Im März 2022 wollen die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) einen »Strategischen Kompass« (SK) verabschieden, der die Union bis zum Jahr 2030 zu einem Anbieter von Sicherheit machen und ihre strategische Souveränität stärken soll. Der erste Entwurf dieses Dokuments liegt seit Mitte November vor – und weist gravierende Defizite auf: Strategische Zerfaserung, Überinstitutionalisierung und Verantwortungsdiffusion bleiben Kennzeichen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Berlin ist bei der anstehenden Überarbeitung des Kompasses insbesondere gefordert, dessen Stellenwert zu klären und ein klares Ambitionsniveau vorzugeben. Andernfalls dürfte der Strategische Kompass einer EU-Sicherheitspolitik Vorschub leisten, deren Motto lautete: »Alles kann, nichts muss.«
Am 15. November 2021 hat der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, den Außen- und Verteidigungsministern der EU-Mitgliedstaaten den Entwurf des Dokuments vorgestellt: des »Strategischen Kompasses für Sicherheit und Verteidigung – Für eine Europäische Union, die ihre Bürger, Werte und Interessen beschützt und zu internationalem Frieden und Sicherheit beiträgt«. Ziel dieses neuartigen Grundlagendokuments ist es, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU bis 2030 zu stärken. Mit dem Kompass sollen im Kern drei Fragen beantwortet werden: Mit welchen Herausforderungen und Bedrohungen ist die EU heute und in naher Zukunft konfrontiert? Wie kann sie ihre Ressourcen für deren Bewältigung besser bündeln? Und wie kann sie den Einfluss Europas als regionaler und globaler Akteur stärker als bislang geltend machen?
Genese des Dokuments
Auf Betreiben der Bundesregierung hatten die EU-Verteidigungsminister Borrell am 16. Juni 2020 damit beauftragt, eine sicherheitspolitische Positionsbestimmung vorzunehmen und die operative Ausrichtung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) im Sinne einer Militärdoktrin darzulegen. Das Dokument soll damit die Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU (EUGS) aus dem Jahr 2016 konkretisieren. Seine Aufgabe ist erstens, einen Konsens herzustellen über die gemeinsamen Ziele der EU-Staaten im Politikfeld »Sicherheit« im weiteren Sinne, das heißt im Krisenmanagement, bei der Ertüchtigung von Partnern in der internationalen Politik sowie dem Schutz der Union und ihrer Bürgerinnen und Bürger, und zweitens, einen gemeinsamen strategischen Rahmen für die zukünftige Ausrichtung dieses Politikfeldes zu bilden.
Die Erarbeitung des SK wurde in drei Phasen unterteilt: Ab dem Sommer 2020 oblag es dem EU-Außenbeauftragten, eine gemeinsame Bedrohungsanalyse zu erstellen. Sie diente als Grundlage für den zweiten Teil, einen Dialogprozess der EU-Mitgliedstaaten ab Januar 2021 zu den vier Themenkörben Krisenmanagement, Resilienz, Fähigkeiten und Partnerschaften. Das im November 2021 präsentierte 28‑seitige Dokument bündelt die Diskussionen in fünf Kapiteln, die überschrieben sind mit »Die Welt, der wir gegenüberstehen« (The World We Face), »Handeln« (Act), »Sichern« (Secure), »Investieren« (Invest) und »Partner« (Partner). Die laufende dritte Phase eröffnet den Mitgliedstaaten bis März 2022 die Möglichkeit, Änderungswünsche einzubringen. Der Prozess ist insofern auch Ausdruck deutsch-französischer Kooperation, als Berlin Präsident Emmanuel Macron dafür gewonnen hat, den Prozess während der französischen EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 zu Ende zu führen, und das gemeinsame Handeln von Berlin und Paris somit die Klammer des SK-Prozesses darstellt.
