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Kompass oder Windspiel?

Eine Analyse des Entwurfs für den »Strategischen Kompass« der EU

SWP-Aktuell 2022/A 01, 05.01.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A01

Research Areas

Im März 2022 wollen die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) einen »Strategischen Kompass« (SK) verabschieden, der die Union bis zum Jahr 2030 zu einem Anbieter von Sicherheit machen und ihre strategische Souveränität stärken soll. Der erste Entwurf dieses Dokuments liegt seit Mitte November vor – und weist gravie­rende Defizite auf: Strategische Zerfaserung, Überinstitutionalisierung und Verantwortungsdiffusion bleiben Kennzeichen der Sicherheits- und Verteidigungs­politik. Berlin ist bei der anstehenden Überarbeitung des Kompasses insbesondere gefordert, dessen Stellenwert zu klären und ein klares Ambitionsniveau vorzugeben. Andernfalls dürfte der Strategische Kompass einer EU-Sicherheitspolitik Vorschub leisten, deren Motto lautete: »Alles kann, nichts muss.«

Am 15. November 2021 hat der Hohe Ver­treter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, den Außen- und Verteidigungs­ministern der EU-Mitgliedstaaten den Ent­wurf des Doku­ments vorgestellt: des »Strategischen Kom­passes für Sicherheit und Verteidigung – Für eine Europäische Union, die ihre Bür­ger, Werte und Interessen beschützt und zu internationalem Frieden und Sicherheit bei­trägt«. Ziel dieses neuartigen Grund­lagen­dokuments ist es, die Sicherheits- und Ver­teidigungspolitik der EU bis 2030 zu stär­ken. Mit dem Kompass sollen im Kern drei Fragen beantwortet werden: Mit welchen Herausforderungen und Bedrohungen ist die EU heute und in naher Zukunft kon­frontiert? Wie kann sie ihre Ressourcen für deren Bewältigung besser bündeln? Und wie kann sie den Einfluss Europas als regio­naler und globaler Akteur stärker als bis­lang geltend machen?

Genese des Dokuments

Auf Betreiben der Bundesregierung hatten die EU-Verteidigungsminister Borrell am 16. Juni 2020 damit beauftragt, eine sicher­heitspolitische Positionsbestimmung vor­zunehmen und die operative Ausrichtung der Gemeinsamen Sicherheits- und Vertei­di­gungspolitik (GSVP) im Sinne einer Militär­doktrin dar­zulegen. Das Dokument soll damit die Glo­bale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU (EUGS) aus dem Jahr 2016 konkretisieren. Seine Auf­gabe ist ers­tens, einen Konsens herzustellen über die gemeinsamen Ziele der EU-Staaten im Politikfeld »Sicher­heit« im weiteren Sinne, das heißt im Krisen­management, bei der Ertüchtigung von Partnern in der inter­nationalen Politik sowie dem Schutz der Union und ihrer Bürgerinnen und Bürger, und zweitens, einen gemeinsamen strate­gi­schen Rahmen für die zukünftige Ausrichtung dieses Politikfeldes zu bilden.

Die Erarbeitung des SK wurde in drei Phasen unterteilt: Ab dem Sommer 2020 oblag es dem EU-Außenbeauftragten, eine gemeinsame Bedrohungsanalyse zu er­stel­len. Sie diente als Grundlage für den zwei­ten Teil, einen Dialogprozess der EU-Mit­glied­staaten ab Januar 2021 zu den vier Themen­körben Krisenmanagement, Resi­lienz, Fähig­keiten und Partnerschaften. Das im Novem­ber 2021 präsentierte 28‑seitige Dokument bündelt die Diskussionen in fünf Kapiteln, die überschrieben sind mit »Die Welt, der wir gegenüberstehen« (The World We Face), »Handeln« (Act), »Sichern« (Secure), »Inves­tieren« (Invest) und »Partner« (Partner). Die laufende dritte Phase eröffnet den Mitgliedstaaten bis März 2022 die Mög­lichkeit, Ände­rungswünsche einzubringen. Der Prozess ist insofern auch Ausdruck deutsch-franzö­si­scher Kooperation, als Ber­lin Präsident Emmanuel Macron dafür ge­wonnen hat, den Prozess während der fran­zösischen EU-Präsidentschaft im ersten Halb­jahr 2022 zu Ende zu führen, und das ge­mein­same Handeln von Berlin und Paris somit die Klammer des SK-Prozesses darstellt.

