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Deutsche Zentralasienpolitik nach der »Zeitenwende«

Herausforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten einer strategischen Partnerschaft

SWP-Aktuell 2024/A 30, 27.06.2024, 8 Pages

doi:10.18449/2024A30

Research Areas

Der russische Krieg gegen die Ukraine und die geopolitischen Verschiebungen auf dem eurasischen Kontinent haben Zentralasien wieder verstärkt in den Fokus Deutschlands und der EU gerückt. Die strategische Regionalpartnerschaft der Bun­desrepublik mit Zentralasien, die im vergangenen Herbst angekündigt wurde, bietet ein vielversprechendes Potential für Zusammenarbeit. Eine Vertiefung der sektoralen Kooperation ist jedoch mit Herausforderungen verbunden, die eine realistische Lage­bewertung für die einzelnen Arbeitsfelder erfordern. Genaue Kontextanalysen sind unabdingbar, will man Fehlperzeptionen und falsche Erwartungen vermeiden. Das deutsche Engagement sollte langfristig angelegt sein und vor allem darauf zielen, die Krisenfestigkeit der zentralasiatischen Länder zu stärken. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die Unterstützung der intraregionalen Kooperation, vor allem in den Bereichen Logistik, Strominfrastruktur und Wassermanagement.

Deutschland spielt seit 2007 eine treibende Rolle bei der konzeptionellen Ausgestaltung der Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien – einer Region, die für die EU-Außenbeziehungen bis dahin kaum rele­vant war. Unter deutscher Ratspräsidentschaft wurde in jenem Jahr die erste EU-Zentralasienstrategie aufgelegt. 2019 wurde dieses Dokument – auch auf deutsche Initiative hin – durch eine neue Strategie ersetzt. Durch den russischen Angriff auf die Ukraine und die globalen Verwerfungen, die dieser Krieg nach sich zieht, haben die Beziehungen zwischen Zentralasien und der EU an Bedeutung gewonnen – nicht nur für die Europäer, sondern auch für die Länder der Region. Letztere nehmen in Be­zug auf das Kriegsgeschehen eine distanziert-neutrale Position ein, sehen in Russ­lands Neo-Imperialismus aber auch eine latente Gefahr für ihre eigene Unabhängigkeit und bieten sich im Rahmen einer Poli­tik, die wie jene Deutschlands auf wirtschaftliche und politische Diversifizierung setzt, als Partner an.

Den neuen Stellenwert, den Zentralasien für Deutschland besitzt, verdeutlichte das 5+1-Gipfeltreffen mit Kasachstan, Usbeki­stan, Tadschikistan, Turkmenistan und Kir­gistan, das auf Einladung des Bundeskanzlers im September 2023 in Berlin stattfand. In einer Gemeinsamen Erklärung kam man überein, eine strategische Regionalpartnerschaft zu begründen. Dies wäre die erste stra­tegische Partnerschaft Deutschlands mit einer Großregion. Vier Handlungsfelder sol­len dabei die Schwerpunkte bilden:

  • Wirtschaft, Energie, natürliche Ressourcen

  • regionale Zusammenarbeit und Resilienz

  • Umwelt und Klima

  • zwischengesellschaftliche bzw. zwischen­menschliche Kontakte

Mit dieser Absichtserklärung signalisiert Deutschland sein besonderes Engagement in und mit Zentralasien. Untermauert wer­den soll dieses durch das für September 2024 in Aussicht gestellte Folgetreffen im 5‑plus-1-Format in Astana sowie durch bi­laterale Besuche des Bundeskanzlers in Usbe­kistan und Kasachstan, die dem Gipfel vorgeschaltet sind.

Das deutsche Engagement ist eingebettet in intensive Bemühungen, die Beziehungen auf EU-Ebene zu stärken. War es vor 2022 insbesondere die Kommission, die die Zen­tralasienpolitik vorantrieb, so spielen neu­erdings der Rat und die Mitgliedstaaten eine aktivere Rolle bei der Ausgestaltung der Be­ziehungen. Im Juni 2023 traf der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, in Kirgistan mit den zentralasiatischen Präsi­denten zusammen. Dabei wurde die Erstel­lung einer Roadmap für eine erweiterte Zusammenarbeit vereinbart, die im Oktober 2023 bei einem Treffen der 27 EU-Außen­minister mit ihren zentralasiatischen Coun­terparts in Brüssel verabschiedet wurde. Anfang 2024 forderte dann das Europäische Parlament ein Update der Zentralasienstrategie von 2019. Neben Deutschland sind auch andere EU-Mitgliedstaaten in Zentral­asien stärker aktiv geworden, vor allem Frankreich, Italien und Ungarn.