Bedrohungsanalyse
Auch wenn der finale Text erst im Frühjahr vorliegen wird, dokumentiert bereits der Entwurf einen deutlichen Wandel der europäischen Sicht auf die Welt. Im Vergleich zur EUGS aus dem Jahr 2016, die ein Bild der internationalen Politik zeichnete, in der die »Soft Power« der EU ein wirksames Instrument zu sein schien, treten jetzt die strukturellen Veränderungen in den Vordergrund. Die »Rückkehr der Machtpolitik« ist nunmehr dasjenige Phänomen, das Brüssel in den Mittelpunkt seiner sicherheitspolitischen Planungen stellt. Diese neue Machtpolitik bediene sich laut dem Entwurf nicht nur traditioneller militärischer Mittel, sondern ebenso neuer Bedrohungsformen, wie sie die EU jüngst an ihrer Außengrenze zu Belarus zu spüren bekommen hat. Solche Bedrohungen machten die klassische Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden immer schwieriger. Europa, dessen wirtschaftliche und demographische Bedeutung in der Welt sinke, müsse sich in diesem gewandelten Umfeld behaupten.
Ausgangspunkt der Analyse sind zwei Dynamiken: Auf der einen Seite dominiere die zunehmende Bipolarität zwischen den Vereinigten Staaten und China, die den internationalen Wettbewerb in praktisch allen Bereichen strukturiere. Auf der anderen Seite sei eine multipolare Dynamik zu verzeichnen, auf Grund derer eine wachsende Zahl von Akteuren versuche, ihren jeweiligen politischen Einflussbereich zu erweitern. Diese beiden Faktoren veränderten auch die sicherheitspolitischen Koordinaten der EU: Die Mitgliedstaaten erlebten eine Zeit des strategischen Wettbewerbs und komplexer Bedrohungen, die die Sicherheit der Bevölkerung beträfen und geopolitische Verschiebungen sowie Instabilität an den Grenzen der Union beförderten. Das Spektrum der Bedrohungen sei dabei vielfältiger und unvorhersehbarer geworden. So bliebe Interdependenz zwar wichtig, sie sei aber zunehmend konfliktträchtig und werde zur Waffe: Impfstoffe, Daten und technologische Standards seien mittlerweile Instrumente des politischen Wettbewerbs.
Diese Rückkehr zur Machtpolitik führe überdies dazu, dass Länder, wie zum Beispiel China, Russland oder die Türkei, politisch wieder verstärkt mit historischen Ansprüchen und Einflusszonen argumentierten, anstatt sich an international vereinbarte Regeln und Grundsätze zu halten und sich gemeinsam für internationalen Frieden und Sicherheit einzusetzen. Inzwischen seien nicht nur die Meere, sondern gleichfalls der Weltraum und die Cybersphäre zunehmend umkämpfte Gebiete. Die EU müsse sich auf dieses hochgradig konfrontative System einstellen, da die Gefahr bestehe, von den geopolitischen Konkurrenten überholt zu werden. Ziel sei es, eine Europäische Union zu entwickeln, die als Sicherheitsanbieter auftreten könne.
Im Nachgang zu dieser Selbstverpflichtung dekliniert der Strategische Kompass in einem ersten Strang alle regionalen Ordnungen des internationalen Systems mit ihren jeweiligen sicherheitspolitischen Herausforderungen durch. Damit bleibt er in weiten Teilen dem traditionellen Verständnis der GSVP verhaftet. Die politischen Institutionen der EU sowie die angestrebten militärischen und technologischen Fähigkeiten sollen vor allem dem Ziel dienen, Krisen in der Peripherie Europas zu managen. Der bereits bekannt gewordene Vorschlag für eine Rapid Deployment Capacity im Umfang von 5.000 Soldaten unterstreicht dies.
In einem zweiten Strang werden diejenigen sicherheitspolitischen Herausforderungen aufgeführt, die häufig und zuweilen unpräzise oder schlicht falsch als »hybrid« bezeichnet werden: Desinformation, Propaganda, Wahleinmischung, Cyberattacken und andere. Hier stellt die EU den Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt und erweitert somit stärker als die EUGS die denkbaren Bedrohungsszenarien. Diese bleiben für den argumentativen Gang des SK und die politischen Schlussfolgerungen allerdings nachrangig.
