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Globale Gesundheitspolitik der EU

Eine Agenda für die deutsche Ratspräsidentschaft

SWP-Aktuell 2020/A 15, 09.03.2020, 4 Pages

doi:10.18449/2020A15

Research Areas

Deutschland übernimmt in der zweiten Jahreshälfte 2020 die EU-Ratspräsidentschaft. Im Trio mit Portugal und Slowenien, die in dieser Funktion nachfolgen werden, sollte die Bundesregierung den Vorsitz nutzen, um die Rolle der EU in der globalen Gesund­heitspolitik zu stärken. Auf diesem Feld richtet die EU den Fokus in der Außendimen­sion bislang vor allem auf den Infektionsschutz, aktuell auch in Reak­tion auf den Ausbruch des Coronavirus (Covid-19). Um einen Beitrag zu den Nachhaltigkeits­zielen der Vereinten Nationen zu leisten, sollte sie den Blick jedoch stärker auf um­fassende Gesundheitssysteme richten. Dafür braucht es auf EU-Ebene einen intersektoralen und präventiven Ansatz. Dies öffnet die Tür für kohärente Zusammenarbeit, Allianzen und eine menschenzentrierte Politik in Einklang mit europäischen Werten.

Innerhalb der EU trägt die Europäische Kommission zur Verbesserung der Gesund­heit bei. Sie ergänzt hier die Politik der Mit­gliedstaaten. In der Außendimension sieht sich die Kommission dem Ziel globaler Ge­sundheit verpflichtet. Darunter fasst sie das Bestreben, die Gesundheit von Menschen weltweit zu verbessern, Ungleichheiten abzubauen und Schutz vor globalen Ge­sundheitsgefahren zu gewährleisten. Laut Schlussfolgerungen des EU-Rats von 2010 geht es hier auf Ebene der Union um Hand­lungen im Sinne der Außen- und Entwicklungspolitik sowie der Kooperation mit Drittstaaten und internationalen Orga­nisa­tionen. Aktuell wird die gesundheits­politi­sche Rolle der EU auf internationalem Par­kett durch den Brexit herausgefordert. 2016 stellte Großbritannien rund 12 Pro­zent des EU-Budgets für öffentliche Ent­wicklungs­hilfe bereit. Zudem entfällt Lon­dons ge­sundheitspolitische Verhandlungsstärke; gemein­same Gesundheitsforschung muss neu verhandelt werden.

Rechtliche Handlungsoptionen

Ziele der globalen EU-Gesundheitspolitik sind laut der Schlussfolgerungen von 2010:

  • Verringerung von weltweiten gesundheitlichen Ungleichheiten durch einen Gerechtigkeitsansatz und durch Zugang zu allgemeiner Gesundheitsversorgung

  • Berücksichtigung von Gesundheit in den Außenpolitiken (»Health in All Policies«)

  • Fokus nicht nur auf Entwicklungspolitik, sondern auch auf Handel, Migration, Sicherheit, Ernährungssicherheit, Forschung, Umwelt und Klima

Im Vertrag über die Arbeitsweise der EU stärkt Artikel 168 die Kompetenzen der Union in der globalen Gesundheitspolitik. Demnach lässt sich das internationale Han­deln der EU im Gesundheitsbereich vor­nehmlich mit zwei Rationalen begründen: dem Menschenrecht auf Gesundheit und dem Gesundheitsschutz der europäischen Bevölkerung. Idealerweise ergänzen die beiden Ansätze einander. Sie können sich aber auch im Wege stehen, wenn Maßnah­men zum Gesundheitsschutz menschenrechtliche Implikationen nicht berücksichtigen. Europäische und weltweite Interessen wie die Durchsetzung von Menschen­rechten und eine nachhaltige Entwicklung sollen auch global gefördert werden, heißt es in Artikel 3 des Vertrags über die EU.

Eine, zwei, viele globale Gesundheitspolitiken der EU

Nur wenige EU-Staaten haben eigene globa­le Gesundheitsstrategien entwickelt. Groß­britannien ging hier 2008 voran. Deutschland veröffentlichte 2013 ein erstes Kon­zept, Frankreich 2017. Beide Länder priori­sierten neben Infektionsschutz auch die Stär­kung von Gesundheitssystemen. An die Nachhaltigkeitsagenda 2030 der Verein­ten Nationen (VN) knüpfte Schwedens Stra­tegie von 2018 an, ebenso eine Konferenz zur »Ökonomie des Wohlbefindens«, die 2019 unter finni­scher Ratspräsidentschaft stattfand.