Bedrohungsanalyse

Auch wenn der finale Text erst im Frühjahr vorliegen wird, dokumentiert bereits der Entwurf einen deutlichen Wandel der euro­päischen Sicht auf die Welt. Im Vergleich zur EUGS aus dem Jahr 2016, die ein Bild der internationalen Politik zeichnete, in der die »Soft Power« der EU ein wirksames Inst­rument zu sein schien, treten jetzt die struk­turellen Veränderungen in den Vorder­grund. Die »Rückkehr der Machtpolitik« ist nunmehr dasjenige Phänomen, das Brüssel in den Mittelpunkt seiner sicher­heitspoli­ti­schen Planungen stellt. Diese neue Macht­politik bediene sich laut dem Entwurf nicht nur traditioneller mili­tärischer Mittel, son­dern ebenso neuer Bedrohungsformen, wie sie die EU jüngst an ihrer Außengrenze zu Belarus zu spüren bekommen hat. Solche Bedrohungen machten die klassische Unter­scheidung zwischen Krieg und Frie­den im­mer schwie­riger. Europa, dessen wirt­schaft­liche und demographische Bedeu­tung in der Welt sinke, müsse sich in diesem gewan­delten Umfeld behaupten.

Ausgangspunkt der Analyse sind zwei Dynamiken: Auf der einen Seite dominiere die zunehmende Bipolarität zwischen den Vereinigten Staaten und China, die den inter­nationalen Wettbewerb in praktisch allen Bereichen strukturiere. Auf der ande­ren Seite sei eine multipolare Dynamik zu ver­zeichnen, auf Grund derer eine wach­sende Zahl von Akteuren ver­suche, ihren jewei­li­gen politischen Einfluss­bereich zu erwei­tern. Diese beiden Faktoren veränderten auch die sicherheitspolitischen Koordi­naten der EU: Die Mitgliedstaaten erlebten eine Zeit des strategischen Wett­bewerbs und komplexer Bedrohungen, die die Sicher­heit der Bevölkerung beträfen und geopolitische Verschiebungen sowie Instabilität an den Grenzen der Union beförderten. Das Spekt­rum der Be­dro­hungen sei dabei vielfältiger und unvor­hersehbarer geworden. So bliebe Inter­depen­denz zwar wichtig, sie sei aber zuneh­mend konfliktträchtig und werde zur Waffe: Impfstoffe, Daten und technologische Standards seien mittlerweile Instrumente des politischen Wettbewerbs.

Diese Rückkehr zur Machtpolitik führe überdies dazu, dass Länder, wie zum Bei­spiel China, Russland oder die Türkei, poli­tisch wieder verstärkt mit historischen Ansprüchen und Einflusszonen argumentierten, anstatt sich an international ver­einbarte Regeln und Grundsätze zu hal­ten und sich gemeinsam für internationalen Frie­den und Sicherheit einzusetzen. In­zwischen seien nicht nur die Meere, sondern gleich­falls der Weltraum und die Cyber­sphäre zu­nehmend umkämpfte Gebiete. Die EU müsse sich auf dieses hoch­gradig kon­fron­tative System einstellen, da die Gefahr be­stehe, von den geopolitischen Kon­kur­ren­ten überholt zu werden. Ziel sei es, eine Europäische Union zu entwickeln, die als Sicherheitsanbieter auftreten könne.

Im Nachgang zu dieser Selbstverpflichtung dekliniert der Strategische Kompass in einem ersten Strang alle regionalen Ord­nun­gen des inter­nationalen Systems mit ihren jeweiligen sicherheitspolitischen Herausforderungen durch. Damit bleibt er in weiten Teilen dem traditionellen Ver­ständnis der GSVP ver­haftet. Die politischen Institutionen der EU sowie die angestrebten militärischen und techno­logischen Fähig­keiten sollen vor allem dem Ziel dienen, Kri­sen in der Peri­pherie Europas zu mana­gen. Der bereits bekannt gewordene Vor­schlag für eine Rapid Deployment Capacity im Um­fang von 5.000 Soldaten unterstreicht dies.

In einem zweiten Strang werden diejenigen sicherheitspolitischen Herausforde­rungen aufgeführt, die häufig und zuwei­len unpräzise oder schlicht falsch als »hybrid« bezeichnet werden: Desinformation, Propa­ganda, Wahleinmischung, Cyberattacken und andere. Hier stellt die EU den Schutz ihrer Bür­ge­rinnen und Bürger in den Mittel­punkt und erweitert somit stärker als die EUGS die denkbaren Bedrohungsszenarien. Diese bleiben für den argumentativen Gang des SK und die politischen Schlussfolge­rungen allerdings nachrangig.

