Der russische Krieg gegen die Ukraine und die geopolitischen Verschiebungen auf dem eurasischen Kontinent haben Zentralasien wieder verstärkt in den Fokus Deutschlands und der EU gerückt. Die strategische Regionalpartnerschaft der Bundesrepublik mit Zentralasien, die im vergangenen Herbst angekündigt wurde, bietet ein vielversprechendes Potential für Zusammenarbeit. Eine Vertiefung der sektoralen Kooperation ist jedoch mit Herausforderungen verbunden, die eine realistische Lagebewertung für die einzelnen Arbeitsfelder erfordern. Genaue Kontextanalysen sind unabdingbar, will man Fehlperzeptionen und falsche Erwartungen vermeiden. Das deutsche Engagement sollte langfristig angelegt sein und vor allem darauf zielen, die Krisenfestigkeit der zentralasiatischen Länder zu stärken. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die Unterstützung der intraregionalen Kooperation, vor allem in den Bereichen Logistik, Strominfrastruktur und Wassermanagement.
Deutschland spielt seit 2007 eine treibende Rolle bei der konzeptionellen Ausgestaltung der Beziehungen zwischen der EU und Zentralasien – einer Region, die für die EU-Außenbeziehungen bis dahin kaum relevant war. Unter deutscher Ratspräsidentschaft wurde in jenem Jahr die erste EU-Zentralasienstrategie aufgelegt. 2019 wurde dieses Dokument – auch auf deutsche Initiative hin – durch eine neue Strategie ersetzt. Durch den russischen Angriff auf die Ukraine und die globalen Verwerfungen, die dieser Krieg nach sich zieht, haben die Beziehungen zwischen Zentralasien und der EU an Bedeutung gewonnen – nicht nur für die Europäer, sondern auch für die Länder der Region. Letztere nehmen in Bezug auf das Kriegsgeschehen eine distanziert-neutrale Position ein, sehen in Russlands Neo-Imperialismus aber auch eine latente Gefahr für ihre eigene Unabhängigkeit und bieten sich im Rahmen einer Politik, die wie jene Deutschlands auf wirtschaftliche und politische Diversifizierung setzt, als Partner an.
Den neuen Stellenwert, den Zentralasien für Deutschland besitzt, verdeutlichte das 5+1-Gipfeltreffen mit Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Kirgistan, das auf Einladung des Bundeskanzlers im September 2023 in Berlin stattfand. In einer Gemeinsamen Erklärung kam man überein, eine strategische Regionalpartnerschaft zu begründen. Dies wäre die erste strategische Partnerschaft Deutschlands mit einer Großregion. Vier Handlungsfelder sollen dabei die Schwerpunkte bilden:
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Wirtschaft, Energie, natürliche Ressourcen
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regionale Zusammenarbeit und Resilienz
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Umwelt und Klima
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zwischengesellschaftliche bzw. zwischenmenschliche Kontakte
Mit dieser Absichtserklärung signalisiert Deutschland sein besonderes Engagement in und mit Zentralasien. Untermauert werden soll dieses durch das für September 2024 in Aussicht gestellte Folgetreffen im 5‑plus-1-Format in Astana sowie durch bilaterale Besuche des Bundeskanzlers in Usbekistan und Kasachstan, die dem Gipfel vorgeschaltet sind.
Das deutsche Engagement ist eingebettet in intensive Bemühungen, die Beziehungen auf EU-Ebene zu stärken. War es vor 2022 insbesondere die Kommission, die die Zentralasienpolitik vorantrieb, so spielen neuerdings der Rat und die Mitgliedstaaten eine aktivere Rolle bei der Ausgestaltung der Beziehungen. Im Juni 2023 traf der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, in Kirgistan mit den zentralasiatischen Präsidenten zusammen. Dabei wurde die Erstellung einer Roadmap für eine erweiterte Zusammenarbeit vereinbart, die im Oktober 2023 bei einem Treffen der 27 EU-Außenminister mit ihren zentralasiatischen Counterparts in Brüssel verabschiedet wurde. Anfang 2024 forderte dann das Europäische Parlament ein Update der Zentralasienstrategie von 2019. Neben Deutschland sind auch andere EU-Mitgliedstaaten in Zentralasien stärker aktiv geworden, vor allem Frankreich, Italien und Ungarn.
