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»Putin verfolgt das Ziel, Einfluss auf die Ukraine zu wahren, und sei es durch Destabilisierung«

Margarete Klein spricht im Interview über Chancen für einen Waffenstillstand in der Ostukraine, die Interessen Russlands im Ukraine-Konflikt und die Frage, welche Schwerpunkte deutsche und europäische Diplomatie nun setzen sollte.

Kurz gesagt, 19.08.2014 Forschungsgebiete

Margarete Klein über Chancen für einen Waffenstillstand in der Ostukraine, die Interessen Russlands im Ukraine-Konflikt und die Frage, welche Schwerpunkte deutsche und europäische Diplomatie nun setzen sollte.

Bei dem Treffen von Frank-Walter Steinmeier mit seinen Amtskollegen aus Frankreich, Russland und der Ukraine ist es am Montag zu keiner Einigung gekommen. Wie wahrscheinlich ist es, dass in den nächsten Tagen eine Einigung auf einen Waffenstillstand herbeigeführt werden kann?

Margarete Klein: Für Kiew ist ein Waffenstillstand keine attraktive Option, weil es seit Ende Juni verstärkt auf eine militärische Lösung setzt. Hier Erfolge vorzuweisen, ist für Poroschenko auch angesichts der für Herbst anstehenden Parlamentswahlen wichtig. Schließlich sieht er sich innenpolitischem Druck ausgesetzt, die »Anti-Terror-Operation« zu einem schnellen, siegreichen Ende zu führen.

Unter welchen Umständen könnte Kiew sich dennoch auf einen Waffenstillstand einlassen?

Falls Kiew den Eindruck gewinnt, dass es sich zwischen einem direkten militärischen Konflikt mit Russland und einem Waffenstillstand entscheiden muss, könnte es einem Waffenstillstand zustimmen. Allerdings wäre der aus Kiews Sicht vor allem eine Atempause für die Rebellen, die mit dem Rücken zur Wand stehen. Genau deshalb tritt Moskau für einen Waffenstillstand ein: er würde Zeit schaffen, die Rebellen mit Waffen und Personal zu versorgen.

Welche Interessen verfolgt die russische Führung mit ihrem Hilfskonvoi?

Zum einen ist der Hilfskonvoi ein Propagandainstrument, das Putin nutzen kann, egal wie es ausgeht: Wenn die Hilfe ankommt, kann er sich als Schutzherr der bedrängten Bevölkerung präsentieren. Damit kann er sowohl bei der ostukrainischen Bevölkerung als auch innenpolitisch in Russland punkten. Kommt die Hilfe nicht durch, kann Putin damit die ukrainische Regierung desavouieren, indem er behauptet, dass sie so ideologisch verblendet sei, dass sie lieber die Bevölkerung weiter darben lässt, als russische Hilfe zu akzeptieren.

Und worum geht es über die Propaganda hinaus?

Ich halte es auch für wahrscheinlich, dass der Hilfskonvoi ein Mittel ist, weiter Engagement zu zeigen, ohne direkt militärisch zu intervenieren. Tatsächlich steht Putin nämlich unter starkem Druck der Nationalisten und Rebellen, genau dies zu tun.

Aber Putin möchte eine direkte militärische Intervention vermeiden?

Das bleibt abzuwarten. Ist er nach wie vor Pragmatiker, wie er es in seinen ersten beiden Amtszeiten war, dann kann eine offene militärische Intervention kaum ein gewünschtes Szenario sein, weil die Kosten außen- und innenpolitisch zu hoch wären. Außenpolitisch, weil es weitere Sanktionen geben würde; innenpolitisch, weil er sich damit ganz klar auf Seiten der Nationalisten positionieren würde und damit nicht mehr die Rolle des Moderators verschiedener politischer Eliten ausüben könnte wie bisher. Dadurch würde sein innenpolitischer Handlungsspielraum stark eingeschränkt.

Es ist also eher unwahrscheinlich, dass Russland offen militärisch interveniert?

Das kann man nicht sicher sagen. Putin könnte eine Intervention immer noch als die bessere Option ansehen, als einen Sieg der ukrainischen Führung über die Rebellen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Russland unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe interveniert. Bei Militärübungen Anfang August ist exakt dieses Szenario geprobt worden: die militärische Begleitung eines Hilfskonvois sowie der Schutz eines humanitären Korridors.