Abschließend drängt das Papier darauf, dass die EU dringend mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen müsse, indem sie in ihrer Nachbarschaft und darüber hinaus handele. Mit dem Begriff der »strategischen Autonomie« verweist es auf das Leitbild europäischer Debatten der vergangenen Jahre.

Defizite des Entwurfs

Beim Strategischen Kompass handelt es sich um das Ergebnis eines auf Einstimmigkeit angelegten Prozesses – das heißt auch, die Mitgliedstaaten konnten in unverbundener Weise alle Anliegen in den SK hineinverhan­deln, die ihnen beson­ders wichtig waren. Aus Kontexten der Vereinten Natio­nen sind »Weihnachtsbaum-Man­date« für Friedens­operationen bekannt, die den Realitäten vor Ort nicht gerecht werden und keinen strategischen Fokus haben. Analog dazu ließe sich beim SK von einer »Weihnachtsbaum-Strategie« sprechen. Die vier markan­testen Defizite des Entwurfs werden im Folgenden analysiert.

Der fehlende politische Wille

Ihrer inneren Verfasstheit und ihrem außen­politischen Selbstverständnis nach ist die EU nicht gut für eine Epoche von Großmacht­rivalitäten vorbereitet, ist sie doch als Gegen­entwurf zur europäischen Großmacht­politik der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­derts ent­standen. Sie ist ein Staatenverbund, ent­schei­det nach wie vor mit Einstimmigkeit über ihre Außenpolitik und hat bislang weit­gehend auf Instrumente von »Hard Power« verzichtet.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass die intergouvernementale Ausrichtung der Außenpolitik im SK überhaupt keine Rolle spielt. So hätte man als politischen wie analy­tischen Startpunkt die Leistung der einzel­nen EU-Mitglieder im Bereich Sicher­heit würdigen können, den sicherheitspolitischen Mehrwert der Kooperation im Rah­men der GSVP hervorheben oder die Heraus­forde­rung betonen können, immer wieder den für das gemeinsame Handeln notwendigen politischen Willen zu gene­rieren.

Indem dergleichen unterbleibt, geht der Strategische Kompass recht salopp über das Hauptproblem der Sicherheitspolitik der EU hinweg: Weder die Vielzahl existierender und neu zu schaffender Institutionen auf Seiten der EU noch ein Mangel an militärischen Fähigkeiten auf Seiten der Mitgliedstaaten sind dafür ver­ant­wortlich (gewesen), dass die Bilanz der GSVP bezüglich ihrer Wirk­samkeit beschei­den ausfällt. Es ist un­strittig, dass vor allem der mangelnde poli­tische Wille der EU-Staaten, die vor­han­de­nen Möglichkeiten zu nutzen, zur Folge hat, dass die Union in den Augen ihrer geo­poli­tischen Wider­sacher in diesem Politik­feld nur wenig satisfaktionsfähig ist. Ins­gesamt betrachtet, wird im SK eine Hand­lungs­fähigkeit der EU im Krisenmanage­ment vorausgesetzt und ein politischer Handlungswille sugge­riert, die nicht zwin­gend gegeben sind.

Wichtig wäre, mittelfristig den institutio­nellen Rahmen der EU so umzugestalten, dass eine Mehrheit von Staaten Entscheidungen im Namen aller Mitglieder treffen kann, ohne dass Legitimität und Gefolgschaft in Mitleidenschaft gezogen werden. In den letzten Jahren dazu entwickelte Ideen zielen darauf ab, die Entscheidungsverfahren zu beschleunigen. Ein Vorschlag lautete, Mehrheitsabstimmungen in der Außen- und Sicherheitspolitik einzuführen, ein ande­rer, einen Europäischen Sicherheitsrat einzu­richten – beides Ansätze, die unter den EU‑27 bisher nicht mehrheitsfähig sind.