Das zunehmende Interesse Deutschlands und der EU gilt einer Region, die ebenfalls vor neuen Herausforderungen steht. Russlands imperiale Ambitionen, wie sie im Krieg gegen die Ukraine zum Ausdruck kommen, der Bruch Moskaus mit dem Westen und dessen wachsender technologisch-politischer Wettbewerb mit China bedrohen die langerprobte »multivektorale« Außenpolitik der zentralasiatischen Staaten, die auf größtmögliche Autonomie ausgerichtet ist. Andere Faktoren legen wiederum nahe, dass die Länder der Region ihr (rohstoffbasiertes) Wirtschaftsmodell einer graduellen Transformation unterziehen – dazu gehören die akuten Konsequenzen des Klimawandels, die Frage der Energieversorgungssicherheit und die Notwendigkeit wirtschaftlich-industrieller wie sozio-ökonomischer Entwicklung. Aufgrund dieser Herausforderungen ist auf zentralasiatischer Seite das Interesse an einer vertieften Kooperation mit der EU, insbesondere mit Deutschland, ebenfalls stark gewachsen.
Die Erwartungen und Prioritäten sind für Europa und die Region freilich nicht in allen Bereichen deckungsgleich. Das gilt erstens für den Umgang mit den Regionalmächten Russland und China. Beide haben großen Einfluss auf politische und wirtschaftliche Entscheidungen in Zentralasien und stellen die primären Vektoren dar, an denen sich die regionale Politik auch künftig orientieren wird. Eine zweite Inkongruenz betrifft Tempo und Tiefe der Energietransformation im Spannungsfeld zwischen Klimapolitik, Wirtschaftsmodernisierung und Sicherheit der Energieversorgung. Ungleich sind drittens die jeweiligen Erwartungen an die sektorale Kooperation. Hier gibt es ein großes Potential, aber auch eine Reihe von Hindernissen physischer, infrastruktureller, finanzieller und politischer Natur. Diese Ausgangslage gilt es bei der Zusammenarbeit im Blick zu behalten.
Zentralasiens geopolitische Ausgangslage
Ein Höchstmaß an strategischer Autonomie ist für die Staaten Zentralasiens seit jeher ein vorrangiges Ziel ihrer Außenpolitik. Dieses hat seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine noch an Bedeutung gewonnen. Der enorme wirtschaftliche Einfluss Chinas wiederum hat in Zentralasien das Bestreben nach einer Diversifizierung der Außenbeziehungen verstärkt. Wenn die Staaten der Region in der sich abzeichnenden multipolaren Weltordnung an Gewicht und Stimmkraft gewinnen wollen, müssen sie ihre technologisch-industrielle und geopolitische Unabhängigkeit stärken. Dies impliziert nicht unbedingt eine Entkoppelung von Russland und China, wohl aber eine Risikostreuung durch Addition eher als durch Substitution der Partner.
Tatsächlich werden beide Mächte auf absehbare Zeit die maßgeblichen Partner der zentralasiatischen Staaten bleiben. Mit Russland ist die Region nach wie vor wirtschaftlich wie politisch aufs Engste verflochten, und Kasachstan, Kirgistan sowie Tadschikistan sind in von Moskau dominierte Regionalorganisationen – die Eurasische Wirtschaftsunion (Kasachstan, Kirgistan) und die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan) – eingebunden. Zentralasien ist für Russland ökonomisch und politisch sogar noch wichtiger geworden, seit seine Wirtschaftsbeziehungen zum Westen eingebrochen sind. Dies lässt sich etwa daran ablesen, dass Präsident Putin nach seiner Inauguration im Mai 2024 Usbekistan als Ziel seines dritten Staatsbesuchs – nach China und Belarus – auswählte. Gleichzeitig verfügt Moskau in Zentralasien über wirksame Druckmittel. Sie betreffen die Transportverbindungen zwischen Kasachstan und Europa, die über Russland verlaufen, ebenso wie dessen Bedeutung als Arbeitsmarkt für zentralasiatische Gastarbeiter. Nicht zuletzt sind Kasachstan und vor allem Usbekistan auf russische Gaslieferungen angewiesen, damit sie den wachsenden heimischen Bedarf decken und Exportverpflichtungen gegenüber China nachkommen können. Darüber hinaus wird Russland das erste Atomkraftwerk in Usbekistan bauen.
