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Russland nach den Wahlen

in: PIN - Politik im Netz (www.politik-im-netz.com)

VIII. Parteiensystem

In Russland kann noch nicht von einem Parteiensystem im westlichen Sinn gesprochen werden. Die einzige Partei im deutschen Verständnis, wenn auf die Organisation und die regionale Verankerung und nicht auf die politischen Inhalte geschaut wird, ist die KPRF. Ihr Kontrahent ER ist die von der Präsidialadministration ausgedachte neue "Partei der Macht" von Karrieristen und Opportunisten ohne echte politische Überzeugungen. Es müsste ein Wunder geschehen, wenn ER - anders als die Vorgängerinnen - bis zur nächsten Staatsdumawahl als politische Kraft überleben würde. Dieses Wunder bestünde in der Umwandlung von "Einiges Russland" in eine wirkliche Partei, wozu große politische, programmatische und personelle Veränderungen erforderlich wären.

Dass es in Russland keine wirkliche, politisch gewachsene und von einem ansehnlichen Teil der Bevölkerung getragene politische Gegenkraft zur KPRF gibt, liegt zum einen am bisherigen Parteienverständnis unter Jelzin. "Partei" wurde als etwas nicht Seriöses angesehen, deshalb wollte Jelzin immer über den Parteien stehen und ein unpolitisches Kabinett von Technokraten anführen. In die inzwischen mehr als zehn Jahre geltende neue Verfassung installierte Jelzin einen starken Präsidenten mit exekutiven Vollmachten, weil wegen des fehlenden Parteiensystems keine von Parlamentsfraktionen getragene Regierung gebildet werden konnte. Doch gerade diese Konstruktion hat die Herausbildung eines echten Parteiensystems nicht begünstigt. Außerdem hatten und haben noch die Menschen nach 70 Jahren KPdSU-Herrschaft die Nase von "Partei" voll. Und schließlich beanspruchte der tägliche Kampf ums physische Überleben ihre ganze Kraft.

Nach dem parteisoziologischen Cleavages-Modell von Seymour M. Lipset und Stein Rokkan (Lipset/Rokkan 1997) entstehen in einer Gesellschaft politische Parteien an institutionalisierten und in der Sozialstruktur verankerten politisch wirksamen Konfliktlinien. Lipset und Rokkan fanden bei der Analyse des westeuropäischen Demokratisierungsprozesses folgende vier zentrale Konfliktfelder Zentrum versus Peripherie und Staat versus Kirche im Zuge der Herausbildung der modernen westeuropäischen Staaten sowie als Folge der industriellen Revolution ländlich-agrarische versus städtisch-handwerkliche Interessen und Kapital versus Arbeit. Zur Herausbildung von Cleavages, also dauerhaft institutionalisierter Konfliktlinien, kommt es, "wenn politische Eliten entsprechende gesellschaftliche oder soziale Konflikte aufgreifen und in Abhängigkeit von den Rahmenbedingungen des politischen Systems parteipolitisch umsetzen" (Eith/Mielke 2001: 12).

In Russland bestand ab 1989 die Hauptkonfliktlinie zwischen den Kommunisten und den Antikommunisten. Dieser Konflikt hat inzwischen an politischer Bedeutung verloren. Interessenvertreter dieser Cleavage ist auf der einen Seite die KPRF. Aber es fehlt heute das typische Gegenstück zu ihr, weil alle übrigen Parlamentsparteien den Kommunismus ablehnen. Die KPRF deckt zwar noch ein nicht unbedeutendes Wählerinteresse ab, aber die Ablehnung des Kommunismus steht nicht mehr im Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Die KPRF wird langsam an politischer Bedeutung verlieren, wenn sie an dieser Konfliktlinie stehen bleibt.

Die wichtigste Interessenkonfliktlinie in Russland ist zur Zeit der Gegensatz Pro-Putin versus Anti-Putin, parteipolitisch ausgedrückt in ER versus KPRF. Nach dem Ausscheiden Putins aus der Politik im Jahr 2008 wird diese Konfliktlinie keine Bedeutung mehr haben mit der Folge, dass die diese Interessenkonfliktlinie repräsentierenden Parteien ebenfalls an politischem Gewicht verlieren werden, wenn sie keine anderen sozialen und gesellschaftlichen Konflikte aufgreifen.

Nach dem Ausscheiden Putins aus der Politik können sich neue Interessenkonfliktlinien herausbilden bzw. bereits vorhandene Konfliktlinien, die bisher überdeckt wurden, deutlicher hervortreten. Solche neuen Konfliktlinien könnten sein:

Diejenigen Parteien, die diese Konfliktlinien aufgreifen, können sich mittelfristig ein Wählerpotential sichern. Aber gegenwärtig sind noch keine Parteien in Sicht, die diese Konfliktlinien überzeugend, wirkungsvoll und nachhaltig vertreten könnten.