Moskau hat den New-Start-Vertrag mit den USA ausgesetzt. Damit bleibt nun auch die strategische Rüstungskontrolle nicht mehr von den geopolitischen Spannungen verschont. Der Schritt dürfte jedoch vor allem Russlands strategische Position schwächen, meint Lydia Wachs.
Lange galt der New-Start-Vertrag zwischen den USA und Russland als wichtiger Stabilitätsanker in den strategischen Beziehungen. Ende Februar gab der russische Präsident Wladimir Putin bekannt, den Rüstungskontrollvertrag von 2011 auszusetzen. Das Abkommen regelt nicht nur die Zahl strategischer Trägersysteme und Atomsprengköpfe, sondern ermöglicht auch regelmäßigen Datenaustausch und Inspektionen zur Vertragsverifikation. Sogar noch in den ersten Monaten des Ukraine-Kriegs wurden vertragskonform Daten über Trägersysteme ausgetauscht sowie Notifizierungen über Raketentests durchgeführt.
Die Hoffnung, dass die strategische Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland weitestgehend losgelöst von den geopolitischen Spannungen behandelt werden kann, wurde mit der russischen Ankündigung nun jedoch gänzlich begraben. Dabei kam der Schritt kaum überraschend. Er ist Teil eines grundsätzlichen Trends: Nuklearwaffen nehmen in Russlands Strategie gegenüber der Ukraine und der Nato einen wachsenden Stellenwert ein.
Seit Kriegsbeginn hat Moskau mittels nuklearer Drohrhetorik und unterschiedlicher praktischer Maßnahmen wie Nuklearübungen versucht, die Nato vor einer Intervention in der Ukraine abzuschrecken, westliche Waffenlieferungen zu verhindern und die Ukraine zur Aufgabe zu zwingen. Was dabei erst in den vergangenen Wochen und Monaten hinzugekommen ist und mit Putins Vertragsaussetzen seinen bisherigen Höhepunkt erreicht, ist Moskaus Versuch, auch seine Rüstungskontrollpolitik gegenüber den USA als Druckmittel einzusetzen, um sie von ihrer Ukrainehilfe abzubringen.
So blockierte Moskau seit August 2022 eine Wiederaufnahme der gegenseitigen Inspektionen im Rahmen von New Start, die aufgrund der Corona-Pandemie ausgesetzt worden waren. Auch die Hoffnung, den Streit im Rahmen des extra vom Vertrag für solche Fälle vorgesehenen bilateralen Koordinierungsausschusses zu klären, zerschlug sich, als Russland Ende November kurzfristig ein Treffen der Vertragsparteien in Kairo auf unbestimmte Zeit verschob. Schließlich erklärte der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow Ende Januar, dass Rüstungskontrolle nicht losgelöst von den geopolitischen Realitäten behandelt werden könne. Damit machte er die russische Position klar: Zunächst müssen die großen politischen Konfliktlinien gelöst werden, erst dann kann man sich diesen »technischen« Fragen zuwenden. Dabei zeigte sich Russlands Sabotagehaltung auch in multilateralen Rüstungskontrollforen, etwa bei der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags im Sommer 2022 sowie mit Blick auf die Versuche, die Nuklearvereinbarung mit dem Iran wiederzubeleben.
Putins Aussetzen von New Start ist also nur der letzte Schritt in einer Reihe von russischen Maßnahmen, mit denen die nukleare Rüstungskontrolle von einem Stabilitätsanker zu einem Baustein Moskaus nuklearer Einschüchterungs- und Erpressungsstrategie wird.