Abschließend drängt das Papier darauf, dass die EU dringend mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen müsse, indem sie in ihrer Nachbarschaft und darüber hinaus handele. Mit dem Begriff der »strategischen Autonomie« verweist es auf das Leitbild europäischer Debatten der vergangenen Jahre.
Defizite des Entwurfs
Beim Strategischen Kompass handelt es sich um das Ergebnis eines auf Einstimmigkeit angelegten Prozesses – das heißt auch, die Mitgliedstaaten konnten in unverbundener Weise alle Anliegen in den SK hineinverhandeln, die ihnen besonders wichtig waren. Aus Kontexten der Vereinten Nationen sind »Weihnachtsbaum-Mandate« für Friedensoperationen bekannt, die den Realitäten vor Ort nicht gerecht werden und keinen strategischen Fokus haben. Analog dazu ließe sich beim SK von einer »Weihnachtsbaum-Strategie« sprechen. Die vier markantesten Defizite des Entwurfs werden im Folgenden analysiert.
Der fehlende politische Wille
Ihrer inneren Verfasstheit und ihrem außenpolitischen Selbstverständnis nach ist die EU nicht gut für eine Epoche von Großmachtrivalitäten vorbereitet, ist sie doch als Gegenentwurf zur europäischen Großmachtpolitik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden. Sie ist ein Staatenverbund, entscheidet nach wie vor mit Einstimmigkeit über ihre Außenpolitik und hat bislang weitgehend auf Instrumente von »Hard Power« verzichtet.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass die intergouvernementale Ausrichtung der Außenpolitik im SK überhaupt keine Rolle spielt. So hätte man als politischen wie analytischen Startpunkt die Leistung der einzelnen EU-Mitglieder im Bereich Sicherheit würdigen können, den sicherheitspolitischen Mehrwert der Kooperation im Rahmen der GSVP hervorheben oder die Herausforderung betonen können, immer wieder den für das gemeinsame Handeln notwendigen politischen Willen zu generieren.
Indem dergleichen unterbleibt, geht der Strategische Kompass recht salopp über das Hauptproblem der Sicherheitspolitik der EU hinweg: Weder die Vielzahl existierender und neu zu schaffender Institutionen auf Seiten der EU noch ein Mangel an militärischen Fähigkeiten auf Seiten der Mitgliedstaaten sind dafür verantwortlich (gewesen), dass die Bilanz der GSVP bezüglich ihrer Wirksamkeit bescheiden ausfällt. Es ist unstrittig, dass vor allem der mangelnde politische Wille der EU-Staaten, die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen, zur Folge hat, dass die Union in den Augen ihrer geopolitischen Widersacher in diesem Politikfeld nur wenig satisfaktionsfähig ist. Insgesamt betrachtet, wird im SK eine Handlungsfähigkeit der EU im Krisenmanagement vorausgesetzt und ein politischer Handlungswille suggeriert, die nicht zwingend gegeben sind.
Wichtig wäre, mittelfristig den institutionellen Rahmen der EU so umzugestalten, dass eine Mehrheit von Staaten Entscheidungen im Namen aller Mitglieder treffen kann, ohne dass Legitimität und Gefolgschaft in Mitleidenschaft gezogen werden. In den letzten Jahren dazu entwickelte Ideen zielen darauf ab, die Entscheidungsverfahren zu beschleunigen. Ein Vorschlag lautete, Mehrheitsabstimmungen in der Außen- und Sicherheitspolitik einzuführen, ein anderer, einen Europäischen Sicherheitsrat einzurichten – beides Ansätze, die unter den EU‑27 bisher nicht mehrheitsfähig sind.
Dass sich auch die Autoren des SK dieses Defizits bewusst sind, deuten die Überlegungen zur Flexibilisierung der GSVP und einer Nutzung von Artikel 44 des EU-Vertrags (EUV) an. Ihm gemäß kann der Rat einstimmig »die Durchführung einer Mission einer Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen, die dies wünschen und über die für eine derartige Mission erforderlichen Fähigkeiten verfügen«. Zunächst müssten die Mitgliedstaaten sich darüber einigen, für welche Szenarien sie diese vertragsimmanente Flexibilisierung der GSVP zulassen wollen. Seit 2015 liegen hierzu Vorschläge vor. Würde Artikel 44 EUV erfolgreich angewandt, können davon mittelfristig starke Impulse für die Streitkräfteintegration, die rüstungsindustrielle Zusammenarbeit der EU-Staaten und für Entscheidungsverfahren in der GSVP ausgehen. Indes wird weiterhin unsicher sein, ob sich der EU damit ein Weg eröffnet, eine eigenständige sicherheits- und verteidigungspolitische Rolle zwischen den Großmächten einzunehmen.