Um Moskaus Einfluss auszubalancieren, haben sich die Staaten der Region schon seit den späten 1990er Jahren einer Zusammenarbeit mit China geöffnet. Für die Volksrepublik geht es zum einen um Sicherheit und Stabilität an ihrer Westflanke (vor allem mit Blick auf die Provinz Xinjiang), zum anderen um die Erschließung von Absatzmärkten und die Sicherung von Energieimporten im Rahmen der »Seidenstraßen-Initiative«. Das Handelsvolumen Chinas mit den zentralasiatischen Staaten hat von 2022 bis 2023 um 27 Prozent zugenommen. Die Volksrepublik ist mittlerweile der wichtigste Handelspartner Kasachstans und Usbekistans. Anders als Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgistan ist es den beiden Ländern bisher immerhin gelungen, die Abhängigkeit von China durch Wirtschaftsbeziehungen mit anderen Ländern einigermaßen auszugleichen. Vor allem für Kasachstan und Usbekistan ist die Volksrepublik als Partner nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil sie dort nicht nur in die Entwicklung der Infrastruktur und die Exploration fossiler Energieträger investiert, sondern dies seit 2018 durch Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien ergänzt.
Die anhaltenden wirtschaftlichen Abhängigkeiten von Russland, die wachsende Dominanz chinesischer Firmen und der zunehmende Einsatz chinesischer Technologie wie Expertise binden die zentralasiatischen Staaten auch politisch. Vor diesem Hintergrund sind ihre Beziehungen zu Deutschland (und der EU) darauf ausgelegt, mehr wirtschaftliche und politische Verhandlungsmacht gegenüber den großen Nachbarn zu gewinnen. Dieselbe Funktion erfüllen allerdings auch die Beziehungen mit anderen in der Region präsenten Akteuren, allen voran der Türkei, dem Iran und den Golfstaaten, ebenso wie Indien und Südkorea. Den Austausch mit einem breiten Spektrum an Partnern zu pflegen ist für die zentralasiatischen Staaten nicht nur Mittel zum Zweck einer ökonomischen Diversifizierung. Vielmehr geht es ihnen auch darum, die »multipolare« Vielfalt der Region zu wahren und sich den Risiken einer bipolaren Blockbildung zu entziehen. Dies bedeutet aber auch, dass Zentralasien keine privilegierte Beziehung zu Deutschland und der EU anstrebt. Insofern muss das deutsche und europäische Anliegen, die regionalen Staaten für eine Unterstützung der westlichen Sanktionen gegen Russland zu gewinnen, ebenfalls an den Realitäten vor Ort gemessen werden.
Dieser komplexen Ausgangslage ist Rechnung zu tragen, wenn die angekündigte Regionalpartnerschaft umgesetzt wird. Das bedeutet, zunächst jene Handlungsbereiche in den Blick zu nehmen, die für Zentralasien ebenso wichtig sind wie für Deutschland. Dazu gehören die Bekämpfung des Klimawandels und die geoökonomische Diversifizierung, Letzteres vor allem im Bereich grüner Energien und Industrien, kritischer Rohstoffe sowie Transportrouten. Auch hier gilt es, Inkongruenzen der Interessen zu identifizieren, Realitäten anzuerkennen und Erwartungen auszubalancieren.
Bekämpfung des Klimawandels
Ein wichtiges Feld für die Zusammenarbeit zwischen Deutschland, der EU und Zentralasien bilden die Bemühungen, den globalen Klimawandel zu bekämpfen und die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen. Im Rahmen internationaler Verpflichtungen und europäischer Pläne strebt Deutschland hier – im europäischen Vergleich wie auch weltweit – eine Vorreiterrolle an und entwickelt eine ambitionierte Klimaaußenpolitik. In Zentralasien sind die Effekte des Klimawandels bereits dramatisch. Laut Weltbank wird die Region zunehmend Dürren und Überflutungen ausgesetzt sein, mit gravierenden ökonomischen und sozialen Folgen. Wie auch andernorts wird der Klimawandel bestehende wirtschaftliche und ökologische Probleme verschärfen, vor allem jenes der Verfügbarkeit von Wasser, das die gesamte Region betrifft.
