Ökologische Transformation, soziale Kohäsion und fiskalische Nachhaltigkeit sollten die deutsche G7-Präsidentschaft prägen. Stattdessen dominieren geopolitische Aggression, demokratische Regression und geoökonomische Entflechtung den G7-Gipfel auf Schloss Elmau. Wir beleuchten die Positionen wichtiger Länder außerhalb der EU und zentrale Sachthemen. Die Koordination dieses „360 Grad“ hat Lars Brozus übernommen.
Die G7 muss vier Herausforderungen gleichzeitig bewältigen. Zunächst geht es darum, die Geschlossenheit als Gruppe zu wahren. Bislang ist die Haltung der G7, die Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg zu unterstützen, klar und stabil – trotz aller Versuche Moskaus, Differenzen zu schüren. Dieser Zusammenhalt ist jedoch nicht selbstverständlich. Im November finden in den USA Kongresswahlen statt. Unabhängig vom Ergebnis dürften danach für die amerikanische Politik innere Angelegenheiten in den Fokus rücken, weil der Präsidentschaftswahlkampf 2024 naht. Darunter könnte die internationale Führungsrolle leiden, die Washington nach der Niederlage Trumps 2020 wieder eingenommen hat.
Zweitens geht es um die Stärkung der Kohäsion innerhalb der Mitgliedstaaten. Die politische Durchhaltefähigkeit der G7-Regierungen – mit Blick auf die Position zur Ukraine, aber auch die Bewältigung der enormen Transformationsherausforderungen wie Klimawandel, Nachhaltigkeit und Energiewende – benötigt gesellschaftlichen Rückhalt. Die Wahlerfolge, die nationalchauvinistische Parteien während der letzten Jahre in nahezu allen G7-Staaten verzeichnen konnten, sind nicht zuletzt auf eine wachsende soziale Kluft zurückzuführen. Daher muss die G7 den Kurs fortsetzen, den sie 2021 unter britischer Präsidentschaft eingeschlagen hat. Ziel ist, die Innen- und die Wirtschaftspolitik konsequenter auf soziale Inklusion hin auszurichten, damit innerer Zusammenhalt und politische Stabilität gefördert werden.
Drittens sollte die G7 für mehr internationale Unterstützung der Ukraine werben. Bislang sanktioniert weniger als ein Viertel der UN-Mitglieder die russische Aggression, zumeist sind dies etablierte Industrienationen. Dabei ist der Globale Süden den Folgen des Konflikts, etwa Ressourcenverknappung und Verarmung, viel unmittelbarer ausgesetzt. Mit Argentinien, Indien, Senegal und Südafrika sind wichtige Regionalmächte als Gastländer nach Schloss Elmau eingeladen, mit Indonesien zudem die G20-Präsidentschaft. Kiews Gipfelbeteiligung bietet eine Chance, die Solidarisierung mit dem Aggressionsopfer zu stärken – insbesondere dann, wenn Gastländer und Ukraine auch über Parlamente sowie organisierte Wirtschaft und Gesellschaft in den G7-Prozess einbezogen werden.
Viertens muss die G7 bei wichtigen Sachthemen Transformationsmotor sein. Das reicht von der Klima-, Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitspolitik über Ernährungs- und Energiesicherheit bis zur globalen Mindestbesteuerung von Unternehmen. Angesichts multipler Krisen wird gezielte Vorsorge dringlicher, die wiederum akkurater Krisenfrüherkennung bedarf. Ausgehend von den positiven Erfahrungen, die mit vorausschauender humanitärer Hilfe gemacht wurden, sollte das Potential konkreter Ereignisprognosen (Forecasts) auch für andere Politikfelder systematisch erschlossen werden. Eine gemeinsame Vorhersageplattform der G7-Staaten könnte sich am britischen Vorbild Cosmic Bazaar orientieren.
„Never waste a good crisis“ hieß es zuletzt öfters – aber wie kann der G7 dies in den aktuellen Krisen gelingen? Zunächst dominierte die Covid-19-Pandemie die Debatte darüber, was getan werden sollte, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) trotzdem zu erreichen. Hier ist es gelungen, ein Konzept zu entwickeln, das Pandemiebekämpfung und nachhaltige Entwicklung sinnvoll verbindet: „Build back better“. Dies sollte die G7, die angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine vor allem über die Stabilisierung der internationalen (sicherheits-)politischen Ordnung und die Erhöhung der wirtschaftlichen Resilienz diskutiert, nun erneut anstreben. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung etwa fordert zur Krisenbewältigung einen „Transformationsturbo“, denn der Ausbau erneuerbarer Energien und einer ressourcenschonenden Kreislaufwirtschaft habe doch positive Effekte auf diese Anliegen.