Mangelnde Priorisierung und unklares Ambitionsniveau
Zwei eng miteinander verwobene Probleme verhindern bislang, dass der SK seine wichtigste Funktion erfüllen kann, nämlich nach innen wie nach außen strategische Orientierung für das sicherheitspolitische Handeln der EU zu geben.
Zum einen werden die sicherheitspolitischen Aufgaben in dem Papier nicht eindeutig priorisiert. Zwar nennt es mit der amerikanisch-chinesischen Rivalität und der Multipolarität der internationalen Ordnung zwei Entwicklungen als größte Herausforderungen. In den sich anschließenden sicherheitspolitischen Ableitungen wird diese Analyse aber nicht mehr berücksichtigt – unbeantwortet bleiben Fragen wie: Welche Folgen hat diese veränderte sicherheitspolitische Prioritätensetzung Washingtons? Was wären die Folgen einer militärischen Eskalation des sino-amerikanischen Konfliktes? Was bedeutete es für die EU, wenn die USA angesichts dieser Priorität in großem Umfang Truppen aus Europa abzögen?
Zum anderen verweist das Dokument ausführlich auf die existierenden und noch zu schaffenden Krisenmanagementfähigkeiten der EU, blendet jedoch die Frage des Ambitionsniveaus der möglichen militärischen Operationen aus: Für welche Art von Einsätzen sind die oben angesprochenen 5.000 Soldaten der Rapid Deployment Capacity gedacht? Der SK gibt keinen Hinweis darauf, ob sie für eine kurzzeitige Evakuierungsoperation wie in Kabul im August 2021 eingesetzt werden sollen, für eine langfristige Stabilisierungsoperation im Sahel, zur Durchsetzung einer Schutzzone für Zivilisten in einem Bürgerkriegsland oder für traditionelles Peacekeeping im Sinne der Vereinten Nationen, um nur vier denkbare Einsatzszenarien zu nennen.
Noch augenfälliger wird dieses Problem, wenn sich der Blick vom Krisenmanagement löst und betont wird, die EU sei entschlossen, auf Aggressionen und böswillige Handlungen gegen einen ihrer Mitgliedstaaten im Einklang mit Artikel 42 Absatz 7 EUV zu reagieren. Mit dieser Bezugnahme öffnet der SK den Aufgabenkatalog der GSVP noch weiter, indem er ihn ergänzt um eine militärische Reaktion auf bewaffnete Angriffe auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sowie eine bis dato nicht spezifizierte militärische Beistandspflicht.
Erst recht verwirrend wird es, wenn die vielfältigen möglichen Versuche aufgezählt werden, von außen mit nichtmilitärischen Mitteln auf die politische Souveränität der Union und die ihrer Mitglieder Einfluss zu nehmen. Man kann sicherlich darüber streiten, ob die Abwehr solcher Bedrohungen die Priorität der GSVP sein soll und warum die EU besser als ihre Mitgliedstaaten oder andere internationale Organisationen geeignet scheint, diesen zu begegnen. Aber ohne eine klare Priorisierung droht eine Sicherheitspolitik der EU unter dem Motto »Alles kann, nichts muss.«
Überinstitutionalisierung und Verantwortungsdiffusion
Verstärkt wird der Eindruck einer weiteren Zerfaserung der GSVP durch die Vielzahl an neuen Projekten, die der Strategische Kompass benennt. Bis 2030 sollen die EU und ihre Mitgliedstaaten über 40 Ziele in den Bereichen Handeln, Sichern, Investieren und Partner (siehe hierzu vier Grafiken unter https://bit.ly/SWP22StratKompass) umgesetzt haben. Gemäß diesem ambitionierten Fahrplan sollen in den Jahren 2022 bis 2025 die Rapid Deployment Capacity aufgebaut, die Kommandostrukturen gestärkt sowie die Entscheidungsverfahren zur Entsendung von GSVP-Missionen bzw. ‑Operationen so ausgestaltet werden, dass Entscheidungen schneller und flexibler getroffen werden können. Finanziell soll mehr Solidarität hergestellt werden zwischen denjenigen Mitgliedstaaten, die Streitkräfte in Auslandseinsätze entsenden – unabhängig davon, ob diese im Rahmen der EU oder einer europäisch geführten Ad‑hoc-Koalition stattfinden –, und jenen, die dazu nicht bereit sind.
