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WTO-Verhandlungen zum Agrarabkommen: Indien legt den Finger in die Wunde

EU und USA warnen vor einem Scheitern der WTO-Agrarverhandlungen und verurteilen dabei die starre Haltung Indiens. Tatsächlich aber legt Indien den Finger zu Recht in die Wunde, meint Bettina Rudloff.

Kurz gesagt, 05.12.2013 Forschungsgebiete

EU und USA warnen vor einem Scheitern der WTO-Agrarverhandlungen und verurteilen dabei die starre Haltung Indiens. Tatsächlich aber legt Indien den Finger zu Recht in die Wunde, meint Bettina Rudloff.

Indiens Haltung zu Nahrungssubventionen wird schon vor Beginn der Verhandlungen über eine Neufassung des WTO-Agrarabkommens von 1994 in dieser Woche als Grund für deren mögliches Scheitern angeführt. Indien wolle auf Teufel komm raus eine ähnliche Agrarpolitik durchsetzen wie seinerzeit die EU: ein nationales Nahrungsprogramm sieht vor, umfassende Subventionen zum Aufbau von Nahrungsreserven zu zahlen. Indien sei unzugänglich für jede Kritik, vor allem der EU und der USA, und sperre sich sogar gegen den Kompromiss, diese Subventionen zeitlich zu befristen.

Die Vorwürfe versperren den Blick auf generelle Schwächen im WTO-Agrarabkommen, das seit Jahrzehnten wirtschaftsstarken, ihre Landwirtschaft stark subventionierenden Agrarexporteuren zugutekommt. Was Indien fordert, ist letztlich nur, dass die Belange nahrungsmittelimportierender Entwicklungsländer endlich stärker berücksichtigt werden. Angesichts der Veränderungen auf den  Weltmärkten ist das überfällig.

Mit dem Abkommen von 1994 schützten sich Agrarexporteure vor niedrigen Preisen

Beim Abschluss des Abkommens im Jahre 1994 sah die Agrarwelt ganz anders aus als heute – die Preise lagen deutlich unter dem derzeitigen Niveau, Zoll- und Subventionsniveaus großer Agrarländer dagegen in schwindelerregenden Höhen. Die damals einflussreichen WTO-Staaten wie die EU, die USA, aber auch Australien und Argentinien waren Agrarexporteure. Deren verständliches Verhandlungsziel war es, sich gegen geringe Preise abzusichern und den Marktzugang in andere Länder zu erhalten. Entsprechend ist es ihnen gelungen, verpflichtende Zollsenkungen auszuhandeln. Bei Export- und bei einkommensunterstützenden Subventionen dagegen, die die finanzstarken Staaten sich leisteten, wurden viele Ausnahmen zugelassen.

Diese Subventionen erhöhten künstlich die Konkurrenzfähigkeit und hielten die finanzschwachen Entwicklungsländer vom Exportmarkt fern. Zudem führte die durch das Agrarabkommen angestoßene Marktöffnung generell zu einem Preisauftrieb auf den Weltmärkten, was einmal mehr den Agrarexporteuren zupass kam, aber für viele der nahrungsimportierenden Entwicklungsländer das Risiko für Hunger und Armut erhöhte. Dieses Risiko steigender Preise gerade durch die Liberalisierung haben die Verhandlungsführer 1994 durchaus erkannt und in Präambel und Artikel 16 des Agrarabkommens sowie einer eigenen WTO-Entscheidung betont.

Die Verhandlungsführer von 1994 lagen richtig: Das Agrarpreisniveau liegt heute deutlich über dem damaligen Niveau. 2008 und 2011 kam es zu so starken Preispeaks, dass die Preise von Grundnahrungsmitteln sich auch auf lokalen Märkten innerhalb weniger Tage verdreifachten. Eine Situation, die viele Menschen in den Hunger stürzte. Die internationale Staatengemeinschaft reagierte darauf auf vielen unterschiedlichen Ebenen, von den Vereinten Nationen bis zur G20, mit Initiativen, die solche Preisschwankungen verhindern oder zumindest ihre Effekte abmildern sollten. Dabei ist es ein verbreiteter Ansatz zu fordern, dass in den betroffenen Staaten Nahrungsreserven gebildet werden. Um diese sinnvollen Initiativen zu unterstützen,  ist es unerlässlich, eine klare rechtliche Basis im WTO-Regelwerk zu schaffen.