Das zunehmende Interesse Deutschlands und der EU gilt einer Region, die ebenfalls vor neuen Herausforderungen steht. Russ­lands imperiale Ambitionen, wie sie im Krieg gegen die Ukraine zum Ausdruck kommen, der Bruch Moskaus mit dem Wes­ten und dessen wachsender technologisch-politischer Wettbewerb mit China bedrohen die langerprobte »multivektorale« Außenpolitik der zentralasiatischen Staaten, die auf größtmögliche Autonomie ausgerichtet ist. Andere Faktoren legen wiederum nahe, dass die Länder der Region ihr (rohstoff­basiertes) Wirtschaftsmodell einer graduellen Transformation unterziehen – dazu gehören die akuten Konsequenzen des Klimawandels, die Frage der Energieversorgungssicherheit und die Notwendigkeit wirtschaftlich-industrieller wie sozio-öko­nomischer Entwicklung. Aufgrund dieser Her­ausforderungen ist auf zentralasiatischer Seite das Interesse an einer vertieften Koo­peration mit der EU, insbesondere mit Deutschland, ebenfalls stark gewachsen.

Die Erwartungen und Prioritäten sind für Europa und die Region freilich nicht in allen Bereichen deckungsgleich. Das gilt erstens für den Umgang mit den Regionalmächten Russland und China. Beide haben großen Einfluss auf politische und wirt­schaftliche Entscheidungen in Zentralasien und stellen die primären Vektoren dar, an denen sich die regionale Politik auch künf­tig orientieren wird. Eine zweite Inkon­gru­enz betrifft Tempo und Tiefe der Ener­gie­transformation im Spannungsfeld zwi­schen Klimapolitik, Wirtschaftsmodernisie­rung und Sicherheit der Energieversorgung. Un­gleich sind drittens die jeweiligen Erwar­tungen an die sektorale Kooperation. Hier gibt es ein großes Potential, aber auch eine Reihe von Hindernissen physischer, infra­struktureller, finanzieller und politischer Natur. Diese Ausgangslage gilt es bei der Zusammenarbeit im Blick zu behalten.

Zentralasiens geopolitische Ausgangslage

Ein Höchstmaß an strategischer Autonomie ist für die Staaten Zentralasiens seit jeher ein vorrangiges Ziel ihrer Außenpolitik. Dieses hat seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine noch an Bedeutung ge­wonnen. Der enorme wirtschaftliche Ein­fluss Chinas wiederum hat in Zentralasien das Bestreben nach einer Diversifizierung der Außenbeziehungen verstärkt. Wenn die Staaten der Region in der sich abzeichnenden multipolaren Weltordnung an Gewicht und Stimmkraft gewinnen wollen, müssen sie ihre technologisch-industrielle und geo­politische Unabhängigkeit stärken. Dies impliziert nicht unbedingt eine Entkoppelung von Russland und China, wohl aber eine Risikostreuung durch Addition eher als durch Substitution der Partner.

Tatsächlich werden beide Mächte auf ab­sehbare Zeit die maßgeblichen Partner der zentralasiatischen Staaten bleiben. Mit Russ­land ist die Region nach wie vor wirtschaftlich wie politisch aufs Engste verflochten, und Kasachstan, Kirgistan sowie Tadschiki­stan sind in von Moskau dominierte Regio­nalorganisationen – die Eurasische Wirt­schaftsunion (Kasachstan, Kirgistan) und die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (Kasachstan, Kirgistan, Tadschiki­stan) – eingebunden. Zentralasien ist für Russland ökonomisch und politisch sogar noch wichtiger geworden, seit seine Wirt­schaftsbeziehungen zum Westen eingebrochen sind. Dies lässt sich etwa daran able­sen, dass Präsident Putin nach seiner Inau­guration im Mai 2024 Usbekistan als Ziel seines dritten Staatsbesuchs – nach China und Belarus – auswählte. Gleichzeitig ver­fügt Moskau in Zentralasien über wirksame Druckmittel. Sie betreffen die Transportverbindungen zwischen Kasachstan und Europa, die über Russland verlaufen, eben­so wie dessen Bedeutung als Arbeitsmarkt für zentralasiatische Gastarbeiter. Nicht zu­letzt sind Kasachstan und vor allem Usbe­kistan auf russische Gaslieferungen ange­wiesen, damit sie den wachsenden hei­mi­schen Bedarf decken und Exportver­pflich­tungen gegenüber China nachkom­men können. Darüber hinaus wird Russ­land das erste Atomkraftwerk in Usbekistan bauen.

