Europawahlen galten lange als Wahlen zweiter Ordnung, mit nur geringer politischer Bedeutung. Doch 2019 mausern sie sich zur Richtungswahl über die Zukunft der EU – nicht nur weil das Europäische Parlament (EP) an Bedeutung gewonnen hat, sondern vor allem weil sich das europäische Parteiensystem fundamental wandelt. Während etablierte Parteien an Unterstützung verlieren, haben rechtspopulistische und EU-skeptische Parteien europaweit zugelegt. Gleichzeitig gibt es verstärkte Bemühungen, die traditionell zersplitterten EU-skeptischen Kräfte in einer Sammlungsbewegung zu vereinen. In der nächsten Wahlperiode ist zwar kein drastischer Anstieg der Zahl EU-skeptischer Abgeordneter zu erwarten. Die Umordnung im EU-skeptischen Spektrum könnte aber den Auftakt für einschneidende Veränderungen im politischen Gefüge der EU bilden.
Traditionell gilt das Europawahljahr in Brüssel als »Jahr des institutionellen Übergangs«, denn nicht nur das EP, auch die Kommission wird neu gewählt. Seit dem Vertrag von Lissabon ist die Wahl des Parlaments gemäß dem sogenannten Spitzenkandidatenprinzip direkt mit der des Kommissionspräsidenten verknüpft.
Doch auf Ebene der Mitgliedstaaten waren es bisher nicht viel mehr als Wahlen zweiter Ordnung, eine Aneinanderreihung paralleler nationaler Wahlen, die vor allem dazu dienen, der jeweiligen nationalen Regierung eine Botschaft zu senden. Europapolitische Themen spielten in den EP-Wahlkämpfen hingegen nur eine untergeordnete Rolle.
2019 finden die Wahlen jedoch unter veränderten Vorzeichen statt. Nach fast einem Jahrzehnt »Krisenmodus« ist die zukünftige Entwicklung der EU umstritten wie nie. Im März 2019, knapp acht Wochen vor den Europawahlen, wird Großbritannien (voraussichtlich) als erstes Mitglied die EU verlassen. Deshalb wird das EP zum ersten Mal weniger Abgeordnete umfassen als zuvor, nämlich nur noch 705 (siehe SWP-Aktuell 11/2018). Mehr als sechs Monate vor den Wahlen drängen zudem Bewerber um die Spitzenkandidatur in die europäische Öffentlichkeit, früher als bei den letzten Wahlen.
Gleichzeitig wandeln sich europaweit die Parteiensysteme, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß: In nahezu allen Wahlen seit 2014 verloren etablierte Parteien an Zustimmung, während vielfach sowohl die Fragmentierung der Parteiensysteme als auch die Stimmanteile EU-skeptischer Parteien wuchsen. Doch auch liberale, proeuropäische Strömungen haben mit dem französischen Staatspräsidenten Macron eine Galionsfigur, die sich außerhalb des bestehenden Parteienspektrums bewegt.
Damit verdichten sich die Europawahlen zur Herausforderung für das politische System der EU. Auf der einen Seite muss die informelle »große Koalition« zwischen christdemokratisch-konservativer EVP und Sozialdemokraten (S&D), die traditionell die EU dominiert, zum ersten Mal um ihre Mehrheit im EP bangen. Auf der anderen Seite formulierten etwa Matteo Salvini, Vorsitzender der italienischen Lega, oder Stephen Bannon, rechtspopulistischer Scharfmacher aus den USA, das Ziel, EU-skeptische Parteien zu vereinen und sie zur größten Fraktion im EP zu machen.
Europäische Parteien: Zwischen Zweckbündnissen und echten Interessengemeinschaften
Grundsätzlich gilt weiterhin, dass europäische Parteien im Hinblick auf Charakter, Bindewirkung und Durchsetzungskraft nicht mit nationalen Parteien gleichzusetzen sind. Zwar erkennt der EU-Vertrag Parteien auf europäischer Ebene an, welche »zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Bürgerinnen und Bürger der EU« (Artikel 10 EUV) beitragen. Auch existiert eine Parteienfinanzierung auf EU-Ebene, allerdings auf deutlich niedrigerem Niveau als etwa in Deutschland.