Die Auswirkungen des Krieges – nicht nur auf die internationale Friedensordnung und die Energieversorgung, sondern auch auf die Ernährungssicherheit und weitere Ziele nachhaltiger Entwicklung – werden immer deutlicher. Die Pandemie und der Krieg zeigen auf, wie eng Probleme miteinander verknüpft sind. Um multiple Krisen simultan zu bearbeiten, wären systemische Ansätze hilfreich (zum Beispiel One Health; Green Economy; beyond GDP), die Synergien ausnutzen und Zielkonflikte angehen, samt Maßnahmenpaketen und Investitionen.
Die G7-Staaten sind am ehesten in der Lage, derart anspruchsvolle Herangehensweisen zur Bewältigung multipler Krisen bis zur politischen Reife zu entwickeln. Sie sollten die Realisierung dieser Ansätze vorantreiben. Integrierte Maßnahmenpakete versprechen schnellere und effizientere Erfolge, sind jedoch politisch schwieriger zu vermitteln und umzusetzen. Gesellschaftliche und politische Trägheit und Vorbehalte müssen überwunden werden. Einerseits wird die eingeschränkte Fähigkeit der politischen Systeme immer deutlicher, das Wohlergehen ihrer Bürgerinnen und Bürger auf den herkömmlichen Pfaden langfristig zu sichern. Andererseits wird erst dann nicht mehr auf alte Rezepte (beispielsweise Kohle oder Atom) zurückgegriffen werden, wenn überzeugende neue vorliegen, die die Notwendigkeit einer grundlegenden Transformation mit der Berücksichtigung von gesellschaftlichen Bedürfnissen und auch etablierten Interessen verbinden (wie etwa beim sozial abgefederten CO2-Preis).
Entsprechende Signale sind nicht nur für die G7-Länder selbst wichtig, sondern auch für multilaterale Prozesse und plurilaterale Ansätze, wie den Klimaclub oder „Just Energy transition“-Partnerschaften. Derartige Clublösungen funktionieren am besten, wenn sie ihren Mitglieder Vorteile bieten können: Erfolgversprechende Maßnahmenpakete, inklusive finanzieller oder technologischer Unterstützung, wären ein attraktiver Anreiz, Mitglied eines Clubs zu werden und neue Pfade einzuschlagen.
Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine, einem dominanten Agrarakteur, schnellten die Agrarpreise weltweit in die Höhe, das Thema Ernährungssicherheit erlebte einen enormen Bedeutungszuwachs. Schon im März 2022 befasste sich ein G7-Agrarsondergipfel mit der Materie, die Außenminister und Regierungschefs der G7 warnten vor Ernährungskrisen. Dabei enthielt das ursprüngliche Programm der deutschen G7-Präsidentschaft nur vereinzelt Agrarbezüge, etwa zu nachhaltigen Lieferketten und zu Klimaschutz in der Landwirtschaft. Neben den Folgen des Kriegs standen diese Themen auch auf der Agenda des Agrargipfels im Mai 2022.
Russlands Aggression verdeutlicht schlagartig, dass zahlreiche Faktoren ineinandergreifen müssen, um eine sichere Versorgung mit Nahrungsmitteln zu gewährleisten. Im G7-Prozess werden denn auch die Schwerpunkte Ernährungssicherheit, nachhaltige Agrarlieferketten und offene Märkte von mehreren G7-Fachsträngen – Landwirtschaft, Entwicklung, Handel – bearbeitet.
Einige Beschlüsse des Agrarstrangs greifen auf bestehende Kriseninformationssysteme zurück. So beauftragte die G7 die OECD, die wachsende Zahl unternehmerischer Nachhaltigkeitspflichten im Agrarsektor zu vergleichen, die insbesondere etwaige Risiken betreffen. Das Agricultural Market Information System (AMIS) wird gestärkt und soll mehr Informationen zu als kritisch geltenden Düngerrohstoffen erfassen. AMIS, 2011 von der G20 in der letzten globalen Agrarpreiskrise eingeführt, stellt Informationen zur Agrarmarktlage zur Verfügung. Dadurch sollen Fehlwahrnehmungen der Versorgungssituation vermieden und mittelbar offener Handel gestärkt werden.