Um Moskaus Einfluss auszubalancieren, haben sich die Staaten der Region schon seit den späten 1990er Jahren einer Zu­sammenarbeit mit China geöffnet. Für die Volksrepublik geht es zum einen um Sicherheit und Stabilität an ihrer West­flanke (vor allem mit Blick auf die Provinz Xinjiang), zum anderen um die Erschließung von Absatzmärkten und die Sicherung von Energieimporten im Rahmen der »Seidenstraßen-Initiative«. Das Handels­volumen Chinas mit den zentralasiatischen Staaten hat von 2022 bis 2023 um 27 Pro­zent zugenommen. Die Volksrepublik ist mittlerweile der wichtigste Handelspartner Kasachstans und Usbekistans. Anders als Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgistan ist es den beiden Ländern bisher immerhin gelungen, die Abhängigkeit von China durch Wirtschaftsbeziehungen mit anderen Ländern einigermaßen auszugleichen. Vor allem für Kasachstan und Usbekistan ist die Volksrepublik als Partner nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil sie dort nicht nur in die Entwicklung der Infrastruktur und die Exploration fossiler Energieträger investiert, sondern dies seit 2018 durch Pro­jekte im Bereich der erneuerbaren Energien ergänzt.

Die anhaltenden wirtschaftlichen Abhängigkeiten von Russland, die wachsende Dominanz chinesischer Firmen und der zu­nehmende Einsatz chinesischer Technologie wie Expertise binden die zentralasia­tischen Staaten auch politisch. Vor diesem Hintergrund sind ihre Beziehungen zu Deutschland (und der EU) darauf ausgelegt, mehr wirtschaftliche und politische Ver­handlungsmacht gegenüber den großen Nachbarn zu gewinnen. Dieselbe Funktion erfüllen allerdings auch die Beziehungen mit anderen in der Region präsenten Akteu­ren, allen voran der Türkei, dem Iran und den Golfstaaten, ebenso wie Indien und Südkorea. Den Austausch mit einem brei­ten Spektrum an Partnern zu pflegen ist für die zentralasiatischen Staaten nicht nur Mittel zum Zweck einer ökonomischen Diversifizierung. Vielmehr geht es ihnen auch darum, die »multipolare« Vielfalt der Region zu wahren und sich den Risiken einer bipolaren Blockbildung zu entziehen. Dies bedeutet aber auch, dass Zentralasien keine privilegierte Beziehung zu Deutschland und der EU anstrebt. Inso­fern muss das deutsche und europäische Anlie­gen, die regionalen Staaten für eine Unter­stützung der westlichen Sanktio­nen gegen Russland zu gewinnen, ebenfalls an den Realitäten vor Ort gemessen werden.

Dieser komplexen Ausgangslage ist Rech­nung zu tragen, wenn die angekündigte Regionalpartnerschaft umgesetzt wird. Das bedeutet, zunächst jene Handlungsbereiche in den Blick zu nehmen, die für Zentral­asien ebenso wichtig sind wie für Deutschland. Dazu gehören die Bekämpfung des Klimawandels und die geoökonomische Diversifizierung, Letzteres vor allem im Be­reich grüner Energien und Industrien, kriti­scher Rohstoffe sowie Transportrouten. Auch hier gilt es, Inkongruenzen der Interessen zu identifizieren, Realitäten an­zuerkennen und Erwartungen auszubalancieren.