Dass sich auch die Autoren des SK dieses Defizits bewusst sind, deuten die Überlegun­gen zur Flexibilisierung der GSVP und einer Nut­zung von Artikel 44 des EU-Ver­trags (EUV) an. Ihm gemäß kann der Rat ein­stim­mig »die Durchführung einer Mis­sion einer Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen, die dies wünschen und über die für eine der­artige Mission erforderlichen Fähig­keiten ver­fü­gen«. Zunächst müssten die Mit­glied­staaten sich darüber einigen, für welche Szenarien sie diese vertrags­imma­nente Flexi­bilisierung der GSVP zu­lassen wollen. Seit 2015 liegen hierzu Vor­schläge vor. Würde Artikel 44 EUV erfolg­reich an­ge­wandt, können davon mittel­fristig starke Impulse für die Streitkräfte­integration, die rüstungsindustrielle Zusammenarbeit der EU-Staa­ten und für Entscheidungsverfahren in der GSVP ausgehen. Indes wird weiterhin un­sicher sein, ob sich der EU damit ein Weg eröffnet, eine eigenständige sicherheits- und verteidigungspolitische Rolle zwischen den Großmächten einzunehmen.

Mangelnde Priorisierung und unklares Ambitionsniveau

Zwei eng miteinander verwobene Probleme verhindern bislang, dass der SK seine wich­tigste Funktion erfüllen kann, nämlich nach innen wie nach außen strategische Orientierung für das sicherheitspolitische Handeln der EU zu geben.

Zum einen werden die sicherheitspoli­tischen Aufgaben in dem Papier nicht ein­deutig priorisiert. Zwar nennt es mit der amerikanisch-chinesischen Rivalität und der Multipolarität der internationalen Ord­nung zwei Entwicklungen als größte Heraus­forderungen. In den sich anschließenden sicherheitspolitischen Ableitungen wird diese Analyse aber nicht mehr berücksichtigt – unbeantwortet bleiben Fragen wie: Welche Folgen hat diese veränderte sicher­heitspolitische Priori­tätensetzung Washingtons? Was wären die Folgen einer militärischen Eskalation des sino-amerikanischen Kon­fliktes? Was bedeutete es für die EU, wenn die USA angesichts dieser Priorität in gro­ßem Umfang Truppen aus Europa abzögen?

Zum anderen verweist das Dokument aus­führlich auf die existierenden und noch zu schaffenden Krisenmanagementfähigkeiten der EU, blendet jedoch die Frage des Ambitionsniveaus der möglichen militärischen Operationen aus: Für welche Art von Einsätzen sind die oben angesprochenen 5.000 Soldaten der Rapid Deployment Capac­ity gedacht? Der SK gibt keinen Hinweis darauf, ob sie für eine kurzzeitige Evakuierungsoperation wie in Kabul im August 2021 eingesetzt werden sollen, für eine lang­fristige Stabilisierungs­operation im Sahel, zur Durchsetzung einer Schutzzone für Zivilisten in einem Bürger­kriegs­land oder für traditionelles Peace­keeping im Sinne der Vereinten Nationen, um nur vier denk­bare Einsatzszenarien zu nennen.

Noch augenfälliger wird dieses Problem, wenn sich der Blick vom Krisenmanagement löst und betont wird, die EU sei ent­schlossen, auf Aggressionen und böswillige Handlungen gegen einen ihrer Mitgliedstaa­ten im Einklang mit Artikel 42 Absatz 7 EUV zu reagieren. Mit dieser Bezugnahme öff­net der SK den Aufgabenkatalog der GSVP noch weiter, indem er ihn ergänzt um eine mili­tä­rische Reaktion auf bewaffnete An­griffe auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sowie eine bis dato nicht spezifizierte mili­tärische Beistandspflicht.

Erst recht verwirrend wird es, wenn die vielfältigen möglichen Versuche aufgezählt werden, von außen mit nichtmilitärischen Mitteln auf die politische Souveränität der Union und die ihrer Mitglieder Einfluss zu nehmen. Man kann sicherlich darüber streiten, ob die Abwehr solcher Bedrohungen die Priorität der GSVP sein soll und warum die EU besser als ihre Mitgliedstaaten oder andere internationale Organisationen geeignet scheint, diesen zu be­geg­nen. Aber ohne eine klare Priorisierung droht eine Sicherheitspolitik der EU unter dem Motto »Alles kann, nichts muss.«

