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Die Rolle von Nuklearwaffen in Russlands strategischer Abschreckung

Implikationen für die europäische Sicherheit und die nukleare Rüstungskontrolle

SWP-Aktuell 2022/A 59, 23.09.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A59

Forschungsgebiete

Der Ansatz, der Russlands Nuklearstrategie kennzeichnet, wird im Westen oft als »escalate to deescalate« beschrieben. Demnach sei Moskau bereit, in einem Konflikt frühzeitig Nuklearwaffen einzusetzen, um diesen zu seinen Gunsten zu beenden. Die offizielle Doktrin des Kreml, Nuklearübungen des russischen Militärs und die Debat­ten unter politisch-militärischen Eliten deuteten bisher jedoch in eine andere Rich­tung. Mit dem Konzept der »strategischen Abschreckung« hat Russland vielmehr ein Abschreckungssystem entwickelt, in dem Atomwaffen weiterhin wichtig sind. Doch soll eine breite Palette an nicht-militärischen bis hin zu konventionellen Mitteln mehr Flexibilität unterhalb der nuklearen Schwelle schaffen, um Eskalation zu managen. Dies dürfte sich angesichts von Russlands Schwierigkeiten mit dem Einsatz konven­tio­neller Präzisionswaffen im Ukraine-Krieg und der militärischen Neuaufstellung der Nato jedoch verändern: Die Rolle nicht-strategischer Nuklearwaffen in Russlands Abschreckungspolitik wird wahrscheinlich wieder wachsen. Dies wird nicht nur die Krisenstabilität in Europa schwächen, sondern auch die nukleare Rüstungskontrolle künftig zusätzlich erschweren.

In den letzten Jahrzehnten hat Russland ein umfassendes Programm zur Modernisierung seiner Nuklearstreitkräfte durch­geführt. Im Zuge dessen wurden nicht nur alte Trägersysteme ersetzt, sondern auch neue Fähigkeiten entwickelt und in Dienst genommen. Dabei war in der Vergangenheit das Profil des strategischen Arsenals der Sowjetunion und Russlands nicht so sehr durch spezifische militärische Ziel­planungen bestimmt. Eine Hauptbestre­bung war vielmehr die annähernde numeri­sche Parität mit den USA. So verfügt Russ­land heute über ein aktives Nuklearwaffenpotential von annähernd 4.500 Atomspreng­köpfen. Davon sind etwa 1.600 für statio­nierte landgestützte ballistische Interkonti­nentalraketen (ICBM), U‑Boot-gestützte bal­listische Raketen (SLBM) und schwere Bom­ber vorgesehen. Derzeit unterliegt Russ­lands strategisches Nuklearwaffenarsenal noch Begrenzungen durch den New-START-Vertrag mit den USA, der 2026 ausläuft. Da Russland aktuell an die 1.000 weitere Sprengköpfe in Lagern vorhält, hätte es dann die Möglichkeit, die Zahl seiner statio­nierten strategischen Nuklearwaffen massiv zu erhöhen.

Getrieben ist Russlands Modernisierungs­kampagne aber auch von der Sorge über die Glaubwürdigkeit der eigenen Zweitschlagfähigkeit, insbesondere angesichts des US-Raketenabwehrprogramms. Obwohl davon nur eine sehr begrenzte Bedrohung für eben­diese Zweitschlagfähigkeit Moskaus aus­gehen dürfte, hat die russische Führung immer wieder auf die vermeintliche Gefahr hingewiesen und eine Reihe von teilweise asymmetrischen strategischen Fähigkeiten entwickelt, die die Zweitschlagfähigkeit sichern sollen. Dazu gehören etwa der be­reits stationierte manövrierfähige Hyperschall-Gleitflugkörper Avangard, die neue ICBM des Typs Sarmat, die den Streitkräften noch dieses Jahr zur Verfügung stehen soll, der Lang­streckentorpedo Poseidon und der nukleargetriebene Marschflugkörper Bure­vestnik mit globaler Reichweite. Die beiden letztgenannten Systeme befinden sich noch in der Entwicklungs- bzw. Testphase.

Russlands nicht-strategische Fähigkeiten

Neben den strategischen verfügt Russland jedoch nach wie vor über etwa 2.000 nicht-strategische Nuklearwaffen, die grundsätzlich von geringerer Sprengkraft und Reich­weite sind und kei­nerlei Rüstungskontroll- und Transparenzmaßnahmen unterliegen.