Bekämpfung des Klimawandels

Ein wichtiges Feld für die Zusammenarbeit zwischen Deutschland, der EU und Zentral­asien bilden die Bemühungen, den globalen Klimawandel zu bekämpfen und die Ziele des Pariser Abkommens zu errei­chen. Im Rahmen internationaler Verpflich­­tungen und europäischer Pläne strebt Deutschland hier – im europäischen Vergleich wie auch weltweit – eine Vorreiterrolle an und ent­wickelt eine ambi­tionierte Klimaaußen­politik. In Zentral­asien sind die Effekte des Klimawandels bereits dramatisch. Laut Welt­bank wird die Region zunehmend Dürren und Überflutungen ausgesetzt sein, mit gravie­renden ökono­mischen und sozia­len Folgen. Wie auch andernorts wird der Klimawandel be­stehen­de wirtschaftliche und ökologische Proble­me verschärfen, vor allem jenes der Verfüg­barkeit von Wasser, das die gesamte Region betrifft.

Alle zentralasiatischen Länder sind Unter­zeichner des Pariser Abkommens und haben Dekarbonisierungsziele angekün­digt. Seit 2018 fördern auch sie erneuerbare Energien. Die meisten Staaten der Region haben zumindest eine Art Strategie oder Programm für eine grüne Wirtschaft auf­gelegt, um die Effizienz der Ressourcen­nutzung zu steigern und die Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren. Vor diesem Hin­tergrund bemühen sich insbesondere Usbe­kistan und Kasachstan seit einigen Jahren verstärkt darum, ihre nationalen Verpflichtungen zu erfüllen. Von deutscher Seite wird Zentralasien bereits auf bilateraler und multilateraler Ebene in eine globale Klimapolitik einbezogen – durch Initia­tiven wie »Green Central Asia« oder die Rohstoffpartnerschaft mit Kasachstan und (perspektivisch) auch mit Usbekistan.

In diesem Zusammenhang gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass der Kampf gegen Energiearmut und der Zugang zu Energie in der Region von zentraler Bedeutung sind. Versorgungssicherheit, Wahrung des eige­nen exportorientierten und rohstoff­basierten Wirtschaftsmodells sowie Diver­sifizierung und Ausbau eigener Industrien wer­den für zentralasiatische Entscheidungs­träger bis auf Weiteres Priorität haben gegenüber strikten Klimazielen und ambi­tionierten Plänen zur Emissionsreduktion.

(Geo)ökonomische Diversifizierung

Deutschland und Zentralasien teilen das grundsätzliche Interesse an ökonomischer und geoökonomischer Diversifizierung, um geopolitische Autonomie und Bekämpfung des Klimawandels voranzutreiben. Es gibt jedoch auch auf diesem Feld inkongruente Zielvorstellungen und praktische Herausforderungen, die angegangen werden müs­sen, damit Deutschland und die EU das Potential für eine Zusammenarbeit aus­schöpfen können.

Besonders ausgeprägt sind die Koopera­tionsmöglichkeiten im Bereich von grüner Energie und Industrie. Deutschland und die EU sind mittel- bis langfristig auf den Import von grünem Strom und grünem Wasserstoff angewiesen. Zentralasien wie­derum hat signifikante Ressourcen an Wind- und Solarenergie. Insbesondere Usbekistan und Kasachstan planen, den Anteil erneuerbarer Energien konsequent auszubauen. Die Zusammenarbeit mit Deutschland, darunter auch bei Wasser­stoff, erfolgt bereits in bilateralen Part­nerschaften. Dabei bleibt die Dekarbonisierung für die zentralasiatischen Staaten zwar ein erklärtes Ziel und eine Notwendig­keit. Ein Übergang zu sauberer Energie ist in der Region jedoch nur langfristig realis­tisch. Der Anteil der erneuerbaren Energien am regionalen Energiemix ist nach wie vor extrem niedrig. An erster Stelle steht in Zentralasien das Bemühen, die fossile Ener­gieversorgung zu sichern, damit sich Exportverpflichtungen und steigende Bin­nennachfrage erfüllen lassen. Erneuerbare Energien werden vor allem deshalb in den Energiemix aufgenommen, um die Ener­giesicherheit zu stärken, Technologie und Industrien zu akquirieren sowie weite­re Exportmärkte und ‑sektoren zu erschließen.

Eine Expansion der erneuerbaren Energien setzt indes Ausbau, Reaktivierung und Stabilität des transregionalen Stromnetzes CAPS (Central Asian Power System) voraus, ebenso die Lösung von Wasserkonflikten. Die Infrastruktur des CAPS ist nicht nur ver­altet, sondern auch unzureichend ausgebaut und vernetzt. Der Zugang zu Wasser ist in der Region sehr ungleich verteilt und das Management der Ressourcen defizitär.