Überinstitutionalisierung und Verantwortungsdiffusion

Verstärkt wird der Eindruck einer weiteren Zerfaserung der GSVP durch die Vielzahl an neuen Projekten, die der Strategische Kom­pass benennt. Bis 2030 sollen die EU und ihre Mit­gliedstaaten über 40 Ziele in den Bereichen Handeln, Sichern, Inves­tie­ren und Partner (siehe hierzu vier Grafiken unter https://bit.ly/SWP22StratKompass) umgesetzt haben. Gemäß diesem ambitionierten Fahr­plan sollen in den Jahren 2022 bis 2025 die Rapid Deploy­ment Capacity aufgebaut, die Kommandostrukturen ge­stärkt sowie die Entscheidungsverfahren zur Entsendung von GSVP-Missionen bzw. ‑Operatio­nen so ausgestaltet werden, dass Entscheidungen schneller und flexibler getroffen werden können. Finanziell soll mehr Soli­darität hergestellt werden zwi­schen den­jenigen Mitgliedstaaten, die Streit­kräfte in Auslandseinsätze entsenden – unab­hängig davon, ob diese im Rahmen der EU oder einer europäisch geführten Ad‑hoc-Koali­tion stattfinden –, und jenen, die dazu nicht bereit sind.

Dieses Eingeständnis, die Handlungs­fähigkeit der Union in der GSVP nicht aus­reichend unterstützt und untereinander zu wenig Solidarität gezeigt zu haben, gehört zweifelsfrei zu den Stärken des Entwurfs. Zu lange haben die Mitgliedstaaten diese Ehrlichkeit vermissen lassen. Gleichzeitig verbleibt der SK jedoch auf dem Pfad der inkrementellen Weiterentwicklung der GSVP. Zahllose Beispiele belegen, dass sich dieser von den Mitgliedstaaten beschrittene Weg bislang als wenig erfolg­versprechend erwiesen hat: Schleppend gestaltet sich etwa die Umsetzung der Stän­di­gen Struk­tu­rierten Zusammenarbeit (SSZ, engl. PESCO). Seit ihrem Start im Dezember 2017 haben die EU-Staaten in vier Pha­sen insgesamt 60 Pro­jekte angemeldet, mit denen sie in unter­schied­licher Zusammensetzung die Fähig­keits­lücken der GSVP schließen wollen. Im Sep­tember 2020 wurden die­je­nigen Pro­jekte einer strategischen Überprüfung unter­zogen, die in den Jahren 2017 bis 2020 an­gemeldet wurden. Das Ergebnis war er­nüch­ternd: Bestenfalls ein Drittel der Pro­jekte dürfte tatsächlich umgesetzt werden. Zudem lassen die Mitgliedstaaten bis heute wenig Bemühen erkennen, die auf dem Papier vorgesehene Kohärenz zwischen der Koor­dinierten Jährlichen Überprüfung der Ver­teidigung (CARD), PESCO und dem Europäi­schen Verteidigungsfonds (EVF, engl. EDF) in die Praxis zu überführen und somit Syn­ergien entstehen zu lassen.

Ein unklares militärisches Ambitions­niveau und die weiterhin fehlende politi­sche Rahmensetzung lassen be­fürch­ten, dass auch die Umsetzung der neuen Vor­haben hinter den Erwartungen der inter­nationalen Partner der EU zurückbleiben wird: Wer zeichnet für die Umset­zung dieser neuen Maßnahmen verantwortlich? Wer legt fest, in welchem Format, zu wel­chem Zeitpunkt die EU-Mitgliedstaaten mili­tärische Manöver abhalten? Werden sich alle Mitglieder an der Planung und Durchführung der Übungen beteiligen? Wo werden die vielen neuen »Tool­boxen« angesiedelt?

Der Strategische Kompass setzt alle Hoff­nung auf jährliche Treffen des Hohen Ver­treters mit den Verteidigungsministern der EU-Staaten, auf denen der Stand der Umset­zung der seit 2016 beschlossenen Verteidigungsinitiativen bewertet werden soll. Bleibt dieses Vorgehen erfolglos, dürfte der SK lediglich einer weiteren Bürokratisierung der GSVP Vorschub leisten sowie einer Dif­fusion der Verantwortung für ihre Weiter­entwicklung und Umsetzung. Mehr noch: Er ließe die GSVP ins Hintertreffen geraten zu der steigenden Zahl an Maßnahmen und Initiativen, für die die EU-Kommission die Verantwortung übernommen hat. Bereits im November 2016 hatte diese einen Ver­teidigungsaktionsplan vor­gelegt, der darauf abzielt, die europäische Sicherheits- und Ver­teidigungspolitik auf- und auszubauen durch eine Integration der rüstungsbezogenen Industrie-, Beschaffungs- und Forschungs­politik der Mitgliedstaaten. Diesen Kurs set­zen die »General­direktion Verteidigungs­industrie und Welt­raum« (DG DEFIS) und die »Generaldirek­tion Kommunikations­netze, Inhalte und Technologien« (DG CONNECT) fort, die 2020 eingerichtet worden sind. Während die DG DEFIS die Wettbewerbs- und Innovations­fähigkeit der europäischen Rüstungs­industrie und die Durchführung des EU-Weltraumprogramms gewährleisten soll, treibt die DG CONNECT die EU-Politik in den Bereichen digitaler Binnenmarkt, Internetsicherheit, digitale Wissenschaft und Innovation erfolgreich voran.