Die EU berücksichtigt nachhaltige Entwicklung noch nicht ausreichend in ihrer globalen Gesundheitspolitik. Dies zeigt auch ein Blick auf die Schwerpunkte der EU-Institutionen bei globaler Gesundheit (siehe Übersicht 1). Viele Akteure fokussieren sich in ihrer externen Politik auf die Forschung zu Krankheiten und den Schutz davor. Dies zeigt sich derzeit im Einsatz gegen die Ver­breitung des Coronavirus. Brüssel koordinierte im Rahmen des Katastrophenschutz­mechanismus die Rückführung von bisher fast 500 Bürgerinnen und Bürgern der EU und ließ Schutzausrüstung an China lie­fern. Zugleich stellte die EU 242 Millionen Euro für Forschungszwecke und die Stär­kung weltweiter Vorsorge, Vorbeugung und Eindämmung bereit.

Eine direkte Verbindung zwischen Han­del und Gesundheit fehlt auf EU-Ebene. Während die Generaldirektion Handel mit dem Zugang zu Medikamenten befasst ist, hat sie kaum im Blick, welche Negativ­folgen niedrige Zölle auf gesundheitsschäd­liche Güter wie Tabak haben. Und trotz des »Health in All Policies«-Ansatzes scheinen der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) und die Generaldirektionen für Umwelt und Klima auf dem Feld globaler Gesundheit wenig sichtbar zu sein. Im Fall von Notlagen wie dem Coronavirus-Ausbruch und darüber hinaus könnte der EAD die Maßnahmen der Brüs­seler Direktionen und Agenturen bündeln und als Kontaktstelle für betroffene Länder dienen. Dies entsprä­che einer koordinierten Arbeitsteilung auf europäischer Ebene im Bereich globaler Gesundheit. Der neugeschaffene Krisenstab der EU ist ein guter Anfang.

Herausforderungen für die EU

Das Ziel, die globalen Gesundheitspolitiken zu harmonisieren, stellt die EU vor Heraus­forderungen, die ihre Sichtbarkeit, Effekti­vität und Bedarfsorientierung mindern. Wie Eurostat, die Datenbank Global Health Expenditure und der aktuelle Europäische Gesundheitsbericht der Weltgesundheits­organisation (WHO) zeigen, gibt es erheb­liche Unterschiede zwischen EU-Ländern, was Finanzierung und Qualität der Gesund­heitsversorgung betrifft. Bei den Staatsausgaben für die Gesundheit der Bevölkerung liegt Deutschland mit rund 11 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt nach Frankreich auf Platz zwei; Schlusslicht ist Rumänien mit knapp über 5 Prozent – vergleichbar Kenia und Myanmar. Dabei beeinflussen gesund­heitliche Ungleichheiten innerhalb der EU, wie glaubwürdig und durchsetzungsfähig sie auf diesem Feld nach außen hin ist.

International wird der Abbau von Ungleichheiten dadurch erschwert, dass sich die EU und einige Mitgliedstaaten stark auf die Bekämpfung bestimmter Krankheiten konzentrieren. Vernachlässigt werden so­ziale wie ökologische Faktoren, die Einfluss auf die Gesundheit nehmen. Stärker als bisher gefragt sind daher gesundheits­systemische Ansätze, die sowohl Krankheitseindämmung als auch präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen mit­einbeziehen. Diese Notwendigkeit zeigt sich aktuell im Fall von Covid-19. Die Brüsse­ler Entwicklungspolitik könnte hier ver­mehrt Maßnahmen anbieten, um China, dessen Nachbarländer und generell Staaten mit schwachen Gesundheitsstrukturen zu ent­lasten. Insgesamt steht die EU vor der Herausforderung, ihre Politiken systemischer und koordinierter zu gestalten; eben­so gilt es, Bereiche wie Handel oder Klima mit einem präventiven und gesundheitsfördernden Ansatz stärker einzubeziehen.