Dieses Eingeständnis, die Handlungsfähigkeit der Union in der GSVP nicht ausreichend unterstützt und untereinander zu wenig Solidarität gezeigt zu haben, gehört zweifelsfrei zu den Stärken des Entwurfs. Zu lange haben die Mitgliedstaaten diese Ehrlichkeit vermissen lassen. Gleichzeitig verbleibt der SK jedoch auf dem Pfad der inkrementellen Weiterentwicklung der GSVP. Zahllose Beispiele belegen, dass sich dieser von den Mitgliedstaaten beschrittene Weg bislang als wenig erfolgversprechend erwiesen hat: Schleppend gestaltet sich etwa die Umsetzung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ, engl. PESCO). Seit ihrem Start im Dezember 2017 haben die EU-Staaten in vier Phasen insgesamt 60 Projekte angemeldet, mit denen sie in unterschiedlicher Zusammensetzung die Fähigkeitslücken der GSVP schließen wollen. Im September 2020 wurden diejenigen Projekte einer strategischen Überprüfung unterzogen, die in den Jahren 2017 bis 2020 angemeldet wurden. Das Ergebnis war ernüchternd: Bestenfalls ein Drittel der Projekte dürfte tatsächlich umgesetzt werden. Zudem lassen die Mitgliedstaaten bis heute wenig Bemühen erkennen, die auf dem Papier vorgesehene Kohärenz zwischen der Koordinierten Jährlichen Überprüfung der Verteidigung (CARD), PESCO und dem Europäischen Verteidigungsfonds (EVF, engl. EDF) in die Praxis zu überführen und somit Synergien entstehen zu lassen.
Ein unklares militärisches Ambitionsniveau und die weiterhin fehlende politische Rahmensetzung lassen befürchten, dass auch die Umsetzung der neuen Vorhaben hinter den Erwartungen der internationalen Partner der EU zurückbleiben wird: Wer zeichnet für die Umsetzung dieser neuen Maßnahmen verantwortlich? Wer legt fest, in welchem Format, zu welchem Zeitpunkt die EU-Mitgliedstaaten militärische Manöver abhalten? Werden sich alle Mitglieder an der Planung und Durchführung der Übungen beteiligen? Wo werden die vielen neuen »Toolboxen« angesiedelt?
Der Strategische Kompass setzt alle Hoffnung auf jährliche Treffen des Hohen Vertreters mit den Verteidigungsministern der EU-Staaten, auf denen der Stand der Umsetzung der seit 2016 beschlossenen Verteidigungsinitiativen bewertet werden soll. Bleibt dieses Vorgehen erfolglos, dürfte der SK lediglich einer weiteren Bürokratisierung der GSVP Vorschub leisten sowie einer Diffusion der Verantwortung für ihre Weiterentwicklung und Umsetzung. Mehr noch: Er ließe die GSVP ins Hintertreffen geraten zu der steigenden Zahl an Maßnahmen und Initiativen, für die die EU-Kommission die Verantwortung übernommen hat. Bereits im November 2016 hatte diese einen Verteidigungsaktionsplan vorgelegt, der darauf abzielt, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf- und auszubauen durch eine Integration der rüstungsbezogenen Industrie-, Beschaffungs- und Forschungspolitik der Mitgliedstaaten. Diesen Kurs setzen die »Generaldirektion Verteidigungsindustrie und Weltraum« (DG DEFIS) und die »Generaldirektion Kommunikationsnetze, Inhalte und Technologien« (DG CONNECT) fort, die 2020 eingerichtet worden sind. Während die DG DEFIS die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der europäischen Rüstungsindustrie und die Durchführung des EU-Weltraumprogramms gewährleisten soll, treibt die DG CONNECT die EU-Politik in den Bereichen digitaler Binnenmarkt, Internetsicherheit, digitale Wissenschaft und Innovation erfolgreich voran.
