Deutschland übernimmt in der zweiten Jahreshälfte 2020 die EU-Ratspräsidentschaft. Im Trio mit Portugal und Slowenien, die in dieser Funktion nachfolgen werden, sollte die Bundesregierung den Vorsitz nutzen, um die Rolle der EU in der globalen Gesundheitspolitik zu stärken. Auf diesem Feld richtet die EU den Fokus in der Außendimension bislang vor allem auf den Infektionsschutz, aktuell auch in Reaktion auf den Ausbruch des Coronavirus (Covid-19). Um einen Beitrag zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen zu leisten, sollte sie den Blick jedoch stärker auf umfassende Gesundheitssysteme richten. Dafür braucht es auf EU-Ebene einen intersektoralen und präventiven Ansatz. Dies öffnet die Tür für kohärente Zusammenarbeit, Allianzen und eine menschenzentrierte Politik in Einklang mit europäischen Werten.
Innerhalb der EU trägt die Europäische Kommission zur Verbesserung der Gesundheit bei. Sie ergänzt hier die Politik der Mitgliedstaaten. In der Außendimension sieht sich die Kommission dem Ziel globaler Gesundheit verpflichtet. Darunter fasst sie das Bestreben, die Gesundheit von Menschen weltweit zu verbessern, Ungleichheiten abzubauen und Schutz vor globalen Gesundheitsgefahren zu gewährleisten. Laut Schlussfolgerungen des EU-Rats von 2010 geht es hier auf Ebene der Union um Handlungen im Sinne der Außen- und Entwicklungspolitik sowie der Kooperation mit Drittstaaten und internationalen Organisationen. Aktuell wird die gesundheitspolitische Rolle der EU auf internationalem Parkett durch den Brexit herausgefordert. 2016 stellte Großbritannien rund 12 Prozent des EU-Budgets für öffentliche Entwicklungshilfe bereit. Zudem entfällt Londons gesundheitspolitische Verhandlungsstärke; gemeinsame Gesundheitsforschung muss neu verhandelt werden.
Rechtliche Handlungsoptionen
Ziele der globalen EU-Gesundheitspolitik sind laut der Schlussfolgerungen von 2010:
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Verringerung von weltweiten gesundheitlichen Ungleichheiten durch einen Gerechtigkeitsansatz und durch Zugang zu allgemeiner Gesundheitsversorgung
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Berücksichtigung von Gesundheit in den Außenpolitiken (»Health in All Policies«)
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Fokus nicht nur auf Entwicklungspolitik, sondern auch auf Handel, Migration, Sicherheit, Ernährungssicherheit, Forschung, Umwelt und Klima
Im Vertrag über die Arbeitsweise der EU stärkt Artikel 168 die Kompetenzen der Union in der globalen Gesundheitspolitik. Demnach lässt sich das internationale Handeln der EU im Gesundheitsbereich vornehmlich mit zwei Rationalen begründen: dem Menschenrecht auf Gesundheit und dem Gesundheitsschutz der europäischen Bevölkerung. Idealerweise ergänzen die beiden Ansätze einander. Sie können sich aber auch im Wege stehen, wenn Maßnahmen zum Gesundheitsschutz menschenrechtliche Implikationen nicht berücksichtigen. Europäische und weltweite Interessen wie die Durchsetzung von Menschenrechten und eine nachhaltige Entwicklung sollen auch global gefördert werden, heißt es in Artikel 3 des Vertrags über die EU.
Eine, zwei, viele globale Gesundheitspolitiken der EU
Nur wenige EU-Staaten haben eigene globale Gesundheitsstrategien entwickelt. Großbritannien ging hier 2008 voran. Deutschland veröffentlichte 2013 ein erstes Konzept, Frankreich 2017. Beide Länder priorisierten neben Infektionsschutz auch die Stärkung von Gesundheitssystemen. An die Nachhaltigkeitsagenda 2030 der Vereinten Nationen (VN) knüpfte Schwedens Strategie von 2018 an, ebenso eine Konferenz zur »Ökonomie des Wohlbefindens«, die 2019 unter finnischer Ratspräsidentschaft stattfand.