Europäische Parteien sind jedoch keine Zusammenschlüsse von Bürgerinnen und Bürgern, sondern Dachverbände nationaler Parteien. Bislang sind sie hinsichtlich des Wahlkampfs sowie programmatisch und finanziell schlechter aufgestellt als ihre nationalen Mitgliedsparteien. Sichtbar sind sie hauptsächlich durch die Arbeit ihrer EP-Fraktionen. Dennoch erfüllen sie im politischen System der EU vier wichtige Funktionen:
Erstens spielen sie eine nicht zu vernachlässigende Rolle beim Interessenausgleich zwischen nationalen Parteien und damit als Integrationsfaktor in der europäischen Politik. So koordinieren sich die Staats- und Regierungschefs der großen Parteienfamilien ebenso wie ihre Fraktionen im EP.
Zweitens sind die europäischen Parteien und ihre Parlamentsfraktionen Hauptakteure bei der Mehrheitsbeschaffung im EP. Dort gibt es keine feste Koalition, sondern Mehrheiten müssen immer im Einzelfall gefunden werden. Trotz ihres Charakters als Dachverbände ist es dabei vor allem den großen Parteien mit wenigen Ausnahmen gelungen, Fraktionsdisziplin im EP herzustellen, statt entlang nationaler Positionen abzustimmen.
Drittens werden die Parteien auch für die Besetzung von EU-Spitzenpositionen immer wichtiger. Deutlich wird dies an der Stärkung des EP durch den Vertrag von Lissabon und das 2014 erstmals angewandte Prinzip der Spitzenkandidaten. Auch die Besetzung der Posten des Ratspräsidenten und der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik wurde bislang über den Parteienproporz geregelt.
Viertens schließlich bieten europäische Parteien und gemeinsame Fraktionen im EP zusätzliche Ressourcen und Legitimation für nationale Parteien. Paradoxerweise profitierten gerade die EU-skeptischen Parteien von den finanziellen Mitteln des EP und der dort gebotenen Bühne. Die Auftritte des damaligen Vorsitzenden der UK Independence Party (UKIP), Nigel Farage, im EP erregten immer wieder großes Aufsehen.
EU-skeptische Parteien in Straßburg
Wesentlich für die Konstituierung des nächsten Europäischen Parlaments sind Größe und Zusammensetzung des EU-skeptischen Lagers, das im EP zuletzt am stärksten fragmentiert war. Im Sommer 2018 sorgte der frühere Berater des US-Präsidenten Trump, Stephen Bannon, für mediale Aufmerksamkeit, als er ankündigte, rechtspopulistische Bewegungen in Europa zu unterstützen. Erklärtes Ziel ist es, bei den Europawahlen 2019 eine große rechtspopulistische Fraktion mit bis zu einem Drittel der Abgeordneten zu bilden.
Auch wenn Bannon mit seinem Vorstoß großen Widerhall fand, ist er damit nur auf einen fahrenden Zug aufgesprungen: Schon vor den Europawahlen 2014 hatten der französische Front National, die niederländische PVV, die österreichische FPÖ und die italienische Lega Nord eine rechtspopulistische Zusammenarbeit vereinbart. Nachdem diese vier bei der Wahl 2014 schlechter als erwartet abgeschnitten hatten, bildeten sie im Jahr darauf die Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF). 2017 trafen sich die Führungsspitzen der genannten Parteien und unter anderem der deutschen AfD in Koblenz, um sich gegenseitig in den laufenden Wahlkämpfen zu unterstützen und einen Politikwechsel in Europa zu forcieren. Der Anspruch ist klar formuliert: Matteo Salvini, Parteichef der Lega, will ein »europäisches Bündnis« (»Lega de Legas«) schaffen, um alle EU-skeptischen, nationalkonservativen und rechtspopulistischen Bewegungen Europas zu einen und die Grenzen der EU zu schließen. Es ist eine Kampfansage an die bestehende Ordnung in der Union.
