Innerhalb weniger Tage hat sich das Coronavirus auch in Europa ausgebreitet, am stärksten ist bisher Italien betroffen. Trotz verständlicher nationaler Ängste können und müssen die europäischen Staaten solidarisch sein, meinen Nicolai von Ondarza, Bettina Rudloff und Pawel Tokarski.
Zum dritten Mal innerhalb von zehn Jahren steht Italien im Zentrum einer europäischen Krise. Obwohl die Interventionen der EZB den Anleihemarkt während der Krise in der Eurozone stabilisierten, musste das Land die wirtschaftlichen Probleme und die Migrationskrise weitgehend allein bewältigen. Diese langanhaltende Krisensituation, aber auch das Fehlen einer angemessenen Antwort der EU haben Italien, Gründungsmitglied und früher sehr pro-europäisch, zu einem der EU-skeptischsten Länder in der Union gemacht. Meinungsumfragen zeigen, dass die EU-kritische Rechtskoalition unter Führung des ehemaligen Innenministers Matteo Salvini die politische Landschaft dominiert, während die regierende gemäßigte Koalition in Rom auf wackligem Boden steht.
In der Corona-Krise ist Italien in Europa nun erneut das bei weitem am stärksten betroffene Land mit weiter steigenden Infektionszahlen und Todesfällen. Es traf zuerst den wirtschaftlichen Motor Norditalien, wo die Versorgungsstandards eigentlich zu den besten der OECD-Länder gehören. Nun ist das dortige Gesundheitssystem bis an die Grenzen überlastet. Es besteht ein Mangel an Schutzausrüstung, Atemschutzgeräten und Intensivbetten, was Ärzte zu Abwägungen zwingt, wer zuerst oder überhaupt behandelt werden kann. Die drastischen Quarantäne-Entscheidungen für das ganze Land sind ein nie dagewesener Einschnitt in die gewohnten bürgerlichen Freiheiten und werden das soziale und wirtschaftliche Leben für alle Italienerinnen und Italiener stark belasten.
Der Umgang mit der Corona-Krise wird aber auch zu einer Bewährungsprobe für den Zusammenhalt in der Europäischen Union. Die großen Krisen des letzten Jahrzehnts, die die EU zum Teil existentiell erschüttert haben, gingen jeweils auch auf externe Auslöser zurück. Die Finanzkrise, ausgelöst in den USA, wuchs sich zur europäischen Schuldenkrise aus. Der Bürgerkrieg in Syrien und die anhaltend unsichere Lage in Afghanistan stellten Europa vor die Herausforderung, 2015/16 eine große Anzahl Geflüchteter aufzunehmen. In beiden Fällen trafen externe Schocks auf halbfertige europäische Integrationsprojekte, in denen die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht rechtzeitig in der Lage waren, gemeinsame Antworten auf gemeinsame Herausforderungen zu finden.
Nun steht die EU erneut vor einer solchen Bewährungsprobe. Als Solidargemeinschaft beruht ihre Legitimität auch darauf, dass sich die EU-Staaten in extremen Notsituationen unterstützen. Laut dem italienischen EU-Botschafter Maurizio Massari hat Italien aber trotz Anfragen bisher noch von keinem EU-Staat Unterstützung angeboten bekommen – aber von China. Da sich das Virus in mittlerweile allen Mitgliedstaaten der Union ausgebreitet hat, benötigt anders als bei lokal begrenzten Naturkatastrophen wie Erdbeben potentiell jeder EU-Staat seine eigenen Kapazitäten. Doch wenn jeder Mitgliedstaat nur für sich selbst kämpft, verliert die EU nicht nur ein Stück ihrer Daseinsberechtigung, sie schafft es auch nicht, die begrenzten Ressourcen denjenigen zur Verfügung zu stellen, die sie am nötigsten brauchen.