Auf diese Weise versucht die Kommission zum einen, die Begrenzungen der europäischen Verteidigungspolitik sowie die bestehenden Vorbehalte einiger Mitgliedstaaten gegen eine stärkere Kooperation und Integration zu umgehen und ihre Legislativvorschläge mit binnenmarktbezogenen Ansatzpunkten zu begründen. Zum anderen strebt sie an, den Schwerpunkt der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu verschieben: von einem mitgliedstaatlich zu einem supranational dominierten Politikfeld. Die neue Bundesregierung muss nun kritisch prüfen, ob eine solche Verlagerung der Ausrichtung der GSVP, nämlich weg vom Krisenmanagement hin zu Resilienz und eigenständiger Kontrolle des Cyberraumes wie des Weltalls, ihren Prioritäten entspricht und ob sie einen Kompetenztransfer in dem Politikbereich befürwortet.
Autonomie versus Partnerschaften
Zu den Verpflichtungen, die der Strategische Kompass anmahnt, damit die EU zu einem Anbieter von Sicherheit wird, zählt schließlich der Ausbau ihrer Partnerschaften. Im vierten Kapitel stellt das Dokument einerseits fest, dass die Partner von einer starken EU profitieren werden. Andererseits könnten die Partner ihrerseits der EU nützen, den regelbasierten Multilateralismus aufrechtzuerhalten, internationale Normen und Standards durchzusetzen und weltweit zu Frieden und Sicherheit beizutragen. Ähnlich wie in der Bedrohungsanalyse am Anfang beleuchtet das Dokument unter diesem Gesichtspunkt die Welt in einer 360‑Grad-Rundschau und verspricht vielen vieles, ohne strategische Prioritäten erkennen zu lassen.
Die Grundlage all dieser Bemühungen soll ein geteiltes Verständnis für einen integrierten Ansatz sein, wenn es darum gehe, Krisen zu lösen sowie sicherheits- und verteidigungspolitische Fähigkeiten aufzubauen. Jenseits dieser Vorbedingung verbleiben die Ziele dieser Kooperationsbeziehungen indessen weitgehend im Allgemeinen. Vor allem bleibt unersichtlich, warum diese Ausgestaltung von Partnerschaften der EU dabei helfen soll, mit den zwei eingangs skizzierten Dynamiken umzugehen oder ihre strategische Souveränität zu erhöhen.
Doch auch aus Sicht der Partner dürfte sich bei der Lektüre des SK die Frage stellen, welchen Mehrwert die Zusammenarbeit mit der Union für sie bringt. Wird sich die EU operativ oder durch Waffenlieferungen an ihre Seite stellen, wenn terroristische Akteure Anschläge gegen staatliche Institutionen oder kritische Infrastrukturen verüben, wenn Drittstaaten den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch gezielte Desinformationskampagnen zu zerstören suchen, wenn Handelswege oder Umschlagplätze blockiert, Abrüstungsverträge oder die territoriale Integrität verletzt würden? Reichen militärische Manöver einiger Mitgliedstaaten etwa im Indopazifik aus, um der EU in der Welt von heute die Stellung eines Sicherheitsanbieters zu garantieren?