Bisher reicht das Spektrum EU-skeptischer Parteien im europäischen Parteiensystem von moderat EU-kritischen Parteien bis zu Anti-EU-Parteien rechtspopulistischer oder gar rechtsextremer Prägung. Diese Strömungen sind seit geraumer Zeit auf europäischer Ebene repräsentiert. Schon bei den ersten Direktwahlen 1979 wurde eine Handvoll europaskeptische Abgeordnete ins EP gewählt, 1984 folgte der damals noch klar rechtsextreme Front National. Da die angestrebte »nationale Internationale« per se einen Widerspruch enthält, ist es den betreffenden Parteien lange nicht gelungen, eine stabile europäische Fraktion oder Partei zu gründen, die mehrere Legislaturperioden überdauert hätte. Bei den Europawahlen 2014 stieg die Anzahl EU-skeptischer Abgeordneter derart, dass sie drei separate Fraktionen bilden konnten.
EU-skeptische Fraktionen und Abgeordnete
Die größte dieser drei ist die EU-skeptische Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR). Derzeit vereint sie 73 Abgeordnete aus 19 EU-Staaten. Neben der wirtschaftsliberalen Ausrichtung folgte die EKR ursprünglich einem moderat EU-skeptischen Leitbild. Demnach unterstützte sie zwar mehrheitlich den Verbleib ihrer Länder in der EU, forderte aber eine Rückbesinnung auf den Binnenmarkt und intergouvernementale Entscheidungsverfahren. Spätestens seit 2016 jedoch setzten sich die britischen Konservativen, welche die EKR dominierten, für den Brexit ein. Parallel dazu nahm die Fraktion Abgeordnete auf, die eine härtere EU-skeptische Linie vertraten. Dazu zählen die Schwedendemokraten, die ein EU-Austrittsreferendum befürworten. Der Brexit gefährdet aber auch die Zukunft der EKR, da nach Wegfall der britischen Konservativen die polnische PiS als einzige große Mitgliedspartei übrigbleibt.
Noch deutlich größer sind die Fragezeichen über der Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD), mit 42 Abgeordneten die zweitkleinste Gruppe im EP. Sie wurde erst nach den Wahlen 2014 gebildet und hat kein gemeinsames Wahlprogramm. Von Beginn an war sie ein bloßes Zweckbündnis vor allem der UKIP und der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung. Der kleinste gemeinsame Nenner bestand in der populistischen, EU-kritischen Grundhaltung und im Interesse an den Ressourcen einer Fraktion. Mit dem Brexit Ende März 2019 werden die 19 britischen Abgeordneten wegfallen. Damit könnten die beteiligten Parteien zumindest vor den Europawahlen 2019 keinen Fraktionsstatus mehr beanspruchen, weil ein notwendiges Kriterium, nämlich mindestens 25 Abgeordnete, nicht mehr erfüllt wäre. Ohnehin agiert die zweite Säule der EFDD, die 14 Abgeordneten der Fünf Sterne, mehr wie eine eigenständige Fraktion denn als Teil der EFDD, spätestens seit sie 2017 versuchten, sich der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) anzuschließen. In Italien hat die Partei ihre EU-kritische Haltung zumindest rhetorisch abgeschwächt. Die kleineren Parteien in der EFDD dürften sich daher spätestens nach den Europawahlen neu orientieren.