Die Agrar- und Handelsminister der G7 sollten sich, um offenen Handel zu fördern, nicht auf bloße Appelle beschränken, von Exportrestriktionen abzusehen. Vielmehr sollten sie darauf drängen, dass geltende WTO-Kriterien stärker herangezogen werden, um riskante Restriktionen nur unter jenen Umständen für gerechtfertigt zu erklären, die die WTO definiert hat. Sinnvoll wäre zudem eine umfassende Handels-Logistikstrategie, auch unabhängig vom Ukraine-Krieg. In ihrem Rahmen könnten Informationen zu kritischen Verkehrsknotenpunkten, Alternativrouten, dabei anfallenden Kosten und zu den handelspolitischen Erleichterungen erfasst werden, die bei Nutzung dieser Routen erforderlich wären; diese Informationen wären in das AMIS einzubeziehen. So ließen sich perspektivisch Risiken in Gestalt von Transportengpässe antizipieren, die aus unterschiedlichen Gründen – etwa durch Naturereignisse wie Überschwemmungen – entstehen können.
Schließlich könnte eine Agrarkraftstoff-Partnerschaft zwischen G7-Staaten als Pilotprojekt für einen Krisenmechanismus dienen. Dieser Mechanismus sollte bewirken, dass zumindest in Hochpreisphasen konzertiert darauf verzichtet wird, Agrarpflanzen für die Energiegewinnung statt für die Nahrungsmittelversorgung zu nutzen. In der EU treffen die Mitgliedstaaten, meist die Umweltressorts, entsprechende Regelungen. Daher wäre ein Anstoß aus dem G7-Umweltstrang sinnvoll.
Indien hat zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eine neutrale Position eingenommen. In den Hauptstädten der G7 sorgte dies für Kritik. Die Reisediplomatie der letzten Wochen jedoch, mit der Russland, China, die USA und die EU gleichermaßen um das Land buhlten, macht Neu-Delhi bislang eher zu einem Gewinner des Konflikts. Am G7-Gipfel nimmt Indien als Gast teil. Dabei wird seine Außenpolitik durch den Krieg vor ein Dilemma gestellt. Einerseits ist Indien militärisch von Russland abhängig, das zudem als sein wichtigster Verbündeter im UN-Sicherheitsrat gilt. Daher wird sich Neu-Delhi dem Sanktionsregime der G7 gegen Moskau kaum anschließen. Zudem dominiert in der indischen Medienöffentlichkeit eher eine pro-russische Haltung. Schließlich gibt es eine Reihe internationaler Ordnungsfragen, etwa im Bereich der Digitalisierung, bei denen Indiens Vorstellungen mit denen Russlands und Chinas übereinstimmen. Andererseits ist Indien auf enge Beziehungen zu den USA und der EU angewiesen, um seine wirtschaftliche und technologische Modernisierung voranbringen zu können.
Perspektivisch birgt der Ukraine-Krieg somit eine große Herausforderung für Neu-Delhis strategische Autonomie. Erstens drohen unabsehbare Folgen für die indische Zusammenarbeit mit Moskau, sollte sich ein durch Sanktionen geschwächtes Russland stärker China zuwenden. Zweitens könnten Sekundärsanktionen von G7 und EU gegen Russland zunehmend auch Indien treffen und dessen Modernisierungsagenda gefährden.
Die Avancen von USA und EU unterstreichen, dass Indien eine wichtige Rolle in ihren geostrategischen Überlegungen zu Russland und der Systemrivalität mit China spielt. Doch in ihren Ordnungsvorstellungen liegen die westlichen Industriestaaten und Indien weit auseinander. Zwar unterstützte das Land 2021 die Open-Societies-Erklärung der G7, doch entfernt sich die indische Demokratie zunehmend von den dort beschworenen Werten. Dies zeigen Ausschreitungen gegen religiöse Minderheiten, Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit sowie Repression gegenüber der Zivilgesellschaft.