Politisch am bedenklichsten ist jedoch, dass es im Prozess der Erarbeitung des SK offenbar nicht gelungen ist, die zwischen den EU-Staaten existierenden Differenzen hinsichtlich der Frage zu überwinden, in welchem Verhältnis die GSVP zur Nato (und damit zu den USA) stehen soll. Deutlich tritt im Dokument das Bemühen zu Tage, positiv über die Atlantische Allianz zu sprechen. So soll nicht nur die bilaterale Kooperationsagenda erweitert werden – vielmehr soll ein angemessener Austausch von Informationen Kern der Kooperation sein. Dieser soll EU und Nato dazu befähigen, gemeinsame Übungen durchzuführen. Wenige Seiten zuvor plädiert der SK indes dafür, »[s]trategische Abhängigkeiten zu reduzieren und unsere technologische Souveränität zu erhöhen«. Wohl aus diesem Grund finden sich im Dokument keine Hinweise darauf, wie die transatlantische Zusammenarbeit bei der Rüstungsplanung und ‑beschaffung verbessert werden kann. Darüber hinaus verliert der SK kein Wort über die seit Jahren bestehenden Blockaden in den Beziehungen zwischen den beiden Organisationen. Im Angesicht der US-Regierung unter Präsident Joseph Biden, die als erste amerikanische Regierung die Weiterentwicklung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik hin zu mehr Eigenständigkeit unterstützt, liest sich der SK hier wie eine vertane Chance.
Hingegen scheint die Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz den europäischen Autonomiebestrebungen eher skeptisch gegenüberzustehen und setzt auf Vertrautes. So hält der Koalitionsvertrag in bemerkenswerter Klarheit fest, dass die transatlantische Partnerschaft mit den USA zentraler Pfeiler deutscher Sicherheitspolitik sei. Die neue Bundesregierung trete für eine Erneuerung und Dynamisierung der transatlantischen Beziehungen ein, um die regelbasierte internationale Ordnung zu stabilisieren, autoritären Entwicklungen zu begegnen und in der östlichen wie südlichen Nachbarschaft der EU verstärkt zusammenzuarbeiten. Nach einer strategischen Neuorientierung der deutschen Sicherheitspolitik unter dem Vorzeichen europäischer strategischer Souveränität klingt das nicht.
Die französische Perspektive
Im Januar 2022 beginnt die Überarbeitung des Strategischen Kompasses mit einem Treffen der Außen- und Verteidigungsminister der EU in Brest. Frankreich wird die Gelegenheit ergreifen, dem Dokument bis zu dessen Annahme durch den Europäischen Rat im März 2022 weiter seine Handschrift zu verleihen. Schon in der Entwurfsfassung vom November konnte Paris erreichen, dass die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU über den vertraglichen Rahmen der GSVP hinausgeht. Das zeigt sich in den Passagen zur Weltraum- und Satellitenpolitik, die Paris nutzt, um seiner Raumfahrtindustrie EU-Fördergelder zuzuführen. Oder daran, dass dem Papier zufolge künftig auch europäisch geführte Ad‑hoc-Koalitionen ihre Aufwendungen für militärische Einsätze über die EU-Gemeinschaftskosten geltend machen können. Seit 2017 wirkt Paris überdies darauf hin, die Beistandspflicht (Art. 42 Abs. 7 EUV) zu konkretisieren.
In der anstehenden Erarbeitung der finalen Fassung dürfte Paris ferner darauf pochen, ambitionierte Zeitpläne für die strategischen Kernfähigkeiten festzuschreiben. Zudem drängt die Regierung Macron seit langem auf ein sicherheits- und verteidigungspolitisches Ambitionsniveau, das es der EU erlaubt, sich selbst und ihre Nachbarschaft gegen Versuche der politischen wie strategischen Einflussnahme Dritter zu immunisieren, und das es ihr ermöglichte, ihre Interessen auch in entlegeneren Regionen wie dem Indopazifik glaubhaft durchzusetzen.
Empfehlungen
Die neue Bundesregierung sollte die Gelegenheitsfenster nutzen, die sich bis März 2022 in der Überarbeitung des Strategischen Kompasses eröffnen, und Einfluss auf das Dokument nehmen. Im Einzelnen sollte sie in den Verhandlungen:
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Klarheit über den Stellenwert des Dokuments einfordern. Diese Empfehlung mag merkwürdig klingen, aber seltsam ist eher, dass der SK mit seinem Titel, der zwei Begriffe schräg zusammenführt (eine Strategie definiert im besten Falle Ziele und die Mittel, diese zu erreichen; ein Kompass hilft lediglich, den Weg von einem Punkt zu einem anderen zu finden), im Unklaren lässt, was er sein soll: eine politikfeldspezifische Ableitung der EUGS, ein Arbeitsprogramm für die Brüsseler Institutionen bis zum Jahr 2030 oder ein Signal an den Rest der Welt bezüglich der sicherheitspolitischen Ziele der EU.