Welches Interesse verfolgt Putin langfristig?

Er verfolgt das klare Ziel, Einfluss auf die gesamte Ukraine zu wahren, und zwar idealerweise über Föderalisierung und Neutralität der Ukraine. Bekommt er das nicht, setzt er auf kontrollierte Destabilisierung. Das Problem ist aber, dass sich die Entwicklung nicht hundertprozentig kontrollieren lässt.

Ist Russland an einer Annexion der Ostukraine interessiert?

Dies kann nicht das gewünschte Szenario Putins sein, weil es mit sehr hohen Kosten für Russland verbunden wäre. Russland würde zum einen mit massiven Sanktionen überzogen, zum anderen müsste es die Ostukraine finanziell unterstützen, z.B. indem es die dortige Industrie subventioniert sowie Löhne und Pensionen an russische Standards anpasst. Dabei stößt es schon mit der Krim an seine finanziellen Grenzen.

Die Annexion ist also nicht der Plan. Was dann?

Im Moment spricht viel dafür, dass Russland ein Transnistrien-Szenario anstrebt, also einen »frozen conflict«. Eine De-facto-Abspaltung von Teilen der Ukraine, die aber nicht Russland angegliedert werden, würde dafür sorgen, dass Moskau weiterhin Einfluss auf die Ukraine ausüben kann. Russland könnte seinen Kernforderungen – Neutralität und Föderalisierung der Ukraine – Nachdruck verleihen, indem es mit der permanenten Möglichkeit der Eskalation droht. Für dieses Szenario spricht, dass in letzter Zeit immer mehr hochrangige Personen aus Transnistrien Führungspositionen in der »Donezker Volksrepublik« besetzt haben.

Wie bewerten Sie den Rücktritt des russischen Militärkommandeurs der Separatisten, Igor Strelkow alias Igor Girkin?

Der Rücktritt passt in eine Linie, die wir schon in den letzten Wochen gesehen haben: ethnische Russen aus Russland, die in der Ukraine seit einigen Monaten hohe Posten bekleiden, werden abgezogen. An ihre Stelle treten lokale Kräfte. Beispielsweise ist mit Alexander Zachartschenko nun ein Mann aus dem Osten der Ukraine Premierminister der »Donetzker Volksrepublik« geworden. Auch der Nachfolger von Girkin ist ein lokaler Kommandeur. Dies ist der Versuch, die Führung der Donetzker und Luhansker »Volksrepubliken« in den Augen der dortigen Bevölkerung und des Auslands stärker zu legitimieren. Ein Hilfeersuchen dieser lokalen Kräfte an Russland wäre glaubwürdiger als ein Ersuchen von ethnischen Russen.

Ziehen die ethnischen Russen sich nun ganz zurück?

Nein. Es handelt sich vor allem um eine symbolische Aktion. Den lokalen Leuten werden ethnische Russen an die Seite gestellt, so dass sie gar nicht autonom agieren können.

Worauf sollte die deutsche bzw. die europäische Diplomatie in diesem Konflikt aus Ihrer Sicht drängen?

Es muss dafür gesorgt werden, dass der Dialog zwischen Russland und der Ukraine aufrechterhalten wird, wie es im Augenblick bereits geschieht. Bei der »Anti-Terror-Operation« sollte der Westen darauf drängen, dass der Schutz der Zivilisten oberste Priorität hat, auch Priorität vor dem schnellen militärischen Sieg. Darüber hinaus muss der russischen Regierung deutlich gemacht werden, dass die Sanktionen im Falle einer direkten militärischen Intervention nochmals verstärkt werden.

Wie kann der Westen für humanitäre Hilfe sorgen?

Er könnte einen zeitlich befristeten Waffenstillstand unterstützen, damit humanitäre Hilfe in die betroffenen Gebiete kommt. Wichtig ist die zeitliche Begrenzung, damit Russland die Pause nicht zur Stärkung der Rebellen nutzt. Ein längerer Waffenstillstand ist nur dann sinnvoll, wenn Russland sich wirksam dazu verpflichtet, die Grenze zu kontrollieren und somit Waffen und Kämpfer nicht mehr in die Ukraine einsickern können.

Das Interview führte Candida Splett von der Online-Redaktion.