Alle zentralasiatischen Länder sind Unterzeichner des Pariser Abkommens und haben Dekarbonisierungsziele angekündigt. Seit 2018 fördern auch sie erneuerbare Energien. Die meisten Staaten der Region haben zumindest eine Art Strategie oder Programm für eine grüne Wirtschaft aufgelegt, um die Effizienz der Ressourcennutzung zu steigern und die Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren. Vor diesem Hintergrund bemühen sich insbesondere Usbekistan und Kasachstan seit einigen Jahren verstärkt darum, ihre nationalen Verpflichtungen zu erfüllen. Von deutscher Seite wird Zentralasien bereits auf bilateraler und multilateraler Ebene in eine globale Klimapolitik einbezogen – durch Initiativen wie »Green Central Asia« oder die Rohstoffpartnerschaft mit Kasachstan und (perspektivisch) auch mit Usbekistan.
In diesem Zusammenhang gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass der Kampf gegen Energiearmut und der Zugang zu Energie in der Region von zentraler Bedeutung sind. Versorgungssicherheit, Wahrung des eigenen exportorientierten und rohstoffbasierten Wirtschaftsmodells sowie Diversifizierung und Ausbau eigener Industrien werden für zentralasiatische Entscheidungsträger bis auf Weiteres Priorität haben gegenüber strikten Klimazielen und ambitionierten Plänen zur Emissionsreduktion.
(Geo)ökonomische Diversifizierung
Deutschland und Zentralasien teilen das grundsätzliche Interesse an ökonomischer und geoökonomischer Diversifizierung, um geopolitische Autonomie und Bekämpfung des Klimawandels voranzutreiben. Es gibt jedoch auch auf diesem Feld inkongruente Zielvorstellungen und praktische Herausforderungen, die angegangen werden müssen, damit Deutschland und die EU das Potential für eine Zusammenarbeit ausschöpfen können.
Besonders ausgeprägt sind die Kooperationsmöglichkeiten im Bereich von grüner Energie und Industrie. Deutschland und die EU sind mittel- bis langfristig auf den Import von grünem Strom und grünem Wasserstoff angewiesen. Zentralasien wiederum hat signifikante Ressourcen an Wind- und Solarenergie. Insbesondere Usbekistan und Kasachstan planen, den Anteil erneuerbarer Energien konsequent auszubauen. Die Zusammenarbeit mit Deutschland, darunter auch bei Wasserstoff, erfolgt bereits in bilateralen Partnerschaften. Dabei bleibt die Dekarbonisierung für die zentralasiatischen Staaten zwar ein erklärtes Ziel und eine Notwendigkeit. Ein Übergang zu sauberer Energie ist in der Region jedoch nur langfristig realistisch. Der Anteil der erneuerbaren Energien am regionalen Energiemix ist nach wie vor extrem niedrig. An erster Stelle steht in Zentralasien das Bemühen, die fossile Energieversorgung zu sichern, damit sich Exportverpflichtungen und steigende Binnennachfrage erfüllen lassen. Erneuerbare Energien werden vor allem deshalb in den Energiemix aufgenommen, um die Energiesicherheit zu stärken, Technologie und Industrien zu akquirieren sowie weitere Exportmärkte und ‑sektoren zu erschließen.
Eine Expansion der erneuerbaren Energien setzt indes Ausbau, Reaktivierung und Stabilität des transregionalen Stromnetzes CAPS (Central Asian Power System) voraus, ebenso die Lösung von Wasserkonflikten. Die Infrastruktur des CAPS ist nicht nur veraltet, sondern auch unzureichend ausgebaut und vernetzt. Der Zugang zu Wasser ist in der Region sehr ungleich verteilt und das Management der Ressourcen defizitär.