Indien bleibt für die G7 ein unabdingbarer Partner mit Blick auf China, aber auch ein unsicherer Kantonist. Das gemeinsame Interesse an der Einhegung Beijings birgt die Gefahr, dass die Erosion der Demokratie in Indien von westlicher Seite stillschweigend hingenommen wird. Eine verstärkte ökonomische und politische Zusammenarbeit mit Neu-Delhi garantiert auch keineswegs, dass es dort zu einem innen- oder außenpolitischen Kurswechsel kommt, wie die Erfahrungen mit Moskau und Beijing nahelegen. Fraglich ist, wie belastbar eine strategische Partnerschaft bei divergierenden Ordnungsvorstellungen und volatilen geopolitischen Interessen wirklich sein kann.
In südafrikanischen Medien wurde in den vergangenen Wochen darüber spekuliert, ob die neutrale Haltung Südafrikas gegenüber dem russischen Angriff auf die Ukraine die Beziehungen zu westlichen Staaten belasten könnte. Die Einladung der Bundesregierung an Südafrika, als Gastland am G7-Gipfel teilzunehmen, ist daher ein wichtiges Signal an die südafrikanische Regierung, dass Deutschland an der Partnerschaft festhält. Die Reise von Bundeskanzler Scholz nach Südafrika im Mai hat dies unterstrichen – auch wenn Pretoria und Berlin in der Einschätzung des Konflikts nach wie vor weit auseinanderliegen. Der Krieg wird beim Gipfel eine zentrale Rolle spielen, denn auch der ukrainische Präsident Selenskyi hat die Einladung zur Teilnahme angenommen. In Elmau dürfte es somit zu einem weiteren Austausch kommen.
Die Weigerung Pretorias, die russische Invasion klar zu verurteilen, hat vielfältige Ursachen. Sie sollte aber nicht als Absage an demokratische Normen und den Multilateralismus verstanden werden oder gar die Unterstützung der Open-Societies-Erklärung in Frage stellen, das Südafrika gemeinsam mit den G7-Partnern beim letztjährigen Gipfel in Cornwall unterzeichnet hat. Zwar hat die südafrikanische Demokratie durch State Capture und Korruption in der Regierungspartei ANC Rückschläge erlitten; dennoch gelten die demokratischen Institutionen im weltweiten Vergleich als funktionsfähig, die demokratische Zivilgesellschaft als resilient.
In vielen afrikanischen Ländern herrscht die berechtigte Sorge, dass der Angriff auf die Ukraine nicht nur politische Aufmerksamkeit, sondern auch finanzielle Ressourcen abzieht. Die südafrikanische Regierung, die bei der Pandemiebewältigung stets auf Kooperation gesetzt und sich gemeinsam mit Indien für die Aufhebung von Patenten für Covid-Impfstoffe stark gemacht hat, wird diese Gerechtigkeitsfragen sicherlich in den G7-Gipfel einbringen. Zudem dürfte sie die Herausforderungen vieler Staaten aufgrund der sozioökonomischen Folgen der Pandemie thematisieren.
Nicht zuletzt ist das Bekenntnis der G7 zum beschleunigten Ausstieg aus der Kohle in Südafrika ein gesellschaftspolitisch intensiv diskutiertes Thema. Als erstes afrikanisches Land hat Südafrika bei der COP26 gemeinsam mit Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den USA und der EU die „Just Energy Transition Partnership“ geschlossen. Die multilateralen Geber unterstützen die Dekarbonisierung der südafrikanischen Wirtschaft mit 8,5 Milliarden US-Dollar. Die Einladung zum Gipfel bietet die Möglichkeit, über die Folgen von Putins Krieg für die weltweite Energie- und Ernährungssicherheit ebenso zu diskutieren wie über die Zukunft internationaler Kooperation. Als G20-Mitglied hat Südafrika hier eine wichtige Stimme.
Die USA haben in ihrer Reaktion auf den russischen Angriff der Ukraine dem Anspruch der Regierung Präsident Bidens entsprochen, wieder eine internationale Führungsrolle zu übernehmen. Dies sollte nun auch einer G7 zugutekommen, deren bisheriger Modus Operandi angesichts des gegenwärtigen Krisensyndroms der Weltpolitik als dringend überholungsbedürftig erscheint.