Potentiale der EU

Übersicht 1

Über Potentiale verfügt die EU vor allem auf finanzieller, inhaltlicher und multilateraler Ebene. Durch ihren mehrjährigen Finanzrahmen hat sie mittelfristige Pla­nungssicherheit. Da Erfolge in globaler Gesundheitspolitik meist nur zeitversetzt messbar sind, ist Kontinuität ausschlag­gebend. Inhaltlich ist die EU wesentlich breiter aufgestellt als andere gesundheits­relevante Organisationen, da sie sich nicht nur mit Gesundheit befasst, sondern ebenso mit allen weiteren Politikfeldern. Diesen Vorteil der Expertise kann die EU in ihren internationalen Kanälen auf dem Gesundheitssektor einsetzen; so sitzt sie, wie auch die Bundesregierung, im Verwaltungs­gremium des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria, einer der finanzstärksten Institutionen der globalen Gesundheit. Beim nächsten Tref­fen des Gremiums im Mai könnte die EU ihren politischen Einfluss zusammen mit einzel­nen Mitgliedstaaten geltend machen und für systemische, intersektorale An­sätze ein­treten. Gleichzeitig unterhält die EU multi­laterale Kontakte wie im Rah­men ihrer Part­­nerschaft mit der Afrikanischen Union (AU), die sie für globale Ge­sundheit nutzen kann.

Empfehlungen

Es bedarf stärkeren Engagements, damit sich der europäische Anspruch erfüllen lässt, globale Gesundheitspolitik in effek­tiver und gerechter Weise zu betreiben. Deutschland kann mit dem Thema globale Gesundheit während seiner Ratspräsidentschaft einen Beitrag für die VN-Agenda 2030 leisten. Positiv auswirken könnten sich dabei die folgenden Faktoren.

Mainstreaming von globaler Gesundheit: In Brüssel ließe sich Gesundheit besser mit anderen Politikfeldern verknüpfen, wenn vorab eine Ressortabstimmung in Deutschland erfolgt. Durch nationale Koordination kann das Thema entsprechend in Rats­arbeits­gruppen (unter ande­rem zu Gesund­heit, Entwicklungszusam­menarbeit, Han­del, Menschenrechte) ein­gebracht werden. Beim Handel etwa ist es möglich, Gesundheit in die Nachhaltigkeitskapitel von Han­delsabkommen zu integrieren, indem ver­bindliche Nach­haltigkeitsprüfungen vorge­schrieben werden. Hilfreich wäre, das Glo­bal Health Policy Forum zum Aus­tausch zwischen den Sekto­ren zu reaktivieren.

Aktualisierung der Ratsschlussfolgerungen: Um die globale Gesundheitspolitik der EU an die Aktionsdekade zur Erreichung der VN-Nachhaltigkeitsziele anzu­docken, soll­ten die Ratsschluss­folgerungen von 2010 aktualisiert werden. Deutschland könnte hierzu die Ent­wicklung einer Road­map in­klusive Über­prüfungsmechanismen anregen.

OECD-Gesundheitskategorien: Damit sich Entwicklungen und Lücken in der globalen Gesundheitspolitik erkennen las­sen, ist ein Kategoriensystem zur Erfassung natio­naler und interna­tionaler Ge­sundheitsaus­ga­ben erforderlich, das die Dimensionen der Gesundheitssystemstärkung abbildet. Zu diesem Zweck könnte Deutschland den Anstoß geben, das aktuel­le Kategorien­system in Zusammenarbeit mit WHO und OECD an WHO-Standards und die Nachhaltigkeits­ziele der VN anzu­passen.

Partnerschaften: International sollte die EU ihre Soft Power im Gesundheitsbereich durch strategische Partnerschaften stär­ken. Denkbar wäre, gemeinsame Positionen mit der Afrikanischen Union zu ent­wickeln und Plattformen wie den jähr­lichen EU-AU-Menschenrechtsdialog für entwicklungspolitische Gesundheits­themen zu nutzen. Ak­zente setzen könn­te Deutschland hier auch vor dem Hintergrund des nächsten AU-EU-Gipfels, der Ende 2020 stattfinden soll.

Parlamentarische Beteiligung: Mit der deut­schen EU-Ratspräsidentschaft wird der Bundestag zum Präsidentschaftsparlament. Diese parlamentarische Dimension kann genutzt werden, um globale Gesundheit bei interparlamentarischen Veranstaltungen einzubeziehen.

Deutschland könnte die Trio-Präsident­schaft mit Portugal und Slowenien als lang­fristige Chance begreifen. Als Ziel empfiehlt sich eine harmonisierte, gerechte Gesundheitssystemstärkung als Merkmal für werte­basiertes europäisches Handeln. Mit dem Thema Gesundheit kann die EU sowohl ihre Soft Power auf diplomatischer Bühne als auch ihre Hard Power etwa im Bereich Handel erhöhen.

Susan Bergner und Maike Voss sind Wissenschaftlerinnen in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Sie arbeiten im Projekt »Globale Gesundheit«, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert wird.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364