Im Bereich kritischer Rohstoffe hat Zentralasien bedeutende Reserven strategischer Mineralien wie Mangan, Titan, Kupfer, Kobalt und Lithium. Vor allem Kasachstan und Usbekistan haben hier enormes Potential. Beide Länder streben nach einem optimalen Marketing bzw. gewinnbringender Kooperation und sind am Ausbau lokaler Fertigungstiefe und Veredelung interessiert.
Mit Kasachstan unterhalten Deutschland und die EU bereits eine Rohstoffpartnerschaft, mit Usbekistan hat Brüssel eine entsprechende Absichtserklärung vereinbart. Doch gibt es Hürden für ein größeres Engagement Deutschlands und Europas auf dem Sektor, so die strukturellen Schwächen der deutschen und europäischen Bergbauindustrie sowie die starke Präsenz anderer externer Akteure im zentralasiatischen Bergbau. Ähnliches gilt für neue grüne Industrieprodukte wie Solarpanel, Windturbinen, Elektrolyseure oder Batterien für E‑Autos. Sie bergen viel Potential für Zusammenarbeit, aber auch China und weitere Akteure wie die Golfstaaten sind bei diesen Erzeugnissen in der Region stark vertreten.
Im Transportbereich hat insbesondere der Mittlere Korridor zwischen Zentralasien, China und der EU, der über das Kaspische Meer und den Kaukasus führt, an Bedeutung gewonnen. Er ist wichtig, um (Industrie-)Güter, fossile Energieressourcen und perspektivisch auch grüne Energie nach Europa zu befördern. EU-Initiativen wie Global Gateway, das Abkommen zwischen Aserbaidschan, Georgien und Kasachstan zum Ausbau des Mittleren Korridors oder das Abkommen zwischen Aserbaidschan, Usbekistan und Kasachstan zum Export grünen Stroms zeigen erste politische Erfolge. Der Korridor ist jedoch infrastrukturell unterentwickelt und mit Blick auf Logistik wie Tarife noch dysfunktional. Unter den aktuellen Bedingungen würde ihn ein Anstieg des transkontinentalen und regionalen Transportvolumens – bei Containerverkehr, grüner Energie und Wasserstoff(produkten) – überlasten. Dies zeigte sich 2023, als die bloße Zunahme des transkontinentalen Containerverkehrs aufgrund logistisch-infrastruktureller Engpässe zu einem Rückgang des Gütertransits führte. Zudem offenbaren sich Interessenasymmetrien: Deutschland möchte Russland und Iran umgehen, wenn neue Transportwege erschlossen werden, während Zentralasien vielfältige Routen in alle Richtungen ausbauen will. Das Interesse am Mittleren Korridor variiert auch innerhalb Zentralasiens stark. Bedeutung hat er vor allem für Kasachstan, wohingegen Usbekistan mehr darauf fokussiert ist, Korridore nach Afghanistan und China zu entwickeln.
Ob und inwieweit es gelingt, überlappende Interessen auf den einzelnen Sektoren in eine für alle Beteiligten nutzbringende Kooperation zu überführen, hängt von den jeweiligen strategischen Prioritäten der relevanten Akteure ab. Eine maßgebliche Rolle spielen nicht zuletzt die politischen Dynamiken in der Region selbst. Dabei kommt der intraregionalen Zusammenarbeit ganz besonderes Gewicht zu.
Dynamiken regionaler Kooperation
Die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in Zentralasien stand lange im Schatten der hegemonialen Politik Russlands, das bis heute eine Sonderstellung im ehemals sowjetischen Hinterland einnimmt. Dass die intraregionale Kooperation nicht stärker institutionalisiert wurde, lag aber auch an den konflikthaften Beziehungen zwischen den zentralasiatischen Staaten. Dies änderte sich, als 2016 in Usbekistan der neue Präsident Shavkat Mirziyoyev sein Amt antrat. Die Entwicklung der regionalen Beziehungen nahm nun an Fahrt auf. Russlands Angriff auf die Ukraine hat die Dynamik beschleunigt. Im Juli 2022 trafen sich die fünf zentralasiatischen Präsidenten im kirgisischen Cholpon-Ata, wo sie eine Roadmap für die regionale Kooperation beschlossen. Seither sind eine Verdichtung von Treffen und Konsultationen sowie Versuche der Institutionalisierung zu beobachten. So wurde im September 2023 ein Koordinierungsrat eingerichtet, als die fünf Staaten ein Gipfeltreffen in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe abhielten.