Nur die Hälfte der G20-Staaten unterstützt Sanktionen gegen Russland, die Achse Moskau–Beijing verfestigt sich als Gegengewicht zum Westen und der Führungsanspruch der USA stößt jenseits ihrer engen Verbündeten in Europa und Asien an Grenzen. Internationale Zusammenarbeit im Rahmen einer leistungsfähigen Weltordnung, die westlichen Wertevorstellungen entspricht, wird damit schwieriger. Sie bleibt angesichts der globalen Herausforderungen für das Überleben der Menschheit und die Zukunft der Demokratie aber unerlässlich. Unter Führung der USA sollten sich die G7 deshalb in dreierlei Hinsicht neu aufstellen.
Erweiterung: Die liberale, demokratische und wohlfahrtsstaatliche Orientierung der G7 ist nach wie vor eine entscheidende Stärke, die sie von autoritären Gegenspielern abhebt. Daher sollte die G7 ihre Mitgliedschaft um andere liberale Demokratien wie Südkorea, Australien und Neuseeland sowie – unter Wahrung des Ein-China-Prinzips – Taiwan zur G10+1 erweitern und sich für weitere konsolidierte Demokratien öffnen.
Vertiefung: Die Mitgliedstaaten sollten sich detailliert und verbindlich zu den normativen Grundlagen liberaler Demokratien bekennen und ihre Praktiken nach innen wie nach außen wechselseitig an diesen Grundsätzen messen. So entkräften sie die Kritik daran, dass die bestehenden liberalen Demokratien ihren eigenen Ansprüchen nicht genügten, die wiederum autoritäre Tendenzen begünstigt. Zwischen Willkür und Repression unter autoritären Bedingungen und der rechtsstaatlichen Offenheit von Staat und Gesellschaft in der G7 besteht ein fundamentaler Unterschied. Die selbstkritische Beschäftigung mit den eigenen Defiziten stärkt die gemeinsame Position im Ringen um die Zukunft der internationalen Ordnung.
Zugleich ist es nötig, bei Sachthemen der internationalen Zusammenarbeit mehr Verbindlichkeit in der Umsetzung zu erreichen. Dafür ist eine bessere innenpolitische Verankerung der Kooperation vonnöten. Internationale Vereinbarungen sind nur aussichtsreich, wenn sie innenpolitisch von breiten, stabilen Koalitionen getragen werden. Gerade in den USA ist diese Verankerung jedoch brüchig; um tragfähige Absprachen der erforderlichen Reichweite und Qualität zu ermöglichen, könnten sich die Regierungen der G7 gegenseitig unterstützen – zum Beispiel durch Kompromisspakete mit wechselseitigen Zugeständnissen. Die Förderung offener Gesellschaften und sozialer Kohäsion, wie beim G7-Gipfel 2021 vereinbart, sollte daher dauerhaft Priorität genießen.
Mit der Zeitenwende im Verhältnis zu Russland ist die deutsche und europäische Aufmerksamkeit für das vielfältige Kooperationspotential Kanadas gestiegen. In den ersten Monaten des Berliner G7-Vorsitzes wurden gleich mehrere bilaterale Initiativen zwischen Deutschland und Kanada zum Energie- und Technologietransfer vereinbart. Gleichzeitig drängt die kanadische Regierung auf eine baldige deutsche Ratifizierung des Umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens (CETA), das Kanada und EU verbindet.
Die G7 hat für Ottawa ein Alleinstellungsmerkmal. Kanada kann als Nato-Partner über die Gruppe nach Europa hineinwirken, dabei auch Großbritannien erfassen und sich selbst im Verbund mit Europa und Japan gegen eine mögliche Kehrtwende der US-Politik schützen. In der G7 findet die Trudeau-Regierung europäische Verbündete, um ihre außenpolitischen Ziele zu verfolgen.
Dazu gehört erstens die Unterstützung Kiews, zumal mehr als vier Prozent der kanadischen Bevölkerung ukrainischer Herkunft sind. Sanktionen gegen Russland, Waffenlieferungen an die Ukraine und weitere Sicherheitsfragen werden in der G7 abgestimmt. Für Kanada lohnt sich das multilaterale Engagement, denn die übrigen Mitglieder der Gruppe wollen mit Ottawa verstärkt neue Rüstungs- und Militärkooperationen aufbauen.
Zweitens möchte Kanada von künftigen EU-Investitionen in die Energieunabhängigkeit von Russland profitieren. Es ist der weltweit viertgrößte Ölproduzent, verfügt über reiche Vorkommen an Gas und weiteren Rohstoffen und produziert Wasserstoff für Europas nachhaltige Energietransition.