Auf diese Weise versucht die Kommission zum einen, die Begrenzungen der euro­päi­schen Verteidigungspolitik sowie die be­stehenden Vorbehalte einiger Mitgliedstaaten gegen eine stärkere Kooperation und Integration zu umgehen und ihre Legislativ­vorschläge mit binnenmarktbezogenen Ansatzpunkten zu begründen. Zum anderen strebt sie an, den Schwerpunkt der europäi­schen Sicherheits- und Verteidigungs­politik zu verschieben: von einem mitgliedstaatlich zu einem supranational dominierten Politikfeld. Die neue Bundesregierung muss nun kritisch prüfen, ob eine solche Verlage­rung der Ausrichtung der GSVP, nämlich weg vom Krisenmanage­ment hin zu Resi­lienz und eigenständiger Kontrolle des Cyber­raumes wie des Welt­alls, ihren Prioritäten entspricht und ob sie einen Kompetenztransfer in dem Politik­bereich befürwortet.

Autonomie versus Partnerschaften

Zu den Verpflichtungen, die der Strategische Kompass anmahnt, damit die EU zu einem Anbieter von Sicherheit wird, zählt schließlich der Ausbau ihrer Partnerschaften. Im vierten Kapitel stellt das Dokument einer­seits fest, dass die Partner von einer starken EU profitieren werden. Andererseits könnten die Partner ihrerseits der EU nüt­zen, den regelbasierten Multilateralismus auf­recht­zuerhalten, internationale Normen und Standards durchzusetzen und weltweit zu Frieden und Sicherheit beizu­tragen. Ähn­lich wie in der Bedrohungsanalyse am Anfang be­leuch­tet das Doku­ment unter diesem Gesichts­punkt die Welt in einer 360‑Grad-Rund­schau und verspricht vielen vieles, ohne strategische Prioritäten erkennen zu lassen.

Die Grundlage all dieser Bemühungen soll ein geteiltes Verständnis für einen integ­rierten Ansatz sein, wenn es darum gehe, Krisen zu lösen sowie sicherheits- und ver­tei­digungspolitische Fähigkeiten aufzu­bauen. Jenseits dieser Vorbedingung ver­bleiben die Ziele dieser Kooperationsbeziehungen in­dessen weitgehend im Allgemeinen. Vor allem bleibt unersichtlich, warum diese Ausgestaltung von Partnerschaften der EU dabei helfen soll, mit den zwei eingangs skizzierten Dynamiken umzugehen oder ihre strategische Souveränität zu erhöhen.

Doch auch aus Sicht der Partner dürfte sich bei der Lektüre des SK die Frage stellen, welchen Mehrwert die Zusammenarbeit mit der Union für sie bringt. Wird sich die EU ope­ra­tiv oder durch Waffenlieferungen an ihre Seite stellen, wenn terroristische Akteure Anschläge gegen staatliche Institutionen oder kritische Infrastrukturen verüben, wenn Drittstaaten den gesellschaftlichen Zu­sam­men­halt durch gezielte Desinformationskampagnen zu zerstören suchen, wenn Han­delswege oder Umschlagplätze blockiert, Abrüstungsverträge oder die terri­toriale Integrität verletzt würden? Reichen militä­rische Manöver einiger Mitgliedstaaten etwa im Indopazifik aus, um der EU in der Welt von heute die Stellung eines Sicherheitsanbieters zu garantieren?