Die Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) hat 35 Abgeordnete, davon knapp die Hälfte aus der französischen Nationalen Sammlungsbewegung (Rassemblement National, früher Front National). Sie ist die kleinste und jüngste Fraktion im EP. Ihre Mitgliedsparteien zeichnen sich durch strikte Ablehnung der EU insgesamt und rechtspopulistische bis rechtsextreme Positionen aus. Als einzige der drei Fraktionen im EU-kritischen Spektrum ist die ENF nicht direkt vom Brexit betroffen. Mehrere Vertreter der Parteien in dieser Fraktion, etwa der frühere ENF-Abgeordnete und heutige italienische Innenminister Matteo Salvini, wollen die ENF nach den Europawahlen zu einer Sammlungsbewegung EU-kritischer Parteien aufbauen.
Schließlich sitzen im Europäischen Parlament noch 23 fraktionslose Abgeordnete, von denen die meisten dem EU-skeptischen Spektrum zuzuordnen sind. Hierzu gehören Mitglieder der deutschen NPD und der ungarischen Jobbik, die aufgrund ihrer extremen Positionen bisher auch in anderen EU-skeptischen Fraktionen keinen Anschluss gefunden haben. Offen ist auch die Zukunft der AfD im EP, die angesichts ihrer Umfragewerte und der vielen deutschen Parlamentarier auf eine zweistellige Anzahl an Abgeordneten hoffen kann. 2014 war die AfD mit sieben Abgeordneten noch als Teil der moderateren EKR gestartet. Nach mehreren parteiinternen Spaltungen und dem Ausschluss aus der EKR ist formell nur noch ein AfD-Mitglied im EP vertreten, nämlich in der EFDD-Fraktion. Auch ein Anschluss an die ENF wird in der Partei diskutiert.
Orbán und die Zukunft der EVP
Doch die Ambitionen auf eine Sammlungsbewegung beschränken sich nicht auf die bestehenden EU-skeptischen Fraktionen: Unter anderem Salvini hat den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán eingeladen, sich einer EU-skeptischen Sammelfraktion anzuschließen. Seit Ungarns Beitritt zur EU ist Orbáns Partei Fidesz Mitglied der EVP. Diese versteht sich als proeuropäische Partei, die für Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Stärkung der Zivilgesellschaft eintritt. Orbán dagegen verfolgt in Ungarn sein Ziel einer »illiberalen Demokratie« und hat bereits die Pressefreiheit ebenso wie Tätigkeiten ausländischer Nichtregierungsorganisationen einschränken lassen. Der europäischen Integration in ihrer heutigen Form steht Orbán zunehmend skeptisch gegenüber und kritisiert, es werde zu tief in die nationale Souveränität eingegriffen. Schnittmengen mit EU-skeptischen, rechtspopulistischen Parteien gibt es besonders in der Migrationspolitik, aber auch bei der wachsenden Ablehnung der europäischen Integration, wie sie derzeit praktiziert wird.
Bis 2018 hat die EVP-Führung dennoch auf Dialog gesetzt und ein Rechtsstaatsverfahren der EU gegen Ungarn abgelehnt. Im September 2018 votierte jedoch auch die Mehrheit der EVP-Abgeordneten dafür, gegen das Land ein solches Verfahren nach Artikel 7 EUV einzuleiten, während die EU-skeptischen Fraktionen EKR, EFDD und ENF größtenteils mit der Fidesz abstimmten. Zwar haben EVP-Führung und Fidesz nach der Abstimmung betont, dass die Partei weder aus der EVP austreten noch ausgeschlossen werde. Allerdings kokettierte Orbán auch mit einem Zusammenschluss nationalkonservativer Kräfte. Diese Idee untermauerte er während eines Treffens mit Lega-Chef Salvini, bei dem sie eine gemeinsame »Antimigrationsfront« ankündigten und sich im selben ideologischen Lager verorteten. Dabei grenzten sie sich vor allem klar vom französischen Präsidenten Macron ab. Dieser wiederum attackierte die EVP und betonte, eine Partei könne nicht gleichzeitig das politische Zuhause von Angela Merkel und Viktor Orbán sein.