Insbesondere Russlands Festhalten an diesem Potential und dessen Modernisierung hatten in den letzten Jahren im Wes­ten Diskussionen über Moskaus Nuklearschwelle ausgelöst. Mit dem Angriff auf die Ukraine und den nuklearen Drohgebärden haben sich diese Analysen intensiviert. Russ­land könnte, so die Sorge, in einer mili­tärischen Auseinandersetzung frühzeitig und in einem vergleichsweise begrenzten Umfang Nuklearwaffen einsetzen, um den Konflikt zu seinen Gunsten schnell zu be­enden – und somit nach einem Kalkül handeln, das im Westen als »escalate to deescalate« bezeichnet worden ist. Der Kreml hat dieser Darstellung stets widersprochen. Offiziell erklärt er stattdessen, dass Russland Nuklearwaffen nur im Fall eines Angriffs mit Atomwaffen oder ande­ren Massenvernichtungswaffen einsetzen würde und dann, wenn die Existenz des russischen Staates durch eine konventionelle Aggression bedroht wäre. Unklar bleibt jedoch, was Moskau als Bedrohung für die Existenz des Staates ansehen würde. Diese Ungewissheit hinsichtlich dessen, wo Russ­lands Nuklearschwelle genau liegt, kann nicht abschließend geklärt werden – und möglicherweise hat der Kreml selbst diesen Punkt nicht genau definiert. Eine Analyse der russischen sicherheitspolitischen De­batte innerhalb der politischen und militä­rischen Elite und russischer Strategiedoku­mente kann aber zumindest Anhaltspunkte dafür liefern, wie Moskau seine Abschreckung bisher konzipiert hat.

Moskaus Nuklearschwelle

Moskau schließt bereits seit Jahrzehnten einen Ersteinsatz von Kernwaffen in seiner Doktrin nicht aus. Doch haben sich die Ge­stalt und der Charakter dieser Ersteinsatzdrohung und damit auch deren Implikationen für Russlands Nuklearschwelle über die Zeit verändert. Russlands gewandelte Be­drohungswahrnehmung scheint dabei ein Faktor gewesen zu sein, ebenso wie das Zusammenspiel von konventionellen und nuklearen Fähigkeiten.

In den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion führte die von Russland wahrgenommene konventionelle Unter­legenheit gegenüber den modernen Präzi­sionswaffen der USA auf Seiten Moskaus dazu, nicht-strategischen Nuklearwaffen eine hohe Bedeutung in der eigenen Ab­schreckungsstrategie zuzumessen. Diese stärkere Gewichtung der Atomwaffen spie­gelte sich neben häufigeren Andeutungen der Nuklearoption (Signalling) auch in der deklaratorischen Politik des Landes wider. Der russischen Militärdoktrin aus dem Jahr 2000 zufolge würde Russland den Einsatz von Atomwaffen auch als Reaktion auf eine konventionelle Aggression in Betracht ziehen, »die für die nationale Sicherheit kri­tisch sei« (Hervorh. d. V.). Hier schien Russ­land die Bereitschaft zu signalisieren, auch in nicht-existenzbedrohenden Konflikten Nuklearwaffen einzusetzen. Diskussionen unter politisch-militärischen Eliten deuten jedoch darauf hin, dass diese Absenkung der Nuklearschwelle auch in Moskau um­stritten war, galt ein derartiger Ansatz doch als wenig glaubwürdig gegenüber nicht-nuklearen Bedrohungen.

Grafik

Die Rolle von Nuklearwaffen in Moskaus Abschreckungsstrategie änderte sich nach und nach mit der Modernisierung der kon­ventionellen Streitkräfte und der Entwicklung moderner, präziser konventioneller bzw. nuklear-konventio­neller (sogenannter dual-capable) land-, see- und luftgestützter Waffensysteme in den 2010er Jahren. Dazu zählt etwa der Dual-capable-Kurzstrecken­flugkörper Iskander. Vor allem konzipierte Moskau aber verschiedene Mittelstreckenraketen, wie etwa den ebenfalls zweifach verwendbaren seegestützten Marschflugkörper Kalibr und den luftgestützten kon­ventionellen bzw. nuklearen Marschflugkörper Kh-101/Kh-102.