Drittens hat Kanada bereits unter seinem G7-Vorsitz 2018 einen Krisenreaktionsmechanismus zum Schutz von Demokratien eingeführt. Angetrieben durch Washington und Ottawa konnte die Gruppe bis April dieses Jahres 60 Staaten für eine Erklärung zur Zukunft des Internets gewinnen. Die G7 verabschiedete in diesem Zusammenhang eine Erklärung über Cyberresilienz digitaler Infrastrukturen angesichts des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Dabei geht es um große transatlantische Aufgaben wie die Vereinbarkeit von Digitalisierung und Nachhaltigkeit, den grenzüberschreitenden Datentransfer und die Attribution von Cyber-Angriffen. Deutschland und Kanada wollen eine Arbeitsgruppe einrichten, die das Vorgehen von Hackergruppen analysieren und auswerten soll.
Europa wird die G7 künftig stärker nutzen müssen, um sich von Russland ebenso wie von den USA unabhängiger zu machen. Das korrespondiert mit den Interessen Kanadas und erklärt die wachsende Bedeutung der G7 für Ottawas Europa-Politik, für die neben Brüssel vor allem die bilateralen Partnerschaften mit Deutschland und Frankreich entscheidend sind.
Grundsätzlich sind die G7-Präsidentschaften des Vereinigten Königreichs (2021) und Deutschlands (2022) von hoher Kontinuität gekennzeichnet. Die beiden G7-Teams stimmen sich intensiv untereinander ab, so dass zentrale Verhandlungsstränge konsequent weiterverfolgt werden können. Allerdings mussten wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine weitere Prioritäten gesetzt werden. Aus britischer Sicht sollten vier Ziele im diesjährigen G7-Prozess im Vordergrund stehen:
Das erste Ziel ist die effektive Koordinierung der Sanktionen gegen Russland und des wirtschaftlichen Beistands für die Ukraine. London hat Kiew schon vor Kriegsbeginn unterstützt, sowohl mit Waffenlieferungen als auch mit militärischer Ausbildung. Zudem macht sich die britische Regierung in der G7 für harte Sanktionen stark, ungeachtet der bedeutenden Rolle, die russisches Kapital für den Finanzplatz London spielt. Eine zweite Priorität sind koordinierte Reaktionen auf die Spillover-Effekte des Krieges, besonders bei der globalen Lebensmittel- und Energieversorgung.
Wesentlich für London ist, drittens, die fortgesetzte Mitwirkung der G7 bei der Ausgestaltung der internationalen Klimapolitik. 2021 hatte das Vereinigte Königreich gemeinsam mit Italien die Präsidentschaft der COP26-Klimaverhandlungen inne und verknüpfte die G7-Klimaagenda eng damit. Darüber hinaus will London den 2021 vereinbarten G7 Nature Compact vertiefen. Deutschlands Idee eines „Klimaklubs“ steht die britische Regierung offen gegenüber, sofern dieser inklusiv ausgestaltet wird. Die vierte Priorität ist die Koordinierung des Umgangs mit Disruptionen in globalen Lieferketten und der ökonomischen Herausforderung durch Autokratien, allen voran China und Russland. Hier will London auf dem „Cornwall Consensus“ von 2021 aufbauen und schlägt vor, die G7 zu einer „Art wirtschaftlicher Nato“ auszubauen.
Für das Vereinigte Königreich nach dem Brexit bilden die G7 neben der ständigen Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat ein wichtiges Forum, um seine Ziele als „Global Britain“ zu verfolgen. So kann die britische Regierung auf Augenhöhe mit den USA, den europäischen Partnern sowie Japan und Kanada über Sanktionen verhandeln. Auch während seiner Präsidentschaft 2021 hat London den neu gewonnenen Spielraum genutzt und viel stärker als zuvor in der G7 auf gemeinsame Erklärungen der Außenministerinnen und Außenminister hingearbeitet, etwa zu Syrien, China/Hongkong oder Belarus. Das wurde in dieser Form während der deutschen G7-Präsidentschaft aber nicht fortgeführt. Mit der Idee, die G7 dauerhaft um Partner wie Australien, Südkorea oder Indien zu einer D10 aus demokratischen Staaten zu erweitern, konnte sich London bisher nicht durchsetzen.