Im Bereich kritischer Rohstoffe hat Zen­tralasien bedeutende Reserven strategischer Mineralien wie Mangan, Titan, Kupfer, Kobalt und Lithium. Vor allem Kasachstan und Usbekistan haben hier enormes Poten­tial. Beide Länder streben nach einem opti­malen Marketing bzw. ge­winnbringender Kooperation und sind am Ausbau lokaler Fertigungstiefe und Ver­edelung interessiert.

Mit Kasachstan unterhalten Deutschland und die EU bereits eine Rohstoffpartnerschaft, mit Usbekistan hat Brüssel eine ent­sprechende Absichtserklärung vereinbart. Doch gibt es Hürden für ein grö­ßeres Enga­gement Deutschlands und Euro­pas auf dem Sektor, so die strukturellen Schwächen der deutschen und europäischen Bergbauindus­trie sowie die starke Präsenz anderer exter­ner Akteure im zen­tralasiatischen Bergbau. Ähnliches gilt für neue grüne Industrie­produkte wie Solar­panel, Wind­turbinen, Elek­trolyseure oder Batterien für E‑Autos. Sie bergen viel Poten­tial für Zu­sammen­arbeit, aber auch China und weitere Akteu­re wie die Golfstaaten sind bei diesen Er­zeugnissen in der Region stark vertreten.

Im Transportbereich hat insbesondere der Mittlere Korridor zwischen Zentral­asien, China und der EU, der über das Kas­pische Meer und den Kaukasus führt, an Bedeutung gewonnen. Er ist wichtig, um (Industrie-)Güter, fossile Energieressourcen und perspektivisch auch grüne Energie nach Europa zu befördern. EU-Initiativen wie Global Gateway, das Abkommen zwi­schen Aserbaidschan, Georgien und Kasach­stan zum Ausbau des Mittleren Korridors oder das Abkommen zwischen Aserbaidschan, Usbekistan und Kasachstan zum Ex­port grünen Stroms zeigen erste politische Erfolge. Der Korridor ist jedoch infrastrukturell unterentwickelt und mit Blick auf Logistik wie Tarife noch dysfunktional. Unter den aktuellen Bedingungen würde ihn ein Anstieg des transkontinentalen und regionalen Transportvolumens – bei Con­tainerverkehr, grüner Energie und Wasser­stoff(produkten) – überlasten. Dies zeigte sich 2023, als die bloße Zunah­me des trans­kontinentalen Containerverkehrs aufgrund logistisch-infrastruk­tureller Engpässe zu einem Rückgang des Gütertransits führte. Zudem offenbaren sich Interessenasym­metrien: Deutschland möch­te Russland und Iran umgehen, wenn neue Transportwege erschlossen werden, wäh­rend Zentralasien vielfältige Routen in alle Richtungen aus­bauen will. Das Inter­esse am Mittleren Korridor variiert auch inner­halb Zentral­asiens stark. Bedeutung hat er vor allem für Kasachstan, wohingegen Usbekistan mehr darauf fokussiert ist, Korri­dore nach Afgha­nistan und China zu entwickeln.

Ob und inwieweit es gelingt, überlappen­de Interessen auf den einzelnen Sektoren in eine für alle Beteiligten nutzbringende Ko­operation zu überführen, hängt von den jeweiligen strategischen Prioritäten der rele­vanten Akteure ab. Eine maßgebliche Rolle spielen nicht zuletzt die politischen Dyna­miken in der Region selbst. Dabei kommt der intraregionalen Zusammenarbeit ganz besonderes Gewicht zu.

Dynamiken regionaler Kooperation

Die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in Zentralasien stand lange im Schatten der hegemonialen Politik Russlands, das bis heute eine Sonderstellung im ehemals sow­jetischen Hinterland einnimmt. Dass die intraregionale Kooperation nicht stärker institutionalisiert wurde, lag aber auch an den konflikthaften Beziehungen zwischen den zentralasiatischen Staaten. Dies änderte sich, als 2016 in Usbekistan der neue Präsi­dent Shavkat Mirziyoyev sein Amt antrat. Die Entwicklung der regionalen Beziehungen nahm nun an Fahrt auf. Russlands An­griff auf die Ukraine hat die Dynamik be­schleunigt. Im Juli 2022 trafen sich die fünf zentralasiatischen Präsidenten im kirgisischen Cholpon-Ata, wo sie eine Roadmap für die regionale Kooperation beschlossen. Seither sind eine Verdichtung von Treffen und Kon­sultatio­nen sowie Versuche der Institutionalisierung zu beobachten. So wurde im September 2023 ein Koordinierungsrat eingerichtet, als die fünf Staaten ein Gipfeltreffen in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe abhielten.