Mit diesen Entwicklungen wurde die Rolle von Atomwaffen zum Zweck der Ab­schreckung und des Eskalationsmanagements zwar nicht ersetzt – Nuklearwaffen gelten nach wie vor als ein wichtiger Be­standteil des russischen Abschreckungs­systems; jedoch scheint sich die übermäßige Abhängigkeit Moskaus von Nuklearwaffen mangels konventioneller Alternativen in den letzten zehn Jahren erheblich ver­ringert zu haben. Debatten unter Militär­experten in Russland deuten darauf hin, dass die breitere Verfügbarkeit von nicht-nuklearen Fähigkeiten vor allem eine grö­ßere Flexibilität unterhalb der nuklearen Schwelle und in frühen Konfliktphasen schaffen soll. Auch seine jüngsten Militär­doktrinen lassen erkennen, dass Russland die Messlatte für den Atomwaffeneinsatz höher legt: Die Bereitschaft zu einer nukle­aren Eskalation gilt offiziell nun frühestens für den Fall einer existenzbedrohenden kon­ventionellen Aggression.

Strategische Abschreckung

Mit dem Konzept der »strategischen Ab­schreckung« (»strategitscheskoje sderschiwanije«) verfolgt Russland heute eine holis­tische Abschreckungsstrategie, die sowohl nicht-militärische als auch militärische Mittel vereint. Vor allem beruht das Kon­zept aber auf der glaubwürdigen Androhung des Einsatzes militärischer Gewalt, für den Russland ein breites Spektrum von konven­tionellen bis strategischen nukle­aren Waf­fen vorsieht. Einem potentiellen Gegner sollen so sukzessiv höhere Kosten in Aus­sicht gestellt werden. Dadurch sollen in Friedenszeiten Bedrohungen eingehegt wer­den; im Konfliktfall soll dieses Dispositiv Moskau befähigen, Eskalation zu managen.

Daraus folgt, dass das russische Verständ­nis von Abschreckung wesentlich weiter gefasst ist als das traditionell westliche: Aus Moskauer Sicht basiert sie nicht allein auf der Androhung von Gewalt bzw. auf Ein­schüchterung, sondern auch auf der Bereit­schaft zu einer limitierten Gewaltanwendung (»silowoje sderschiwanije«). Laut offi­zieller Definition können sowohl politische Entscheidungsträger und Entscheidungs­trägerinnen als auch die Bevölkerung eines gegnerischen Staates Adressaten dieser Art Abschreckung, das heißt Ziel von Russlands Einschüchterungsstrategie, sein.

Auch die Nuklearwaffen ordnen sich in dieses Konzept ein. Dabei geht die russische strategische Debatte über den Nutzen von Nuklearwaffen von unterschiedlichen Kon­flikttypen aus. In erster Linie wird zwischen lokalen Kriegen (wie dem in der Ukraine) und großflächigen Kriegen zwischen Groß­mächten oder Koalitionen differenziert. Regionale Kriege, verstanden als räumlich begrenzte militärische Konfrontation mit einem Staatenbündnis wie der Nato, gelten als mittlerer Konflikttypus.

Folgt man den Diskussionen in russischen Militärkreisen in den letzten Jahren, so spricht die Mehrheit der Teilnehmenden Nuklearwaffen in lokalen Kriegen höchstens im Rahmen von Drohgebärden und als rhetorisches Mittel eine Rolle zu. Mit Hilfe der Drohung, man werde gegebenenfalls Atomwaffen einsetzen, sollen Konflikte lokal begrenzt gehalten werden, indem dritte Staaten vor einer Intervention ab­geschreckt werden. Bei Konfrontationen dieses Zuschnitts liegt der Fokus aber auf dem Einsatz von (strategischen) konventionellen Fähigkeiten. In regionalen Kriegen kann es hingegen zu einem Übergang des Einsatzes von strategischen konventionellen Präzisionswaffen zu nicht-strategischen Nuklearwaffen kommen. Nur für den Typ des Großmachtkonflikts besteht, so deuten es die russischen Debatten an, die Möglichkeit eines massiven Einsatzes von nicht-strategischen und strategischen Nuklearwaffen (siehe Grafik, S. 3).

Die nukleare Option hat dementsprechend drei Hauptaufgaben: Abschreckung durch Eskalationsandrohung, der tatsäch­liche begrenzte Einsatz zum Zwecke des Eskalationsmanagements und massive Ver­geltung oder Kriegsführung im Fall einer Eskalation.