Die zentralen Impulse für eine engere Zusammenarbeit gehen von den regionalen Schwergewichten Usbekistan und Kasachstan aus, die ihre bilateralen Beziehungen im Dezember 2022 durch einen Bündnisvertrag aufgewertet haben. Auf Initiative Usbekistans konnten die notorischen Grenzkonflikte mit Tadschikistan großteils beigelegt und die Delimitation der usbekisch-kirgisischen Grenze abgeschlossen werden.
Doch bei allen Fortschritten behindern zahlreiche Hemmnisse weiterhin die regionale Kooperation. Dazu gehören die sehr ungleiche Wirtschaftsentwicklung und Ressourcenausstattung der fünf Länder, noch immer ungelöste Grenzkonflikte zwischen Tadschikistan und Kirgistan, Interessengegensätze in Fragen der Wassernutzung, anhaltende Konnektivitätsprobleme sowie Handelsbarrieren aufgrund unterschiedlicher Zollsysteme. Diese Faktoren stehen gerade in den Schlüsselsektoren Energie, Wasser und Transport dem Aufbau regionaler Wertschöpfungsketten und ihrer globalen Einbindung im Wege.
Insgesamt zeigen die internen Kooperationsprozesse ein ambivalentes Bild. Eine eigenständige Regionalidentität hat sich bisher nicht herausgebildet, doch ist den fünf Regierungen bewusst, dass eine verstärkte Zusammenarbeit innerhalb Zentralasiens auch Bedingung dafür ist, nach außen hin profilierter zu agieren. Dass Letzteres angestrebt wird, lässt sich an dem Bemühen ablesen, in externen Beziehungen gemeinsam aufzutreten, etwa in den 5-plus-1-Formaten und bei globalen Konferenzen.
Handlungsempfehlungen für die deutsche Zentralasienpolitik
Von einer strategischen Regionalpartnerschaft können beide Seiten, Deutschland und die Staaten Zentralasiens, profitieren. Vor allem die Bekämpfung des Klimawandels und die (geo)ökonomische Diversifizierung in Schlüsselsektoren wie (grünen) Energien, Industrien und Technologien, bei Transport und kritischen Rohstoffen bieten ideale Handlungsfelder, um die bilateralen Beziehungen weiterzuentwickeln und die intraregionale Zusammenarbeit zu stärken.
Dabei gilt es anzuerkennen, dass die Region einen historischen Verbindungs- und Konkurrenzraum zwischen Asien, Kontinentaleurasien, dem Mittleren Osten und Europa bildet, aber zunehmend der geoökonomischen und geopolitischen Sogwirkung des Großraums Asien unterliegt. Für die deutsch-zentralasiatische Kooperation heißt das erstens, realistische Ziele zu formulieren und von überzogenen Erwartungen Abstand zu nehmen. Zwei Faktoren werden auch künftig den Kurs der zentralasiatischen Staatslenker bestimmen: der Einfluss Russlands und Chinas und der autoritäre Charakter der politischen Systeme in den fünf Ländern. Bei der Auswahl von Partnern und Projekten ist daher vorrangig zu berücksichtigen, in welchem Kontext sich das jeweilige Engagement bewegt: Wer sind die relevanten Akteure, welche Interessen verfolgen sie? Wer trifft die Entscheidungen? Wo gibt es potentiell Konflikte, welche Auswirkungen haben sie auf das Projektdesign?