Politisch am bedenklichsten ist jedoch, dass es im Prozess der Erarbeitung des SK offenbar nicht gelungen ist, die zwischen den EU-Staaten existierenden Differenzen hinsichtlich der Frage zu überwinden, in welchem Verhältnis die GSVP zur Nato (und damit zu den USA) stehen soll. Deutlich tritt im Dokument das Bemühen zu Tage, positiv über die Atlantische Allianz zu sprechen. So soll nicht nur die bilaterale Kooperationsagenda erweitert werden – vielmehr soll ein angemessener Austausch von Informationen Kern der Kooperation sein. Dieser soll EU und Nato dazu befähi­gen, gemeinsame Übungen durchzuführen. Wenige Seiten zuvor plädiert der SK indes dafür, »[s]trategische Abhängigkeiten zu reduzieren und unsere technologische Sou­veränität zu erhöhen«. Wohl aus diesem Grund finden sich im Dokument keine Hinweise darauf, wie die transatlan­tische Zusammenarbeit bei der Rüstungsplanung und ‑beschaffung verbessert wer­den kann. Darüber hinaus verliert der SK kein Wort über die seit Jahren bestehen­den Blo­ckaden in den Beziehungen zwi­schen den beiden Organisationen. Im An­gesicht der US-Regie­rung unter Präsident Joseph Biden, die als erste amerikanische Regierung die Weiter­entwicklung der euro­päi­schen Sicher­heits- und Verteidigungs­politik hin zu mehr Eigen­ständigkeit unter­stützt, liest sich der SK hier wie eine ver­tane Chance.

Hingegen scheint die Regierung von Bun­deskanzler Olaf Scholz den europäischen Autonomiebestrebungen eher skep­tisch gegen­überzustehen und setzt auf Vertrautes. So hält der Koalitionsvertrag in bemerkens­werter Klarheit fest, dass die transatlan­tische Part­nerschaft mit den USA zentraler Pfeiler deutscher Sicherheitspolitik sei. Die neue Bundesregierung trete für eine Erneu­e­rung und Dynamisierung der transatlan­tischen Beziehungen ein, um die regel­basierte inter­nationale Ordnung zu stabili­sieren, auto­ritären Entwicklungen zu be­gegnen und in der östlichen wie südlichen Nach­bar­schaft der EU verstärkt zusammenzu­arbeiten. Nach einer strategischen Neu­orientierung der deutschen Sicherheitspolitik unter dem Vorzeichen europäischer strategischer Sou­ve­ränität klingt das nicht.

Die französische Perspektive

Im Januar 2022 beginnt die Überarbeitung des Strategischen Kompasses mit einem Treffen der Außen- und Verteidigungs­minister der EU in Brest. Frankreich wird die Gelegenheit ergreifen, dem Dokument bis zu dessen Annahme durch den Europäi­schen Rat im März 2022 weiter seine Hand­schrift zu ver­leihen. Schon in der Entwurfsfassung vom November konnte Paris er­reichen, dass die Sicherheits- und Verteidi­gungspolitik der EU über den vertraglichen Rahmen der GSVP hinausgeht. Das zeigt sich in den Pas­sa­gen zur Weltraum- und Satellitenpolitik, die Paris nutzt, um seiner Raumfahrtindust­rie EU-Fördergelder zu­zuführen. Oder dar­an, dass dem Papier zufolge künftig auch euro­päisch geführte Ad‑hoc-Koalitio­nen ihre Aufwendungen für militärische Einsätze über die EU-Gemein­schaftskosten geltend machen können. Seit 2017 wirkt Paris überdies dar­auf hin, die Beistandspflicht (Art. 42 Abs. 7 EUV) zu kon­kretisieren.

In der anstehenden Erarbeitung der finalen Fassung dürfte Paris ferner darauf pochen, ambitionierte Zeitpläne für die strategischen Kernfähigkeiten festzuschreiben. Zudem drängt die Regierung Macron seit langem auf ein sicherheits- und vertei­digungspolitisches Ambitionsniveau, das es der EU erlaubt, sich selbst und ihre Nach­bar­schaft gegen Versuche der politischen wie strategischen Einflussnahme Dritter zu immunisieren, und das es ihr ermöglichte, ihre Interessen auch in entlegeneren Regio­nen wie dem Indopazifik glaubhaft durch­zusetzen.