Die zentralen Impulse für eine engere Zusammenarbeit gehen von den regionalen Schwergewichten Usbekistan und Kasach­stan aus, die ihre bilateralen Beziehungen im Dezember 2022 durch einen Bündnisvertrag aufgewertet haben. Auf Initiative Usbekistans konnten die notorischen Grenz­konflikte mit Tadschikistan großteils bei­gelegt und die Delimitation der usbe­kisch-kirgisischen Grenze abgeschlossen werden.

Doch bei allen Fortschritten behindern zahlreiche Hemmnisse weiterhin die regio­nale Kooperation. Dazu gehören die sehr ungleiche Wirtschaftsentwicklung und Res­sourcenausstattung der fünf Länder, noch immer ungelöste Grenzkonflikte zwischen Tadschikistan und Kirgistan, Interessen­gegensätze in Fragen der Wassernutzung, anhaltende Konnektivitätsprobleme sowie Handelsbarrieren aufgrund unterschied­licher Zollsysteme. Diese Faktoren stehen gerade in den Schlüsselsektoren Energie, Wasser und Transport dem Aufbau regiona­ler Wertschöpfungsketten und ihrer globa­len Einbindung im Wege.

Insgesamt zeigen die internen Kooperationsprozesse ein ambivalentes Bild. Eine eigenständige Regionalidentität hat sich bisher nicht herausgebildet, doch ist den fünf Regierungen bewusst, dass eine ver­stärkte Zusammenarbeit innerhalb Zen­tralasiens auch Bedingung dafür ist, nach außen hin profilierter zu agieren. Dass Letz­teres angestrebt wird, lässt sich an dem Bemühen ablesen, in externen Bezie­hungen gemeinsam aufzutreten, etwa in den 5-plus-1-Formaten und bei globalen Konferenzen.

Handlungsempfehlungen für die deutsche Zentralasienpolitik

Von einer strategischen Regionalpartnerschaft können beide Seiten, Deutschland und die Staaten Zentralasiens, profitieren. Vor allem die Bekämpfung des Klimawandels und die (geo)ökonomische Diversifi­zierung in Schlüsselsektoren wie (grünen) Energien, Industrien und Technologien, bei Transport und kritischen Rohstoffen bieten ideale Handlungsfelder, um die bilateralen Beziehungen weiterzuentwickeln und die intraregionale Zusammenarbeit zu stärken.

Dabei gilt es anzuerkennen, dass die Region einen historischen Verbindungs- und Konkurrenzraum zwischen Asien, Kon­tinentaleurasien, dem Mittleren Osten und Europa bildet, aber zunehmend der geo­öko­nomischen und geopolitischen Sog­wirkung des Großraums Asien unterliegt. Für die deutsch-zentralasiatische Kooperation heißt das erstens, realistische Ziele zu formulieren und von überzogenen Erwar­tungen Ab­stand zu nehmen. Zwei Faktoren werden auch künftig den Kurs der zentral­asiati­schen Staatslenker bestimmen: der Einfluss Russ­lands und Chinas und der autoritäre Cha­rakter der politischen Syste­me in den fünf Ländern. Bei der Auswahl von Part­nern und Projekten ist daher vor­rangig zu berücksichtigen, in welchem Kon­text sich das je­weilige Engagement bewegt: Wer sind die relevanten Akteure, welche Interessen ver­folgen sie? Wer trifft die Ent­scheidun­gen? Wo gibt es potentiell Kon­flikte, welche Aus­wirkungen haben sie auf das Projektdesign?