Zweitens sollte die Zusammenarbeit strategisch angelegt sein. Dies erfordert langen Atem, Realitätssinn und Geduld. Die Gestaltungsmöglichkeiten Deutschlands und der EU in Zentralasien sind begrenzt, nicht nur wegen der geographischen Distanz, sondern auch deshalb, weil politische und finanzielle Ressourcen auf europäischer Seite an Limits stoßen. Hinzu kommt die Vielzahl an Akteuren, die in Zentralasien präsent sind und auf politische Entscheidungen dort Einfluss nehmen. Eine nachhaltige Vertiefung der Beziehungen setzt Akzeptanz der geopolitischen Realität Zentralasiens und der regionalen Prioritäten voraus. Die vier Handlungsfelder der anvisierten Regionalpartnerschaft gilt es vor diesem Hintergrund konzeptionell weiterzuentwickeln.
Wirtschaft, Energie, natürliche Ressourcen
Erstens sollte Deutschlands Rohstoffpartnerschaft mit Kasachstan ergänzt werden durch eine solche Partnerschaft mit Usbekistan – ein Schritt, der auch in eine trilaterale Rohstoff-, Klima- und Energiepartnerschaft münden könnte. Ein strategischer Einstieg deutscher Unternehmen in eine solche Kooperation ist allerdings nur dann denkbar und sinnvoll, wenn er politisch und mit Finanzinstrumenten begleitet wird.
Zweitens ist es angesichts der technischen und logistischen Engpässe innerhalb der Region erforderlich, weitere signifikante Investitionen in die physische Infrastruktur entlang des Mittleren Korridors zu tätigen. Besser werden muss auch der Wissenstransfer im Bereich der Logistik und der regulatorischen, rechtlichen, physischen und tariflichen Harmonisierung logistischer Dienstleistungen. Für den effizienten Betrieb des Korridors böte sich an, ein internationales Logistik-Konsortium zu etablieren, zumal deutsche Firmen die entsprechende Expertise besitzen. Dabei wären neben Kasachstan auch der Südkaukasus und die Türkei in die Überlegungen einzubeziehen.
Der Mittlere Korridor wird allerdings kaum Nutzen für die lokale Entwicklung bringen, wenn sich nicht weitere zentralasiatische Staaten daran beteiligen. Deshalb sollten Deutschland und die EU sich – drittens – für eine Logistik-Union innerhalb der Region, vor allem aber zwischen Usbekistan und Kasachstan, einsetzen. Basis dafür könnte das usbekisch-kasachische Industrie- und Logistikzentrum an der Grenze der beiden Länder bilden, das von Usbekistans Präsident Mirziyoyev vorgeschlagen wurde und demnächst gebaut werden soll. Dieses Zentrum ließe sich perspektivisch als maßgebliche Anlaufstelle nutzen, um Wissenstransfer und Ausbildung im Bereich eines integrierten Supply Chain und Cross-Border Management anzubieten. Zudem könnte es, wiederum perspektivisch, den Ausbau von Logistik-Korridoren in Richtung Süden und Osten begünstigen. Für Usbekistan könnte dies ein Anreiz sein, sich am Mittleren Korridor zu beteiligen und so auch dem Obstruktionspotential Russlands entgegenzuwirken.
Umwelt und Klima
Auf diesem Sektor hat sich, nicht zuletzt durch das von der Bundesregierung geförderte Projekt »Green Central Asia«, in den letzten Jahren ein konstruktiver Austausch zwischen den fünf zentralasiatischen Staaten entwickelt. Diese stehen nun vor der Herausforderung, hier Ressourcen zu bündeln und einen dauerhaften Interessensausgleich auf der Grundlage verbindlicher rechtlicher Vereinbarungen zu schaffen.
Fernziel wäre dabei, eine zentralasiatische Wasser- und Energiegemeinschaft zu entwickeln. Deutschlands Rolle könnte darin liegen, die bestehenden regionalen Dialogformate zu unterstützen und die Partner zu einer Gesamtbetrachtung des Wasser-Energie-Nexus zu ermutigen. Dasselbe gilt für die Etablierung erster bi- und minilateraler Formate für das Management von Wasserressourcen, die Deutschland beratend begleiten kann. Darüber hinaus sollten die zentralasiatischen Staaten bei der Modernisierung und vollständigen Inbetriebnahme des Stromnetzes CAPS unterstützt werden, ebenso bei der Reaktivierung weiterer Interkonnektoren innerhalb der Region, mit denen sich die Resilienz des Stromnetzes stärken lässt. Auch für den Ausbau grüner Energien und der Produktion von Wasserstoff wäre dies eine zentrale Voraussetzung.