Außerdem wird deutlich, dass nicht-nukleare und nukleare Fähigkeiten viel stärker als im Westen als miteinander ver­woben betrachtet werden. Dies zeigt sich auch organisatorisch: So sind beispielsweise die russischen Streitkräfte nicht nach stra­tegischen oder nicht-strategischen Nuklearstreitkräften gegliedert. Vielmehr differenziert Russland funktional zwischen gene­rellen Einsatzmitteln (»sily obschtschewo nasnatschenija«), die Effekte direkt im Operationsgebiet erzielen sollen, und stra­tegischen Abschreckungskräften (»strategi­tscheskije sily sderschiwanija«), die von strategischen konventionellen Waffen bis strategischen Nuklearwaffen reichen. Wegen dieser weit größeren Integration von kon­ventionellen und atomaren Fähigkeiten argumen­tieren einige westliche Experten und Expertinnen, dass Russlands Nuklearschwelle wesentlich unbestimmter ist als die der Nato-Staaten.

Russlands konventionelle Operation in der Ukraine ist zu einem gewissen Grad ein Spiegel dieser Strategie. So scheint Moskau zu versuchen, den Krieg auf die Ukraine begrenzt zu halten und die Nato durch nukleare Drohgebärden von einer Intervention abzuschrecken. Das nukleare Signalling dient dem Eskalationsmanagement. Dabei ist diese Vorgehensweise nicht ganz neu. Bereits während der Krim-Annexion 2014 sowie in Georgien 2008 bediente sich Russ­land nuklearer Rhetorik zu Abschreckungszwecken – jedoch nicht mit der gleichen Intensität wie 2022.

Im Westen war Moskaus Strategie des Eskalationsmanagements bisher jedoch überwiegend so interpretiert worden, dass Russland die Signalwirkung und das Poten­tial seiner nicht-strategischen Nuklear­waffen nur dahingehend nutzen würde, um die eigene nationale Sicherheit und das eigene Territorium zu schützen – nicht um revisionistische Ziele in der eigenen Nachbarschaft zu verfolgen. Russlands Vor­gehen in der Ukraine stellt diese Lesart nun in Frage.

Russlands Probleme mit konventionellen Präzisionswaffen

In Zukunft dürfte sich der Stellenwert von Nuklearwaffen in Russlands strategischer Abschreckung verändern. Dabei könnten insbesondere zwei Faktoren zu einer größe­ren Gewichtung der atomaren Komponente führen: Russlands schwindendes Arsenal an nicht-nuklearen strategischen Waffen und die strategische Neuaufstellung der Nato.

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat Russland eine immens hohe Zahl an ballis­tischen Raketen und Marschflug­körpern eingesetzt. Nach Erkenntnissen westlicher Geheimdienste fallen diese je­doch nicht nur durch eine recht hohe Aus­fallquote und mangelnde Zielgenauigkeit auf. Russ­lands Arsenal an modernen nicht-nuklearen Präzisionswaffen wird auch langsam knapp, weswegen die Militär­führung verstärkt auf ältere, weniger präzise Systeme zurückgreifen muss. Um nach­zusteuern haben einige der Raketenhersteller die Produktion massiv angekurbelt, doch kommen sie mit der Fertigung nicht hinterher.

Die Situation wird durch Russlands ex­treme Abhängigkeit von Halbleitern und Elektronik-Komponenten aus dem Westen verschärft. Systeme wie Russlands Iskander-M-Raketen und die Marschflugkörper der Typen Kalibr und Kh-101 benötigen spezielle Mikroelektronik-Bauteile, die vor allem im Westen und in Ostasien hergestellt werden. Da diese Komponenten jedoch von den west­lichen Sanktionen und Exportkontrollen betroffen sind, hat das russische Militär Schwierigkeiten, sein Arsenal wieder auf­zustocken. Moskaus Bemühungen, eine eigene Halbleiterindustrie aufzubauen, waren bisher kaum erfolgreich. Kurz- und mittelfristig sind auch Importe aus China aufgrund der extraterritorialen Wirkung der US-Sank­tionen keine Option. So muss Russland entweder weniger leistungsfähige Systeme herstellen oder versuchen, Sank­tionen – zum Beispiel über Scheinfirmen – zu umgehen.