Die EU berücksichtigt nachhaltige Entwicklung noch nicht ausreichend in ihrer globalen Gesundheitspolitik. Dies zeigt auch ein Blick auf die Schwerpunkte der EU-Institutionen bei globaler Gesundheit (siehe Übersicht 1). Viele Akteure fokussieren sich in ihrer externen Politik auf die Forschung zu Krankheiten und den Schutz davor. Dies zeigt sich derzeit im Einsatz gegen die Verbreitung des Coronavirus. Brüssel koordinierte im Rahmen des Katastrophenschutzmechanismus die Rückführung von bisher fast 500 Bürgerinnen und Bürgern der EU und ließ Schutzausrüstung an China liefern. Zugleich stellte die EU 242 Millionen Euro für Forschungszwecke und die Stärkung weltweiter Vorsorge, Vorbeugung und Eindämmung bereit.
Eine direkte Verbindung zwischen Handel und Gesundheit fehlt auf EU-Ebene. Während die Generaldirektion Handel mit dem Zugang zu Medikamenten befasst ist, hat sie kaum im Blick, welche Negativfolgen niedrige Zölle auf gesundheitsschädliche Güter wie Tabak haben. Und trotz des »Health in All Policies«-Ansatzes scheinen der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) und die Generaldirektionen für Umwelt und Klima auf dem Feld globaler Gesundheit wenig sichtbar zu sein. Im Fall von Notlagen wie dem Coronavirus-Ausbruch und darüber hinaus könnte der EAD die Maßnahmen der Brüsseler Direktionen und Agenturen bündeln und als Kontaktstelle für betroffene Länder dienen. Dies entspräche einer koordinierten Arbeitsteilung auf europäischer Ebene im Bereich globaler Gesundheit. Der neugeschaffene Krisenstab der EU ist ein guter Anfang.
Herausforderungen für die EU
Das Ziel, die globalen Gesundheitspolitiken zu harmonisieren, stellt die EU vor Herausforderungen, die ihre Sichtbarkeit, Effektivität und Bedarfsorientierung mindern. Wie Eurostat, die Datenbank Global Health Expenditure und der aktuelle Europäische Gesundheitsbericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigen, gibt es erhebliche Unterschiede zwischen EU-Ländern, was Finanzierung und Qualität der Gesundheitsversorgung betrifft. Bei den Staatsausgaben für die Gesundheit der Bevölkerung liegt Deutschland mit rund 11 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt nach Frankreich auf Platz zwei; Schlusslicht ist Rumänien mit knapp über 5 Prozent – vergleichbar Kenia und Myanmar. Dabei beeinflussen gesundheitliche Ungleichheiten innerhalb der EU, wie glaubwürdig und durchsetzungsfähig sie auf diesem Feld nach außen hin ist.
International wird der Abbau von Ungleichheiten dadurch erschwert, dass sich die EU und einige Mitgliedstaaten stark auf die Bekämpfung bestimmter Krankheiten konzentrieren. Vernachlässigt werden soziale wie ökologische Faktoren, die Einfluss auf die Gesundheit nehmen. Stärker als bisher gefragt sind daher gesundheitssystemische Ansätze, die sowohl Krankheitseindämmung als auch präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen miteinbeziehen. Diese Notwendigkeit zeigt sich aktuell im Fall von Covid-19. Die Brüsseler Entwicklungspolitik könnte hier vermehrt Maßnahmen anbieten, um China, dessen Nachbarländer und generell Staaten mit schwachen Gesundheitsstrukturen zu entlasten. Insgesamt steht die EU vor der Herausforderung, ihre Politiken systemischer und koordinierter zu gestalten; ebenso gilt es, Bereiche wie Handel oder Klima mit einem präventiven und gesundheitsfördernden Ansatz stärker einzubeziehen.