Subventionierter Reserveaufbau nach WTO erlaubt - nur in welcher Höhe?

Indien nun plant, eine solche empfohlene Reserve aufzubauen. Dies erlaubt das Agrarabkommen von 1994 auch, sogar mittels Subventionen. Diese sind auch nötig, um Anreize für den Reserveaufbau zu schaffen. Wieso sollte ein Bauer seine Waren ansonsten nicht lieber auf dem Markt verkaufen? Diese Subventionen aber müssen bestimmte Kriterien erfüllen und dürfen, wie die historischen EU-Subventionen auch, eine definierte Obergrenze nicht überschreiten – sie zählen also gerade nicht, wie die neueren EU-Transferzahlungen, zu den unbegrenzt erlaubten, marktneutralen »Green Box»-Subventionen.

Da aber die Preise seit dem Abkommen 1994 gestiegen sind, wäre es sinnvoll, nunmehr höhere Subventionen als Anreiz zuzulassen als damals. Ansonsten ist ein Ausbau solcher subventionierter Reserven nur begrenzt möglich. Entsprechend fordert Indien, diese Subventionsart komplett als »Green Box»-Maßnahme zu erlauben. Im Prinzip gibt es eine Vielzahl solcher Ausnahmen ohnehin schon für Zahlungen, deren Marktneutralität ebenfalls als fragwürdig angesehen werden kann - etwa für die landwirtschaftliche Förderung in regional benachteiligten Gebieten. Es ist also nur naheliegend, auch für das Bilden von Nahrungsreserven eine Ausnahme zuzulassen. Alternativ wäre eine Neuberechnung der Obergrenzen für Subventionen möglich, die die reale Preisentwicklung berücksichtigt.

Marktrisiken für auf dem indischen Markt konkurrierende Exporteure wie die EU oder auch kleinere Nachbarstaaten Indiens ließen sich durch die üblichen Umsetzungsregeln aller Nahrungshilfen eindämmen, nämlich durch bedarfsgerechte Vergabekriterien. Definitionsgemäß erhielten nur solche Menschen Nahrung aus der Reserve, die ohnehin keine Nahrung kaufen können und somit auch kein Angebot verdrängen.

Mehr Gerechtigkeit durch symmetrischen Schutz gegen niedrige und hohe Preise

Jenseits der üblichen verhandlungstaktischen Positionierung offenbart die  indische Haltung vor allem, dass eine größere Flexibilität in dem von der Marktrealität längst überholten Abkommen nötig ist. Interessanterweise gilt eine solche Flexibilität der Regelungen für den Fall, der die reicheren Länder betrifft, sehr wohl: ein automatischer Anpassungsmechanismus bei den Zöllen (Special Safeguard SSG) nämlich erlaubt, dass sinkende Preise automatisch Zölle steigen lassen, um den eigenen Markt und die heimischen Landwirte zu schützen. Diese Option musste bereits 1994 unter komplizierten Berechnungsregeln angemeldet werden und kam im Großen und Ganzen nur entwickelten Ländern zugute.

Es ist an der Zeit, dass die Wirklichkeit steigender Agrarpreise in die WTO-Regelungen Eingang findet und damit endlich die Probleme nahrungsimportierender Entwicklungsländer beachtet werden. Nicht Indien ist der Buhmann, sondern das starre Regelwerk aus alten Zeiten. Daher ist es nun nicht nur an Indien, sich zu bewegen. Auch die großen Exporteure müssen dazu beitragen, ein Scheitern der Verhandlungen zu verhindern.

Der Text ist auch bei EurActiv.de und Zeit.de erschienen.