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Auf eine Klärung der regionalen Reichweite des SK bzw. auf eine entsprechende Priorisierung drängen. Folgt man der Bedrohungsanalyse des Dokuments sowie dem Kapitel zu den Partnerschaften, muss unweigerlich der Eindruck entstehen, bei der EU handele es sich um einen global agierenden Sicherheitsanbieter. Die operativen Ableitungen lassen aber kaum einen Zweifel daran aufkommen, dass der Fokus des Dokuments realistischerweise auf der unmittelbaren europäischen Nachbarschaft liegt. Damit droht die EU falsche Erwartungen bei sich und anderen zu wecken: Zwar hat sie globale Interessen, wird aber sicherheitspolitisch nicht global autonom handlungsfähig sein.
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Auch in funktionaler Hinsicht auf eine Priorisierung drängen. Noch ist nicht erkennbar, was aus Sicht der Mitgliedstaaten die zentrale sicherheitspolitische Herausforderung der kommenden Jahre sein wird, an der sich die entsprechenden Planungen in erster Linie auszurichten haben und aus denen Fähigkeitserfordernisse abgeleitet werden können. Ist es vorwiegend das Krisenmanagement in der europäischen Peripherie, der Schutz vor islamistischem Terrorismus oder die Abwehr von Desinformation und Cyberangriffen? Auf diesem Schritt aufbauen sollte eine kritische Durchsicht der vielen Projekte, die der Entwurf enthält. Eine Konzentration auf strategische Kernprojekte würde die Glaubwürdigkeit der EU in der internationalen Sicherheitspolitik erhöhen.
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»Den Elefanten im Raum klarer ansprechen«, nämlich die Sicht der EU-Mitglieder auf und ihre Erwartungen an die sicherheitspolitische Rolle der USA in Europa. Es ist irritierend, dass der Entwurf des SK von der sino-amerikanischen Systemrivalität als Determinante der eigenen Sicherheitspolitik ausgeht, aber die Rolle der USA im Folgenden eher dilatorisch behandelt. Rechnen die EU-Mitglieder damit, dass das sicherheitspolitische Engagement der USA in Europa weiter zurückgeht, vor allem nach den nächsten US-Präsidentschaftswahlen Ende 2024, oder erwarten sie Kontinuität in der amerikanischen Europa-Politik? Daraus sollte sich für die EU vieles ableiten.
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Den EU-Partnern gegenüber präzisieren, was das knapp formulierte, aber weitreichende Ambitionsniveau ihres Koalitionsvertrags bezüglich der europäischen Integration (»Weiterentwicklung [der EU] zu einem föderalen europäischen Bundesstaat«) für die Bereiche Sicherheit und Verteidigung bedeutet. Sind hier weitere Vertiefungsschritte auf deutscher Seite denkbar und gewünscht, trotz der Tatsache, dass eine europäische Armee im Koalitionsvertrag nicht thematisiert wird? Berlin sollte auch die Chance nutzen, den SK politisch zu flankieren und die Finalität dieses EU-Politikfeldes zu skizzieren.
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Schließlich sollte die Bundesregierung im Frühsommer 2022 ein Umsetzungsdokument zu den deutschen Ableitungen aus dem Strategischen Kompass vorlegen. Damit könnte sie nach außen ihre Ernsthaftigkeit unterstreichen, im Sinne der EU Konsequenzen für die eigenen sicherheitspolitischen Planungen zu ziehen, und nach innen ihre Entschlossenheit bekunden, dem SK wirklich strategischen Charakter für die deutsche Politik zu verleihen.
Dr. habil. Markus Kaim ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Dr. Ronja Kempin ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2022A01