Potentiale der EU
Über Potentiale verfügt die EU vor allem auf finanzieller, inhaltlicher und multilateraler Ebene. Durch ihren mehrjährigen Finanzrahmen hat sie mittelfristige Planungssicherheit. Da Erfolge in globaler Gesundheitspolitik meist nur zeitversetzt messbar sind, ist Kontinuität ausschlaggebend. Inhaltlich ist die EU wesentlich breiter aufgestellt als andere gesundheitsrelevante Organisationen, da sie sich nicht nur mit Gesundheit befasst, sondern ebenso mit allen weiteren Politikfeldern. Diesen Vorteil der Expertise kann die EU in ihren internationalen Kanälen auf dem Gesundheitssektor einsetzen; so sitzt sie, wie auch die Bundesregierung, im Verwaltungsgremium des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria, einer der finanzstärksten Institutionen der globalen Gesundheit. Beim nächsten Treffen des Gremiums im Mai könnte die EU ihren politischen Einfluss zusammen mit einzelnen Mitgliedstaaten geltend machen und für systemische, intersektorale Ansätze eintreten. Gleichzeitig unterhält die EU multilaterale Kontakte wie im Rahmen ihrer Partnerschaft mit der Afrikanischen Union (AU), die sie für globale Gesundheit nutzen kann.
Empfehlungen
Es bedarf stärkeren Engagements, damit sich der europäische Anspruch erfüllen lässt, globale Gesundheitspolitik in effektiver und gerechter Weise zu betreiben. Deutschland kann mit dem Thema globale Gesundheit während seiner Ratspräsidentschaft einen Beitrag für die VN-Agenda 2030 leisten. Positiv auswirken könnten sich dabei die folgenden Faktoren.
Mainstreaming von globaler Gesundheit: In Brüssel ließe sich Gesundheit besser mit anderen Politikfeldern verknüpfen, wenn vorab eine Ressortabstimmung in Deutschland erfolgt. Durch nationale Koordination kann das Thema entsprechend in Ratsarbeitsgruppen (unter anderem zu Gesundheit, Entwicklungszusammenarbeit, Handel, Menschenrechte) eingebracht werden. Beim Handel etwa ist es möglich, Gesundheit in die Nachhaltigkeitskapitel von Handelsabkommen zu integrieren, indem verbindliche Nachhaltigkeitsprüfungen vorgeschrieben werden. Hilfreich wäre, das Global Health Policy Forum zum Austausch zwischen den Sektoren zu reaktivieren.
Aktualisierung der Ratsschlussfolgerungen: Um die globale Gesundheitspolitik der EU an die Aktionsdekade zur Erreichung der VN-Nachhaltigkeitsziele anzudocken, sollten die Ratsschlussfolgerungen von 2010 aktualisiert werden. Deutschland könnte hierzu die Entwicklung einer Roadmap inklusive Überprüfungsmechanismen anregen.
OECD-Gesundheitskategorien: Damit sich Entwicklungen und Lücken in der globalen Gesundheitspolitik erkennen lassen, ist ein Kategoriensystem zur Erfassung nationaler und internationaler Gesundheitsausgaben erforderlich, das die Dimensionen der Gesundheitssystemstärkung abbildet. Zu diesem Zweck könnte Deutschland den Anstoß geben, das aktuelle Kategoriensystem in Zusammenarbeit mit WHO und OECD an WHO-Standards und die Nachhaltigkeitsziele der VN anzupassen.
Partnerschaften: International sollte die EU ihre Soft Power im Gesundheitsbereich durch strategische Partnerschaften stärken. Denkbar wäre, gemeinsame Positionen mit der Afrikanischen Union zu entwickeln und Plattformen wie den jährlichen EU-AU-Menschenrechtsdialog für entwicklungspolitische Gesundheitsthemen zu nutzen. Akzente setzen könnte Deutschland hier auch vor dem Hintergrund des nächsten AU-EU-Gipfels, der Ende 2020 stattfinden soll.
Parlamentarische Beteiligung: Mit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wird der Bundestag zum Präsidentschaftsparlament. Diese parlamentarische Dimension kann genutzt werden, um globale Gesundheit bei interparlamentarischen Veranstaltungen einzubeziehen.
Deutschland könnte die Trio-Präsidentschaft mit Portugal und Slowenien als langfristige Chance begreifen. Als Ziel empfiehlt sich eine harmonisierte, gerechte Gesundheitssystemstärkung als Merkmal für wertebasiertes europäisches Handeln. Mit dem Thema Gesundheit kann die EU sowohl ihre Soft Power auf diplomatischer Bühne als auch ihre Hard Power etwa im Bereich Handel erhöhen.
Susan Bergner und Maike Voss sind Wissenschaftlerinnen in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Sie arbeiten im Projekt »Globale Gesundheit«, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert wird.
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doi: 10.18449/2020A15