Erwartbare Veränderungen im EU-skeptischen Spektrum
Um eine große EU-kritische Fraktion bilden zu können, müssten rechtspopulistische und nationalkonservative Parteien erstens klare Wahlerfolge erzielen und zweitens bereit sein, in einer gemeinsamen Fraktion zusammenzuarbeiten.
Knapp acht Monate vor den Wahlen lassen sich die Erfolgsaussichten der einzelnen Parteien mit demoskopischen Mitteln nur ungenau einschätzen. Die Europawahlen mit ihren 27 parallelen nationalen Wahlen sind besonders anfällig für Abweichungen bei den Umfragen und Änderungen bei den Wahlabsichten. Außerdem existieren nur für die wenigsten EU-Staaten aussagekräftige Erhebungen zu den Europawahlen.
Erste Prognosen (siehe Grafik) über den möglichen Ausgang der Europawahl zeigen jedoch, dass ENF und EFDD im Kontrast zu fast allen anderen Fraktionen an Sitzen hinzugewinnen können. Außer diesen beiden könnte nur die ALDE mit einem Zuwachs rechnen. Gewiss bieten die Ergebnisse kaum mehr als eine erste vorsichtige Orientierung. Dennoch ist offensichtlich, dass die informelle »große Koalition« zwischen EVP und S&D ihre Parlamentsmehrheit zum ersten Mal seit Beginn der direkten Wahlen im Jahr 1979 verlieren könnte.
Die EKR würde wegen des Ausscheidens der britischen Konservativen Einbußen hinnehmen. Verluste befürchten müssen auch EVP, S&D, Die Grünen/Europäische Freie Allianz (EFA) und die Konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL). Ferner dürfte eine Reihe neuer oder bislang fraktionsloser Parteien in das EP einziehen. Dazu gehören etwa Emmanuel Macrons Partei La République en Marche (LREM), die vermutlich mit der ALDE-Fraktion zusammenarbeiten wird, und die Partei La France Insoumise (LFI) von Jean-Luc Mélenchon, die sich der GUE/NGL anschließen dürfte. Hinzu kommen einige neue Parteien, die überwiegend dem EU-skeptischen Parteienspektrum zuzurechnen sind. Vor und nach der Wahl sind intensive Verhandlungen über Fraktionsbeitritte und -wechsel zu erwarten. Die Ergebnisse dieser Unterredungen hängen sowohl von politischen als auch von persönlichen Faktoren ab und lassen sich deshalb kaum voraussagen – und werden dennoch erheblichen Einfluss auf die jeweiligen Fraktionsgrößen haben.
Einiges spricht dafür, dass das EU-skeptische Spektrum nach den Europawahlen auf demselben (hohen) Niveau von etwas mehr als 20 Prozent der Sitze im Europäischen Parlament verharren, sich aber nicht steigern würde. Dies mag überraschen, zieht man in Betracht, dass EU-skeptische Parteien bei nationalen Wahlen in fast allen EU-Mitgliedstaaten seit 2014 an Zustimmung gewonnen haben. Abgesehen davon, dass die Berichterstattung rechtspopulistischen Parteien über Gebühr Aufmerksamkeit verleiht, lässt sich diese Prognose mit zwei Faktoren erklären:
Zum einen ist das EU-skeptische Spektrum proportional am stärksten vom Brexit betroffen, da die bis dato größten beiden Gruppen EU-skeptischer Abgeordneter (UKIP und britische Konservative) wegfallen. Zum anderen haben EU-skeptische Parteien schon bei den Europawahlen 2014 stark zugelegt. Einige konnten hier Erfolge vorwegnehmen, die ihnen auf nationaler Ebene erst nach den Europawahlen gelungen sind. Dazu gehören zum Beispiel der französische Front National, die niederländische PVV oder die Dänische Volkspartei.