Die EU sollte jetzt schnell und kreativ die durchaus bestehenden Ansätze für solidarische Hilfen bei Katastrophen nutzen; mit der Solidaritätsklausel in Art. 222 AEUV hat die EU eine Basis für Entscheidungen in diesem Zusammenhang. Sie ermöglicht es der Union, »alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel« zu mobilisieren, wenn ein Mitgliedstaat etwa von einer Naturkatastrophe betroffen ist. Sie kann dann die Vielzahl ihrer verfügbaren Instrumente daraufhin überprüfen, wie diese in den stark betroffenen EU-Staaten helfen können. Damit kann sie nennenswerte Unterstützung organisieren – aber nur dann, wenn die Mitgliedstaaten die dringend benötigten materiellen Hilfen zur Verfügung stellen. Hier kommt es entscheidend auf die Bereitschaft zur Solidarität an.
Die von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen gegründete Coronavirus-Task-Force und alle Mitgliedstaaten müssen darüber hinaus pragmatisch und kreativ weitere Möglichkeiten der Solidarität nutzen. In diesem Sinne sollten auch Unternehmen einbezogen werden, die in bestehenden EU-Ansätzen zum Schutz kritischer Infrastrukturen – hierzu gehört auch die medizinische Versorgung – als »Betreiber« relevanter Kapazitäten genannt werden. Sie spielen insofern nicht nur als Empfänger dringender Wirtschaftshilfen eine Rolle, sondern auch als Unterstützer in der Krise. Die EU könnte beispielsweise koordinieren, wer welche Teile etwa für Schutzausrüstung produziert, und dafür sorgen, dass sie dort verteilt werden, wo sie am Nötigsten sind – heute in Italien, morgen in Frankreich und übermorgen in Deutschland. Das wäre ein politisch sinnvolles Signal, anders als das von Frankreich und Deutschland eingeführte Exportverbot für diese Produkte. Dieses ist zwar aus nationaler Sorge verständlich, untergräbt aber die Solidarität in der EU und ist am Ende auch ineffektiver als eine gemeinsame Pandemiebekämpfung.
Neben primär gesundheitsrelevanten Hilfen sind aber auch wirtschaftspolitische Instrumente dringend nötig, um die Folgen in Italien und im Rest der EU auch nach Abebben der Infektionswelle abzufangen. Schon vor dem Ausbruch der Corona-Krise stand die italienische Wirtschaft am Rande einer Rezession. Früher oder später wird sich die Krise dort sehr negativ auf öffentliche Finanzen, Bankensektor und die reale Wirtschaft auswirken. Bevor die Anleger auf dem italienischen Anleihenmarkt zu spekulieren beginnen, sind vorbeugende Maßnahmen erforderlich.
Es ist nun wichtig, ein umfassendes Signal an Italien zu senden, dass die EU das Land nicht allein lässt – nicht im Kampf gegen das Virus und nicht mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Die gemeinsamen Institutionen der EU, die Europäische Zentralbank, der Europäische Stabilitätsmechanismus und die Europäische Kommission auf der einen Seite und Deutschland und Frankreich als größte EU-Wirtschaften auf der anderen Seite sollten deutlich machen, dass Italien und alle anderen betroffenen EU-Staaten auf umfangreiche materielle und finanzielle Unterstützung zählen können. Je später ein solches Signal gesendet wird, desto höher könnten die Kosten letztlich ausfallen – menschlich, wirtschaftlich und für die Legitimation der EU.
Eine Agenda für die deutsche Ratspräsidentschaft
doi:10.18449/2020A15
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der SWP schauen aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Corona-Krise. Wir haben drei davon befragt: Maike Voss, Expertin für Globale Gesundheitspolitik, Nadine Godehardt, China-Expertin, und Hanns Günther Hilpert, Experte für Asiens Wirtschaft.
Warum die Eindämmung von Infektionskrankheiten allein nicht ausreicht
doi:10.18449/2019A41
Herausforderungen einer strategischen Neuausrichtung für Deutschland