Als „wichtiger denn je“ beschrieb der japanische Premierminister Fumio Kishida die Rolle der G7 als „treibende Kraft der internationalen Gemeinschaft“, als er im April 2022 gemeinsam mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Tokio vor die Presse trat. Seit dem Gipfel in Cornwall 2021 hat die G7 ihre Bedeutung als Plattform für Meinungsaustausch und Solidarität zwischen führenden Wirtschaftsnationen auf Basis gemeinsamer liberaler Werte unter Beweis gestellt. Japan, das 2023 die G7-Präsidentschaft übernimmt, wird daher an Erfolge und Initiativen der vorangehenden zwei Jahre anschließen wollen, um das Gewicht der G7 in einer zunehmend unsicheren Welt zum Tragen zu bringen.
Schwerpunkte für seine G7-Präsidentschaft hat Japan noch nicht festgelegt. Nachdem die deutsche G7-Präsidentschaft stark vom akuten Handlungsbedarf rund um den Ukraine-Krieg geprägt ist, wird es im nächsten Jahr wohl Möglichkeit geben, den Blick zu weiten. Eine übergreifende Frage wird sicherlich lauten, wie multilaterale Kooperation und eine regelbasierte Ordnung in einer multipolaren Welt aufrechterhalten werden können und wie sich dabei der Umgang mit autoritären Regimen gestalten lässt. Darüber hinaus scheinen für Kishida zwei Themen wichtig:
Erstens möchte er angesichts des russischen Angriffskrieges und der Sorgen vor einem Einsatz von Atomwaffen ein Zeichen setzen, indem er als Austragungsort des Gipfels Hiroshima gewählt hat, den Ort, auf den die USA 1945 erstmals eine Atombombe abgeworfen haben. Bereits als Außenminister hatte Kishida 2016 seine G7-Amtskollegen dorthin geladen, um über nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung zu sprechen. Auch wenn sich Europa und Japan als Antwort auf die wachsenden Bedrohungen aus Russland, China und Nordkorea zu Rüstungsbemühungen genötigt sehen, verlieren die G7-Staaten nicht das Ziel von Abrüstung und Frieden aus den Augen – dieses Signal soll von Hiroshima 2023 ausgehen.
Zweitens wird Kishida vermutlich seine Vision eines „neuen Kapitalismus“ auf dem G7-Gipfel in Japan thematisieren. Ähnlich wie der „Cornwall Consensus“ der G7 von 2021 kritisiert Kishida den wirtschaftlichen Neoliberalismus der „vergangenen Jahre. Dieser habe steigende soziale Ungleichheit, kurzfristiges Investitionsdenken und mangelnde Rücksicht auf Nachhaltigkeit zur Folge. Statt jedoch einseitig die Rolle des Staates stärken zu wollen, zielt Kishida auf eine neue Partnerschaft zwischen Staat und Privatwirtschaft ab, die für eine nachhaltige Ökonomie und Gesellschaft zusammenwirken. Deshalb sind von Japan 2023 Impulse zur Fortentwicklung, Konkretisierung und Umsetzung des „Cornwall Consensus“ zu erwarten.
Zitiervorschlag 360 Grad gesamt:
Lars Brozus (Koord.), Die G7 in Kriegszeiten: Krisenbewältigung und Zukunftsgestaltung, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 20.06.2022 (360 Grad)
Zitiervorschlag einzelner 360 Grad-Beitrag:
Marianne Beisheim, „Krisenbewältigung mit nachhaltiger Entwicklung verbinden“, in: Lars Brozus (Koord.), Die G7 in Kriegszeiten: Krisenbewältigung und Zukunftsgestaltung, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 20.06.2022 (360 Grad)
Optionen und Prioritäten für die deutsche G7-Präsidentschaft
doi:10.18449/2022A33
Deutschland steht 2022 an der Spitze der G7. Wie funktioniert die Zusammenarbeit in diesem internationalen Staatenbündnis, welche Akzente kann Berlin setzen und wie sinnvoll sind solche Gipfelformate heute noch? Darüber diskutieren Lars Brozus und Hanns Maull mit Nana Brink.
Ideen für die deutsche Präsidentschaft
doi:10.18449/2021A83
Gestaltungsmöglichkeiten für den deutschen G7-Vorsitz
doi:10.18449/2021A71