengezogen. Die dort nun wiederholten Militäraktivitäten sind mehr als nur eine Drohung. Der Westen sollte die Möglichkeit einer weiteren militärischen Intervention Russlands ernst nehmen, meint André Härtel.
Beitrag zu einer Sammelstudie 2021/S 15, 30.09.2021, 134 Seiten, S. 45–48
Eine strategische Einschätzung
doi:10.18449/2021A54
Russland setzt viel daran, den Einfluss in seiner Nachbarschaft auszubauen. Der EU ihrerseits gelingt es nicht, Russland in seine Grenzen zu weisen. Dominik Schottner diskutiert mit Ronja Kempin und Susan Stewart über die Frage, mit welchen zum Teil noch ungenutzten Instrumenten die EU Russland wirksam rote Linien aufzeigen könnte.