Der neue Zugewinn für EU-skeptische Parteien bei den Europawahlen 2019 ist daher vor allem bei Parteien zu erwarten, die 2014 noch nicht den Durchbruch geschafft hatten, in der Zwischenzeit aber auf nationaler Ebene erfolgreich waren. Dies gilt vor allem für die italienische Lega, die deutsche AfD, die österreichische FPÖ und die Schwedendemokraten. Damit kann im Vergleich zu 2014 eher der fundamental kritische Teil der EU-Skeptiker mit größeren Zuwächsen rechnen.
Drei Szenarien
Allerdings bleibt offen, ob und in welcher Konstellation sich die Parteien des EU-skeptischen Spektrums im EP zusammenschließen werden. Bisher sind sie, wie gezeigt, auf drei kleinere Fraktionen und eine Reihe Fraktionsloser verteilt, die für sich genommen weniger Einfluss haben als eine größere Fraktion. Aus inhaltlichen Gründen ist eine durchsetzungsfähige Zusammenarbeit auch in Zukunft wenig wahrscheinlich. Die Abstimmungen im Laufe der letzten Wahlperiode offenbaren, dass von den dreien nur die EKR den Status einer handlungsfähigen Fraktion mit Fraktionsdisziplin erreicht hat.
Auch perspektivisch bestehen substantielle Differenzen zwischen den EU-skeptischen Parteien. Dies betrifft vor allem drei ihrer politischen Kernthemen. Erstens vertreten die Parteien recht unterschiedliche Einstellungen zur EU. Das Spektrum reicht nach wie vor von moderaten EU-Skeptikern, welche die Tiefe der Integration ablehnen, aber die Union an sich beibehalten wollen, bis hin zu fundamentalen EU-Gegnern, deren erklärtes Ziel es ist, die Union abzuschaffen oder zumindest ihr Land herauszuführen. Zweitens scheiden sich die Geister am Thema Migration. Nord- und mitteleuropäische Populisten etwa lehnen die Verteilung von Flüchtlingen ab, südeuropäische hingegen verlangen Solidarität von den EU-Partnern. Drittens schließlich krankt eine »nationale Internationale« daran, dass die Betonung nationaler Identität und Souveränität im Widerspruch zu europäischer Zusammenarbeit steht.
Und dennoch: Aus machtpolitischen Gründen besteht ein nicht geringer Anreiz für rechtspopulistische und EU-kritische Parteien, nach den Europawahlen ihre Stärke durch eine möglichst große gemeinsame Fraktion symbolisch zu untermauern. Gleichzeitig gäbe diese ihnen noch mehr Möglichkeiten, Rederechte und Ressourcen im EP zu fordern.
Aus dieser Gemengelage lassen sich drei Szenarien für die künftige Entwicklung des rechtspopulistischen und EU-skeptischen Spektrums nach den Wahlen 2019 zeichnen: Fast auszuschließen ist Szenario A, eine Fortsetzung des Status quo mit den drei aufgesplitterten Fraktionen. Denn vor allem die EFDD war seit ihrer Gründung nicht mehr als ein Zweckbündnis und hat auch die wenigen übrigen Gemeinsamkeiten im Laufe der Legislaturperiode verloren. Ohne UKIP als tragende Säule werden sich die verbleibenden Parteien eher anderen Fraktionen zuwenden. Eine Schlüsselrolle wird die Fünf-Sterne-Bewegung aus Italien spielen. Als zweiter Grundpfeiler neben UKIP hat sie sich schon in der laufenden Legislaturperiode von der EFDD und zum Teil von früherer Anti-EU/Euro-Rhetorik distanziert. 2019 könnte sie die Anzahl ihrer Abgeordneten noch einmal erhöhen.