Angesichts dieses Mangels an konventionellen Präzisionswaffen stellt sich die Frage, ob das Vakuum, das die Systeme in Russ­lands Abschreckungsstrategie zu einem gewissen Grad hinterlassen, durch nicht-strategische Nuklearwaffen gefüllt werden könnte. Dies würde bedeuten, dass Moskau, ähnlich wie in den frühen 2000er Jahren, nicht-strategische Nuklearwaffen in seiner Strategie des Eskalationsmanagements zu­mindest vorübergehend wieder stärker gewichten würde.

Wird Moskau neue Stationierungen vornehmen?

Die wachsende Bedeutung von Nuklearwaffen aufgrund der beschriebenen konventio­nellen Schwächen könnte durch den gegen­wärtigen Wandel der europäischen Sicher­heitsordnung noch zunehmen. Russlands Krieg in der Ukraine hat massive Veränderungen in der Verteidigungsarchitektur in Europa angestoßen. Der Nato-Beitritt Finn­lands und Schwedens wird es dem Bündnis erleichtern, den baltischen Raum zu vertei­digen, und Russlands Fähigkeit beeinträchtigen, Militäroperationen in der Ostsee durchzuführen. Dabei wird die russische Militärplanung in Zukunft eine wesentlich längere Küstenlinie der Nato und Landgrenze mit dem Bündnis berücksichtigen müssen. Die Schritte der Nato zur Anpassung ihrer Verteidigungs- und Abschreckungsarchitektur dürften die strategische Lage aus russischer Sicht zusätzlich ver­schlechtern. Zwar verfügt Russland bereits über beträchtliche militärische Mittel in Kaliningrad, in der Region St. Petersburg und auf der Halbinsel Kola. Doch wird sich Moskaus Bedrohungswahrnehmung an­gesichts dieser Entwicklungen höchstwahrscheinlich verschärfen, was gewisse Streit­kräfteanpassungen nach sich ziehen dürfte. Verteidigungsminister Sergei Shoigu hat bereits erklärt, dass die genannten Verände­rungen Russlands Verteidigungsstrategie beeinflussen werden.

Wie dies aussehen könnte, bleibt indes unklar. Momentan scheint Russland nicht über genügend konventionelle Streitkräfte zu verfügen, um die bisherigen Stationierun­gen im Baltikum aufzustocken. Dies könnte einen weiteren Faktor bilden, der sich zu­gunsten einer Aufwertung insbesondere nicht-strategischer Nuklearwaffen in Russ­lands Abschreckungsstrategie und zu einer Anpassung des Nukleardispositivs in jenen Regionen auswirkt, die an die Nato grenzen.

Russland hat bereits seit 2017 Iskander-M-Systeme in Kaliningrad stationiert, wobei unklar ist, ob es dort auch Nuklearsprengköpfe lagert. Bisher hat Moskau Renovierungsarbeiten an einigen Lagestätten durch­geführt. Es könnte daher nun Nuklear­waffen in die Exklave verlegen, sollte dies nicht bereits der Fall sein. Auch hat Moskau im August 2022 Mig-31I-Kampfflugzeuge mit Dual-capable-Raketen des Typs Kinzhal nach Kaliningrad beordert, um die strate­gische Abschreckung zu stärken. Die luft­gestützte ballistische Rakete Kinzhal mit mittlerer Reichweite gehört zu Russlands modernen Waffensystemen, deren Einsatz im Ukraine-Krieg Aufsehen erregte. Auch wenn sie oft als Hyperschallrakete etiket­tiert wird, basiert ihr Design letztendlich auf den Iskander-M-Systemen. Dabei zeich­net sie weniger die hohe Geschwindigkeit aus – die auch andere ballistische Raketen erreichen – als ihre Manövrierfähigkeit, die eine effektive Abwehr erschwert.

Ein weiterer Schritt, um auf die ver­änderte europäische Sicherheitsordnung zu reagieren, könnte in der Stationierung von Nuklearwaffen bzw. nuklearwaffenfähigen Systemen in Belarus bestehen. Ende Juni haben Alexander Lukaschenko und Putin dieses Thema angesprochen. Demnach sollen in den kommenden Monaten bela­russische Kampfflugzeuge des Typs Su‑25 in Russland zu Trägersystemen für russische Nuklearwaffen umgebaut und Personal entsprechend ausgebildet werden. Zudem kündigte der russische Staatschef an, Iskan­der-M-Systeme nach Belarus zu ver­legen. Ein Transfer von Nuklearsprengköpfen nach Belarus war allerdings nicht Teil der öffent­lichen Verlautbarung.