Zweitens sollte die Zusammenarbeit stra­tegisch angelegt sein. Dies erfordert langen Atem, Realitätssinn und Geduld. Die Gestal­tungsmöglichkeiten Deutschlands und der EU in Zentralasien sind begrenzt, nicht nur wegen der geographischen Distanz, sondern auch deshalb, weil politische und finan­zielle Ressourcen auf europäischer Seite an Limits stoßen. Hinzu kommt die Vielzahl an Akteuren, die in Zentralasien präsent sind und auf politische Entscheidungen dort Einfluss nehmen. Eine nachhaltige Ver­­tiefung der Beziehungen setzt Akzeptanz der geopolitischen Realität Zentral­asiens und der regionalen Prioritäten voraus. Die vier Handlungsfelder der anvisierten Regio­nalpartnerschaft gilt es vor diesem Hinter­grund konzeptionell weiterzuentwickeln.

Wirtschaft, Energie, natürliche Ressourcen

Erstens sollte Deutschlands Rohstoffpartnerschaft mit Kasachstan ergänzt werden durch eine solche Partnerschaft mit Usbe­kistan – ein Schritt, der auch in eine trila­terale Rohstoff-, Klima- und Energiepartnerschaft münden könnte. Ein strate­gischer Einstieg deutscher Unternehmen in eine solche Kooperation ist allerdings nur dann denkbar und sinnvoll, wenn er poli­tisch und mit Finanzinstrumenten begleitet wird.

Zweitens ist es angesichts der technischen und logistischen Engpässe innerhalb der Region erforderlich, weitere signifikante Investitionen in die physische Infrastruktur entlang des Mittleren Korridors zu täti­gen. Besser werden muss auch der Wissenstransfer im Bereich der Logistik und der regulatorischen, rechtlichen, physi­schen und tariflichen Harmonisierung logistischer Dienstleistungen. Für den effi­zienten Be­trieb des Korridors böte sich an, ein interna­tionales Logistik-Konsortium zu etablieren, zumal deutsche Firmen die entsprechende Expertise besitzen. Dabei wären neben Kasachstan auch der Süd­kaukasus und die Türkei in die Überlegungen einzubeziehen.

Der Mittlere Korridor wird allerdings kaum Nutzen für die lokale Entwicklung bringen, wenn sich nicht weitere zentralasiatische Staaten daran beteiligen. Deshalb sollten Deutschland und die EU sich – drit­tens – für eine Logistik-Union inner­halb der Region, vor allem aber zwischen Usbe­kistan und Kasachstan, einsetzen. Basis dafür könnte das usbekisch-kasachische Industrie- und Logistikzentrum an der Grenze der beiden Länder bilden, das von Usbekistans Präsident Mirziyoyev vorgeschlagen wurde und demnächst gebaut werden soll. Dieses Zentrum ließe sich per­spek­tivisch als maß­gebliche Anlaufstelle nutzen, um Wissenstransfer und Aus­bil­dung im Bereich eines integrierten Supply Chain und Cross-Border Management anzubieten. Zudem könnte es, wie­derum per­spektivisch, den Ausbau von Logistik-Korridoren in Richtung Süden und Osten begünstigen. Für Usbeki­stan könnte dies ein Anreiz sein, sich am Mittleren Korridor zu beteiligen und so auch dem Obstruk­tionspotential Russlands entgegenzu­wirken.

Umwelt und Klima

Auf diesem Sektor hat sich, nicht zuletzt durch das von der Bundesregierung geför­derte Projekt »Green Central Asia«, in den letzten Jahren ein konstruktiver Austausch zwischen den fünf zentralasiatischen Staa­ten entwickelt. Diese stehen nun vor der Herausforderung, hier Ressourcen zu bün­deln und einen dauerhaften Interessens­ausgleich auf der Grundlage verbindlicher rechtlicher Vereinbarungen zu schaffen.

Fernziel wäre dabei, eine zentralasiatische Wasser- und Energiegemeinschaft zu entwi­ckeln. Deutschlands Rolle könnte dar­in lie­gen, die bestehenden regionalen Dia­log­formate zu unterstützen und die Partner zu einer Gesamtbetrachtung des Wasser-Ener­gie-Nexus zu ermutigen. Dasselbe gilt für die Etablierung erster bi- und minilateraler Formate für das Management von Was­­­ser­ressourcen, die Deutschland beratend be­gleiten kann. Darüber hinaus sollten die zentralasiatischen Staaten bei der Modernisierung und vollständigen Inbetriebnahme des Stromnetzes CAPS unterstützt werden, ebenso bei der Reaktivierung weiterer Inter­konnekto­ren innerhalb der Region, mit denen sich die Resilienz des Stromnetzes stärken lässt. Auch für den Ausbau grüner Energien und der Produktion von Wasserstoff wäre dies eine zentrale Voraussetzung.