Mit diesem Vorgehen dürfte Russland jedoch scheitern – und vor allem sich selbst schaden. Ein Umlenken der US-Strategie mit Blick auf den Krieg in der Ukraine wird es wohl kaum erzwingen. Auch dürfte Putins »Aussetzen« des Vertrags – ein politischer Schritt, der rechtlich vom Vertrag so nicht vorgesehen ist, aber theoretisch rückgängig gemacht werden kann – wenig Auswirkungen auf die nuklearen Risiken im Ukraine-Krieg haben. Zentrale Krisenkommunikationskanäle zwischen Washington und Moskau zur Risikoreduzierung bleiben weiterhin bestehen. Zudem will Moskau Notifizierungen über Raketenstarts fortführen.
Mittel- bis langfristig fördert das Aussetzen des Vertrags jedoch eine noch beschleunigte Erosion der Rüstungskontrolle und damit Instabilität. Zwar will sich Russland weiterhin an die von New Start festgeschriebenen Obergrenzen bezüglich strategischer Trägersysteme und Atomsprengköpfe halten. Doch wird es für Washington ohne den vertraglichen Datenaustausch schwieriger, Moskaus tatsächliche Vertragstreue festzustellen. Ende Januar stellten die USA bereits aufgrund der russischen Blockadehaltung dessen Nichteinhaltung fest – bisher aber noch keine Verletzung der vertraglichen Obergrenzen. Washington wird sich nun zur Verifikation allein auf die eigenen Satellitenfähigkeiten stützen müssen. Dies könnte zu größerer Intransparenz führen. Vor allem dürfte es aber Rufe in den USA nach einem Ausbau des US-Arsenals befeuern.
Aufgrund Chinas nuklearer Aufrüstung werden Stimmen in den USA immer lauter, die eine Abkehr von der eher zurückhaltenden US-Kernwaffenpolitik fordern. Die Sorge insbesondere in republikanischen Kreisen ist, dass angesichts zweier gleichrangiger nuklearer Konkurrenten die US-Fähigkeiten in ein paar Jahren nicht mehr ausreichen, um beide gleichzeitig in Schach zu halten. Somit stellt Russlands Vorgehen ein Geschenk für diejenigen in den USA dar, die eine Aufgabe der Rüstungskontrolle fordern.
Ein Ende der vertragsbasierten nuklearen Rüstungskontrolle dürfte dabei Russlands strategische Position am meisten treffen. Falls New Start zerfällt – auch vor dessen Auslaufen 2026 – hätten die USA das Potenzial, ihre stationierten strategischen Nuklearstreitkräfte kurzfristig mehr als zu verdoppeln. Russland könnte nicht so weit mitziehen. Dies könnte Instabilität fördern. Und auch langfristig stehen die USA mit ihren ökonomischen und technologischen Kapazitäten besser da als Russland. Moskau wird es sich kaum leisten können, sowohl konventionell zu rekonstituieren als auch nuklear wettzurüsten.
Deutschland sollte sich in jedem Fall darauf einstellen, dass die Ära, in der Großmächte strategische Rüstungskontrolle vorrangig als stabilitätsförderndes Mittel nutzten, vorbei ist. In Zukunft dürfte der Fokus vielmehr auf der Modernisierung und dem Ausbau ihrer strategischen Fähigkeiten liegen und die Rüstungskontrolle eher als wettbewerbssteuerndes Instrument dienen.
Trotz des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine ist das Fundament des Atomwaffensperrvertrags weiter stabil. Liviu Horovitz und Jonas Schneider erklären, welche nuklearen Bedrohungsszenarien es derzeit gibt und wie die Zukunft von Atomwaffensperrvertrag und Atomwaffenverbotsvertrag aussehen könnte. Moderation: Nana Brink.
Wie groß ist die Bedrohung durch russische Atomwaffen? Welcher Zusammenhang besteht zwischen einer möglichen nuklearen Eskalation und dem Zustand der konventionellen russischen Streitkräfte im Krieg gegen die Ukraine? Darüber diskutieren Lydia Wachs und Margarete Klein. Moderation: Dominik Schottner.
Implikationen für die europäische Sicherheit und die nukleare Rüstungskontrolle
doi:10.18449/2022A59