Empfehlungen

Die neue Bundesregierung sollte die Gelegen­heitsfenster nutzen, die sich bis März 2022 in der Überarbeitung des Strategischen Kom­passes eröffnen, und Einfluss auf das Doku­ment nehmen. Im Einzelnen sollte sie in den Verhandlungen:

  • Klarheit über den Stellenwert des Doku­ments einfordern. Diese Empfehlung mag merkwürdig klingen, aber seltsam ist eher, dass der SK mit seinem Titel, der zwei Begriffe schräg zusammenführt (eine Strategie definiert im besten Falle Ziele und die Mittel, diese zu erreichen; ein Kompass hilft lediglich, den Weg von einem Punkt zu einem anderen zu finden), im Unklaren lässt, was er sein soll: eine politikfeldspezifische Ableitung der EUGS, ein Arbeitsprogramm für die Brüsseler Institutionen bis zum Jahr 2030 oder ein Signal an den Rest der Welt bezüglich der sicherheitspolitischen Ziele der EU.

  • Auf eine Klärung der regionalen Reich­weite des SK bzw. auf eine entsprechende Priorisierung drängen. Folgt man der Bedrohungsanalyse des Dokuments so­wie dem Kapitel zu den Partnerschaften, muss unweigerlich der Eindruck entstehen, bei der EU handele es sich um einen global agierenden Sicherheits­anbieter. Die ope­ra­tiven Ableitungen lassen aber kaum einen Zweifel daran aufkommen, dass der Fokus des Dokuments realistischerweise auf der unmittelbaren europäischen Nachbar­schaft liegt. Damit droht die EU falsche Erwartungen bei sich und anderen zu wecken: Zwar hat sie globale Inter­essen, wird aber sicherheitspolitisch nicht global autonom handlungsfähig sein.

  • Auch in funktionaler Hinsicht auf eine Priorisierung drängen. Noch ist nicht erkennbar, was aus Sicht der Mitglied­staaten die zentrale sicherheitspolitische Herausforderung der kommenden Jahre sein wird, an der sich die entsprechenden Planungen in erster Linie auszurichten haben und aus denen Fähigkeits­erfordernisse abgeleitet werden können. Ist es vorwiegend das Krisenmanagement in der europäischen Peripherie, der Schutz vor islamistischem Terrorismus oder die Abwehr von Desinformation und Cyber­angriffen? Auf diesem Schritt aufbauen sollte eine kriti­sche Durchsicht der vielen Projekte, die der Entwurf enthält. Eine Konzentration auf strategische Kern­projekte würde die Glaubwürdigkeit der EU in der internationalen Sicherheits­politik erhöhen.

  • »Den Elefanten im Raum klarer an­sprechen«, nämlich die Sicht der EU-Mit­glie­der auf und ihre Erwartungen an die sicherheitspolitische Rolle der USA in Europa. Es ist irritierend, dass der Entwurf des SK von der sino-amerikanischen Systemrivalität als Determinante der eigenen Sicherheitspolitik ausgeht, aber die Rolle der USA im Folgenden eher dila­torisch behandelt. Rechnen die EU-Mit­glieder damit, dass das sicherheits­poli­ti­sche Engagement der USA in Europa weiter zurückgeht, vor allem nach den nächs­ten US-Präsident­schafts­wahlen Ende 2024, oder erwarten sie Kontinuität in der amerikanischen Europa-Politik? Dar­aus sollte sich für die EU vieles ableiten.

  • Den EU-Partnern gegenüber präzisieren, was das knapp formulierte, aber weit­reichende Ambitionsniveau ihres Koalitions­vertrags bezüglich der europäischen Integration (»Weiterentwicklung [der EU] zu einem föderalen europäischen Bundes­staat«) für die Bereiche Sicherheit und Verteidigung bedeutet. Sind hier weitere Vertiefungsschritte auf deutscher Seite denkbar und gewünscht, trotz der Tat­sache, dass eine europäische Armee im Koalitionsvertrag nicht thematisiert wird? Berlin sollte auch die Chance nutzen, den SK politisch zu flankieren und die Finalität dieses EU-Politikfeldes zu skizzieren.

  • Schließlich sollte die Bundesregierung im Früh­sommer 2022 ein Umsetzungs­doku­ment zu den deutschen Ableitungen aus dem Stra­tegischen Kompass vorlegen. Damit könnte sie nach außen ihre Ernst­haftig­keit unter­streichen, im Sinne der EU Konsequenzen für die eigenen sicher­heits­politischen Pla­nun­gen zu ziehen, und nach innen ihre Entschlossen­heit bekun­den, dem SK wirklich stra­te­gi­schen Cha­rak­ter für die deutsche Politik zu ver­leihen.

Dr. habil. Markus Kaim ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Dr. Ronja Kempin ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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