Regionale Zusammenarbeit und Resilienz
Die regionale Dimension sollte in allen sektoralen Kooperationsbereichen gestärkt werden. In diesem Zusammenhang würde es sich anbieten, einen deutsch-zentralasiatischen Dialog zu etablieren, der dem Austausch von Erfahrungen bei der regionalen Zusammenarbeit und einem besseren Verständnis föderaler Prinzipien und geteilter Souveränität dient.
Darüber hinaus sollte das Interesse der zentralasiatischen Staaten an der Zusammenarbeit mit Afghanistan genutzt werden, um Kommunikationskanäle mit dem Taliban-Regime aufrechtzuerhalten. Kasachstan und vor allem Usbekistan arbeiten de facto schon jetzt in ausgewählten Bereichen mit den Machthabern in Kabul zusammen, wie etwa der Ausbau ihrer Handelsbeziehungen mit Afghanistan und usbekische Stromlieferungen dorthin zeigen. Gleichzeitig sehen sich Kasachstan und Usbekistan als mögliche Brücke zwischen den Taliban und der internationalen Gemeinschaft. Vor allem die usbekische Seite unterhält gute Beziehungen zu Ländern, die in Afghanistan engagiert sind (so China und die Golfstaaten), und könnte diese Kontakte im Sinne der internationalen Gemeinschaft noch stärker einsetzen – etwa bei Fragen der humanitären Hilfe, aber auch bei der Kommunikation mit dem Taliban-Regime.
Zwischengesellschaftliche Kontakte
Das vierte Handlungsfeld der strategischen Regionalpartnerschaft bildet die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit. Diese sollte auf allen Ebenen gefördert werden. Wirksame Instrumente wären das derzeit geplante Migrationsabkommen für Fachkräfte aus Usbekistan, die Förderung von Spracherwerb und mehr akademischer Austausch. Ausstellungsprojekte und andere kulturpolitische Initiativen wären hier ebenfalls relevant.
Überdies wird es darauf ankommen, den politischen Nachwuchs in Zentralasien stärker an Deutschland und Europa zu binden. Der parteiübergreifende Austausch von Entscheidungsträger:innen, den etwa die Robert-Bosch-Stiftung anbietet, ebenso wie der parlamentarische Austausch und die Hospitanzprogramme, welche die politischen Stiftungen organisieren, könnten geeignete Instrumente dafür sein. Auch Städtepartnerschaften ließen sich in diesem Zusammenhang nutzen.
Für alle Handlungsfelder gilt: Um die strategische Partnerschaft mit Zentralasien glaubwürdig zu gestalten und den Absichtserklärungen Taten folgen zu lassen, müssen Deutschland und die EU der Region mehr politische Aufmerksamkeit schenken, die Zusammenarbeit intensivieren und Entscheidungsprozesse beschleunigen. Dabei wird es auch darauf ankommen, dass die neue EU-Kommission nicht nur technokratische Programme umsetzt, sondern auch langfristig angelegte Impulse zur politischen Neuordnung der Arbeitsfelder gibt. Vor allem im Bereich Transport/Konnektivität und Wirtschaft wäre es geboten, die Aktivitäten der EU und einzelner Mitgliedstaaten durch bessere Abstimmung und Koordination miteinander zu verzahnen.
Es liegt im deutschen und europäischen Interesse, das positive Momentum in den Beziehungen mit den zentralasiatischen Staaten zu wahren. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Deutschland und Europa weiter an geopolitischen und geoökonomischen Gestaltungsmöglichkeiten in dieser Region verlieren. Sie könnten dann die Chance verpassen, das zentralasiatische Labor einer neuen multipolaren Weltordnung auch im Sinne verstärkter internationaler Kooperation zu nutzen.
Manfred Huterer war von Juli 2019 bis Juli 2023 deutscher Botschafter in Belarus und ist derzeit Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Dr. Jacopo Maria Pepe ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Dr. Andrea Schmitz ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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DOI: 10.18449/2024A30