In Szenario B würde sich das EU-skeptische Lager auf zwei Fraktionen entlang der Achse der EU-Skepsis konzentrieren. Demnach würde sich die EFDD auflösen, die EKR die eher moderat EU-skeptischen, wirtschaftsliberalen Parteien aufnehmen und die ENF die fundamental EU-skeptischen, globalisierungskritischen Parteien in ihren Reihen versammeln. Szenarien B und C setzen zudem voraus, dass eine Zusammenarbeit von Macrons LREM mit der ALDE sowie Mélenchons LFI mit der europäischen Linken (GUE/NGL) zustande kommt.
Nach bisherigen Prognosen wären etwa 46 EFDD-Sitze neu aufzuteilen. Das beträfe vor allem die AfD und die Fünf-Sterne-Bewegung. Zurzeit scheint es am plausibelsten, dass sich die AfD der ENF anschließt. Fünf Sterne hingegen hat ihre EU-skeptischen Positionen zuletzt abgeschwächt und angekündigt, mit den Europawahlen 2019 eine neue eigene Fraktion zu gründen. Noch ist aber völlig unklar, ob und mit welchen Partnern dies gelingen kann. Scheitert das Vorhaben, würde sich Fünf Sterne wohl eher für die Fraktionslosigkeit entscheiden, statt gemeinsam mit Salvini in der ENF oder stark wertkonservativen Parteien wie der polnischen PiS in der EKR eine Fraktion zu bilden. Daher ist Fünf Sterne in den Szenarien B und C noch den Fraktionslosen zugeordnet.
Die ENF dürfte die notwendige Bedingung erfüllen, 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten aufzuweisen. Mit Parteien wie der AfD, dem französischen Rassemblement National, der FPÖ und der PVV, die unterdessen im nationalen politischen System fest verankert sind, hätte die ENF eine deutlich stabilere Grundzusammensetzung als bisher. Allerdings müssten in einer solchen Fraktion zwischen den nunmehr starken Parteien aus Italien, Österreich, Frankreich und Deutschland ein Machtausgleich und gemeinsame politische Ziele gefunden werden. Für die teilweise stark von Einzelpersonen dominierten Parteien in Italien und Frankreich oder die durch unterschiedliche Flügel geprägten Parteien wie die AfD könnte das eine große Herausforderung werden.
Die EKR müsste sich ohne britische Konservative zwar neu konstituieren und wäre in Zukunft stärker von mittel- und osteuropäischen Nationalkonservativen bestimmt. Doch die Fraktion könnte weiter ihre Zwitterrolle spielen, in der sie bei Wirtschaftsfragen durchaus mit EVP und ALDE kooperiert, bei Fragen der Europapolitik und konservativer Werte jedoch eher eine oppositionelle Haltung einnimmt.
Für beide Fraktionen böte sich außerdem Erweiterungspotential in Gestalt fraktionsloser Abgeordneter und neuer oder noch nicht fraktionsgebundener Parteien. Spannend bleibt deshalb auch über die Verkündung des Ergebnisses hinaus, welches Lager in diesem Szenario die größere Fraktion bilden könnte, EKR oder ENF. Angesichts der aktuellen Prognosen und der Vielfalt rechter Parteien scheint Szenario B derzeit das plausibelste zu sein.
In Szenario C schließlich gelänge es den beteiligten Parteien, nach dem erklärten Ziel Salvinis oder Bannons eine EU-kritische Sammelfraktion zu bilden, die alle Parteien des EU-skeptischen Spektrums in sich vereint. Nach Salvinis Wunsch soll diese nicht nur die Parteien von EKR, EFDD und ENF umfassen, sondern auch die Unterstützung vom rechten Flügel der EVP gewinnen, vor allem diejenige Viktor Orbáns.
Eine solche Sammlungsbewegung hätte durchaus das Potential, zur größten oder zweitgrößten Fraktion im EP zu werden. Dafür müssten aber die gravierenden politischen Unterschiede dieser Parteien überbrückt werden. Nötig wäre auch ein Tabubruch, was die Zusammenarbeit zwischen dem bisherigen rechten Flügel der EVP, der EKR und den harten EU-Gegnern angeht. Völlig ausgeschlossen ist dieses Szenario zwar nicht, aber wahrscheinlicher ist eine erstarkte ENF, die schrittweise versucht, Parteien von EKR oder EVP abzuwerben. Interessant wird dabei auch sein, ob als klar rechtsextrem geltende Parteien hoffähig gemacht werden, indem ihre bis dahin fraktionslosen Abgeordneten Mitglieder der Sammelfraktion werden.
