Der noch amtierende US-Präsident will Truppen aus Afghanistan abziehen – und die übrigen Nato-Länder müssen entscheiden, ob sie im Land bleiben oder es verlassen. Doch egal, was die Allianz beschließt: Ein weiteres internationales Engagement ist notwendig, meinen Markus Kaim, Florian Schöne und Dominic Vogel.
Wenige Wochen vor dem Ende seiner Amtszeit will US-Präsident Donald Trump Soldaten aus Afghanistan zurückholen. Seine Ankündigung, die Truppen bereits bis Mitte Januar auf 2500 Soldaten zu verkleinern, hat die Nato in Aufruhr versetzt. Denn zum einen hängen die Verbündeten am Hindukusch von amerikanischer Unterstützung ab, zum anderen hat ein überstürzter Rückzug – so schätzt es auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ein – Signalwirkung für die laufenden Friedensverhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban.
Die prinzipielle Dynamik des Afghanistan-Engagements der Allianz konnte auch das Treffen der Nato-Außenminister Anfang Dezember kaum verändern. Zwar betonten die Bündnispartner ihre Beteiligung an der Ausbildungsmission und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte in ihrem Kampf gegen die Aufständischen. Stoltenberg machte bei der Gelegenheit aber deutlich, dass die Bündnispartner im nächsten Jahr vor einer Entscheidung ständen: ob sie in Afghanistan bleiben und riskieren, dass die Kämpfe fortgesetzt werden, oder ob sie das Land verlassen und riskieren, dass es wieder zu einem Rückzugs- und Rekrutierungsort für islamistische Terroristen wird. Damit trug er dem unübersehbaren Momentum in Richtung eines endgültigen Truppenabzugs vom Hindukusch Rechnung. Zugleich wies er die USA auf ihre Schlüsselstellung für den Zeitplan und die Modalitäten des Einsatzes hin.
Die skizzierte Entscheidung wollen die NATO-Verteidigungsminister im Februar treffen. Sie müssen dabei berücksichtigen, dass die Regierung Trump den Aufständischen bereits einen vollständigen Truppenabzug zum Ende April in Aussicht gestellt hat. Zwar hängt dies von den Verhandlungen in Doha ab und der ab dem 20. Januar amtierende Präsident Joe Biden ist an diese Zusage nicht gebunden, aber eine substantielle Aufstockung der US-Truppen ist angesichts der in den USA weit verbreiteten Afghanistan-Müdigkeit unrealistisch. Damit ist wahrscheinlich, dass der Nato-Einsatz im ersten Halbjahr 2021 beendet wird.
Deutschland ist nun seit zwei Jahrzehnten militärisch in Afghanistan aktiv. Der Einsatz hat die Bundeswehr nachhaltig geprägt: Er steht heute sinnbildlich für das veränderte Aufgabenspektrum der Streitkräfte mit großformatigen Stabilisierungseinsätzen. Auch wenn viele Berliner Entscheidungsträger darüber erleichtert sein werden, dass der Einsatz endet, bleibt die dortige Sicherheitslage für Deutschland bedeutend. Drei Gründe sprechen für ein weiteres sicherheitspolitisches Engagement am Hindukusch:
Erstens der Terrorismus: Der afghanische Zweig des IS, der »Islamische Staat Khorasan«, ist an den Friedensverhandlungen nicht beteiligt und reklamiert zahlreiche Attentate für sich. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen befinden sich etwa 2200 IS-Kämpfer in Afghanistan. Dann ist da, zweitens, noch die Geopolitik: Als Nachbar verfolgt China eine Reihe sicherheitspolitischer Interessen in Afghanistan und betrachtet das Land als Austragungsort geopolitischer Rivalitäten mit dem Westen. Drittens verursacht die Sicherheitslage im Land Fluchtbewegungen. Weltweit sind rund 2,7 Millionen afghanische Flüchtlinge registriert. Afghanistan stellt im Jahr 2020 bislang die drittgrößte Zahl von Asylbewerbern in Deutschland.
Kurzfristig muss nun erst einmal der sichere Abzug der Bundeswehr geplant und eingeleitet werden. Es wird hier auf eine enge Abstimmung mit der Nato und der US-Armee ankommen, auf deren Fähigkeiten die deutschen Streitkräfte angewiesen sind. Der Deutsche Bundestag sollte für diesen letzten Akt des deutschen Einsatzes am Hindukusch ein neues Mandat beschließen. Das aktuelle läuft Ende März ab und wird den Besonderheiten des Abzuges nicht gerecht. Die Verantwortung für die Sicherheit des Landes wird dennoch mittel- bis langfristig zentrale Aufgabe deutscher Außenpolitik bleiben – selbst ohne die Nato-Mission.
Mittelfristig könnte Afghanistan Eckpfeiler einer neuen Sicherheitsarchitektur in der Region werden: Russland, Iran, Pakistan, Indien und China bemühen sich um Einfluss im Land. Dabei zeigen sie kein großes Interesse an »Nation Building«, sondern suchen pragmatische Lösungen zur Sicherung von Transitrouten für Energieträger und Handelsgüter sowie im Kampf gegen organisierte Kriminalität und länderübergreifenden Terrorismus. Es liegt auch im Interesse aller Regionalmächte, den Einfluss des IS einzudämmen. Eine relativ stabile Sicherheitslage würde zudem die Flüchtlingszahlen in der Region reduzieren.
Vor diesem Hintergrund wäre es ein Fehler westlicher Politik, diesen geopolitisch bedeutenden und daher umstrittenen Raum anderen Akteuren zu überlassen. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass diese Mächte ihre Rivalitäten zum Nachteil Afghanistans in dessen Gebiet verlegen. Zudem steht für keinen dieser Staaten der Einsatz für Menschenrechte, Gleichberechtigung oder Rechtsstaatlichkeit im Mittelpunkt seiner Regionalpolitik – Anliegen, die westlicher Afghanistan-Politik immer wichtig gewesen sind. Die USA, Nato, EU und Deutschland haben ein Interesse an der politischen Stabilität des Landes – und daran, die in den vergangenen knapp zwanzig Jahren gemachten Fortschritte zu erhalten. Ein Abzug ohne eine sicherheitspolitische Bindung Kabuls an den »Westen« wäre eine vergebene Chance. Dass Afghanistan jüngst ein offizielles Partnerland der Nato geworden ist, weist in die richtige Richtung. Es sollte vor allem darum gehen, die erzielten militärischen Fortschritte weiter zu begleiten und beratend zur Verfügung zu stehen. Eine begrenzte Nato-Präsenz in Form von Beraterteams für die afghanische Regierung und die militärische Führung wäre ein deutliches Zeichen des kontinuierlichen Engagements.
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