Regionale Zusammenarbeit und Resilienz

Die regionale Dimension sollte in allen sektoralen Kooperationsbereichen gestärkt werden. In diesem Zusammenhang würde es sich anbieten, einen deutsch-zentral­asiatischen Dialog zu etablieren, der dem Austausch von Erfahrungen bei der regio­nalen Zusammenarbeit und einem besseren Verständnis föderaler Prinzipien und ge­teilter Souveränität dient.

Darüber hinaus sollte das Interesse der zentralasiatischen Staaten an der Zusammenarbeit mit Afghanistan genutzt werden, um Kommunikationskanäle mit dem Tali­ban-Regime aufrechtzuerhalten. Kasachstan und vor allem Usbekistan arbeiten de facto schon jetzt in ausgewählten Bereichen mit den Machthabern in Kabul zusammen, wie etwa der Ausbau ihrer Handelsbeziehungen mit Afghanistan und usbekische Stromlieferungen dorthin zeigen. Gleichzeitig sehen sich Kasachstan und Usbekistan als mög­liche Brücke zwischen den Taliban und der internationalen Gemeinschaft. Vor allem die usbekische Seite unterhält gute Bezie­hungen zu Ländern, die in Afghanistan engagiert sind (so China und die Golfstaaten), und könnte diese Kontakte im Sinne der internationalen Gemeinschaft noch stärker einsetzen – etwa bei Fragen der humanitären Hilfe, aber auch bei der Kom­munikation mit dem Taliban-Regime.

Zwischengesellschaftliche Kontakte

Das vierte Handlungsfeld der strategischen Regionalpartnerschaft bildet die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit. Diese sollte auf allen Ebenen gefördert werden. Wirk­same Instrumente wären das derzeit ge­plante Migrationsabkommen für Fach­kräfte aus Usbekistan, die Förderung von Sprach­erwerb und mehr akademischer Aus­tausch. Ausstellungsprojekte und ande­re kultur­politische Initiativen wären hier ebenfalls relevant.

Überdies wird es darauf ankommen, den politischen Nachwuchs in Zentralasien stärker an Deutschland und Europa zu bin­den. Der parteiübergreifende Austausch von Entscheidungsträger:innen, den etwa die Robert-Bosch-Stiftung anbietet, ebenso wie der parlamentarische Austausch und die Hospitanzprogramme, welche die poli­­tischen Stiftungen organisieren, könnten geeignete Instrumente dafür sein. Auch Städtepartnerschaften ließen sich in die­sem Zusammenhang nutzen.

Für alle Handlungsfelder gilt: Um die strategische Partnerschaft mit Zentralasien glaubwürdig zu gestalten und den Absichts­erklärungen Taten folgen zu lassen, müssen Deutschland und die EU der Region mehr politische Aufmerksamkeit schenken, die Zusammenarbeit intensivieren und Ent­scheidungsprozesse beschleunigen. Dabei wird es auch darauf ankommen, dass die neue EU-Kommission nicht nur technokratische Programme umsetzt, son­dern auch langfristig angelegte Impulse zur politischen Neuordnung der Arbeitsfelder gibt. Vor allem im Bereich Transport/Kon­nekti­vität und Wirtschaft wäre es geboten, die Aktivitäten der EU und einzelner Mit­glied­staaten durch bessere Abstimmung und Koordination miteinander zu verzahnen.

Es liegt im deutschen und europäischen Interesse, das positive Momentum in den Beziehungen mit den zentralasiatischen Staaten zu wahren. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Deutschland und Europa weiter an geopolitischen und geoökono­mischen Gestaltungsmöglichkeiten in die­ser Region verlieren. Sie könnten dann die Chance verpassen, das zentralasiatische Labor einer neuen multipolaren Welt­ordnung auch im Sinne verstärkter inter­nationaler Kooperation zu nutzen.

Manfred Huterer war von Juli 2019 bis Juli 2023 deutscher Botschafter in Belarus und ist derzeit Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Dr. Jacopo Maria Pepe ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Dr. Andrea Schmitz ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

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