Ausblick
Die Szenarien lassen erste Schlüsse darüber zu, was bei der Europawahl 2019 auf dem Spiel steht. Bleibt das EU-skeptische Lager so fragmentiert wie bisher, dürfte sich in den Arbeitsabläufen des Parlaments nicht allzu viel ändern. Eine Sammlungsbewegung dagegen hätte sogar Chancen, die größte Fraktion im EP zu stellen. Weil aber die inhaltlichen Ausrichtungen der EU-skeptischen Parteien stark divergieren, scheint es momentan realistischer, dass sich zwei Fraktionen entlang der Achse der EU-Skepsis bilden und die in der EFDD versammelten Parteien unter sich aufteilen werden.
Ausschlaggebend sind die Verhandlungen über künftige Fraktionszugehörigkeiten nach der Wahl – nicht nur zwischen den jetzt schon im Parlament vertretenen Parteien, sondern gerade zwischen den Neumitgliedern. Das Wahlergebnis allein wird kaum Aufschluss über die Mehrheitsverhältnisse in der nächsten Wahlperiode geben können. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich in deren Verlauf die Fraktionen immer wieder verändern werden und versuchen, weitere Abgeordnete in ihre Reihen aufzunehmen.
Vertraut man bisherigen Prognosen, dürfte über die Wahlperiode hinweg auch relevant bleiben, welches der beiden Lager die größte Fraktion bildet: das europaskeptische, aber eher konstruktive oder das rechtspopulistische um Akteure wie Salvini oder Marine Le Pen.
Vom Ausmaß der Zersplitterung im EU-skeptischen Lager wird zudem nicht nur abhängen, wie viel Einfluss seine Anhänger auf die Neubesetzung des Amtes des Kommissionspräsidenten und des Europäischen Rates ausüben können. Es wird auch entscheidend dafür sein, inwieweit EU-skeptische Parteien und Abgeordnete Politikfelder wie etwa Migrationspolitik mitgestalten können.
Wie einig oder uneinig die EU-Skeptiker sein werden, wird auch grundsätzliche Folgen für das künftige Zusammenspiel zwischen den europäischen Institutionen haben. Erstarken die europaskeptischen und rechtspopulistischen Kräfte im EP, werden die Zweifel wachsen, ob das Parlament weiter als verlässlicher Motor des europäischen Integrationsprozesses gelten kann. Mehrheiten für föderale Reformprozesse werden in der nächsten Wahlperiode noch schwieriger zu finden sein als zuvor.
Was den Integrationsprozess als Ganzes betrifft, zeichnet sich ab, dass die bevorstehende Europawahl ein Schritt zur grundlegenden Neuausrichtung des europäischen Integrationsprojektes sein könnte. Nach Jahren der Krise wird es im Wahlkampf in erster Linie um das Selbstverständnis der EU gehen. Aus der Niederlage Marine Le Pens bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2017 haben viele auch fundamental EU-skeptische Parteien den Schluss gezogen, nicht mehr die EU an sich oder die Mitgliedschaft des jeweiligen Landes in Frage zu stellen. Stattdessen fordern sie nun, die Wertebasis der EU elementar zu verändern. Quer zu vielen politischen Herausforderungen stellt sich deshalb immer drängender die Frage, ob die europäische Integration weiterhin einem kosmopolitischen Ideal folgen oder auf einen Kurs der Abschottung einschwenken wird.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter (a.i.), Felix Schenuit Forschungsassistent der Forschungsgruppe EU / Europa.
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