Auch wenn das Verbot der Stationierung von Nuklearwaffen auf belarussischem Ter­ritorium mit der belarussischen Verfassungs­reform vom Februar 2022 gestrichen wurde, wäre ein solcher Transfer relativ aufwendig. Beispielsweise müssten zunächst ehemals sowjetische Lagerstätten in Belarus reakti­viert werden. Zudem könnte das belarussische Su-25-Kampfflugzeug höchstwahrscheinlich nur Gravitationsbomben tragen und seine Überlebensfähigkeit gegenüber Abwehrmaßnahmen wäre relativ gering. Zuletzt war auch ein anderes Kampfflugzeug des Typs Su-24 im Gespräch. Dieses wäre zwar bereits nuklearfähig, allerdings ist es vor zehn Jahren von Belarus außer Dienst gestellt worden und müsste daher erst re­aktiviert werden. Zum jetzigen Zeitpunkt scheinen einige politische, aber auch tech­nische Fragen zwischen Moskau und Minsk also noch ungeklärt zu sein. Denkbar ist auch, dass für Putin und Lukaschenko das politische Signal im Zentrum ihrer öffent­lich gemachten Überlegungen stand und weniger die tatsächliche Verlegung von robusten Systemen nach Belarus.

Krisenstabilität könnte abnehmen…

Eine Aufwertung der Rolle von Nuklear­waffen in Russlands Abschreckungsstrategie und eine Stärkung des Nukleardispositivs in den Gebieten, die an die Nato an­grenzen, könnten auf unterschiedliche Weise die europäische Sicherheit und Stabilität schwächen.

Erstens könnte eine vermehrte Stationierung von Nuklearwaffen im Westen des Landes neue Rüstungsdynamiken in Europa auslösen. Die unmittelbaren militärischen Auswirkungen einer Stationierung von nicht-strategischen Nuklearwaffen in Kali­ningrad und Belarus dürften allerdings eher gering sein. Bereits jetzt kann Russland mittels seiner Marschflugkörper jedes Ziel in Europa bedrohen.

Nichtsdestotrotz könnte eine Stärkung der Nuklearstreitkräfte im Ostseeraum und gegebenenfalls in Belarus politischen Druck innerhalb der Nato erzeugen, auf diese Schritte Moskaus zu antworten. Bisher lehnt die Nato eine erneute Stationierung von nuklearfähigen landgestützten Mittel­streckenflugkörpern in Europa entschieden ab. Doch entwickeln die USA derzeit unter­schiedliche konventionelle Abstandswaffen. Stationierungsentscheidungen stehen wohl noch aus. Sollte Russland sein Nuklear­dispositiv im Westen ausbauen, könnten insbesondere zentral- und osteuropäische Staaten nicht nur eine Stärkung der defen­siven Fähigkeiten, wie der Raketen- und Flugabwehr, fordern. Sie könnten auch Druck auf die Nato ausüben, offensive Fähigkeiten durch eine Stationierung der amerikanischen konventionellen Marschflugkörper und Hyperschallwaffen zu er­höhen, die sich derzeit in den letzten Ent­wicklungsstadien befinden.

Dies könnte langfristig ein ernsthaftes Interesse in Moskau an nicht-strategischer Rüstungskontrolle – ähnlich wie in den 1970er und 1980er Jahren – hervorrufen. Kurz- bis mittelfristig könnte es aber vor allem Moskaus Bedrohungswahrnehmung verschärfen und damit einen Einfluss auf Eskalationsdynamiken haben.

Daran schließt sich der zweite Punkt an: Eine größere Gewichtung von Nuklear­waffen in Russlands Eskalationsmanagement könnte sich auf die Stabilität und Dynamik von potentiellen Krisen zwischen der Nato und Russland auswirken. Die For­schung zu Nuklearkrisen hebt insbesondere zwei Faktoren hervor, die Krisenstabilität – das heißt das Eskalationspotential von Krisen – beeinflussen können. Dies ist erstens der Anreiz, Nuklearwaffen als erstes einzusetzen, und zweitens der Grad der Kontrollierbarkeit von Krisen, etwa durch Kommunikationskanäle. Dabei ist weniger die tatsächliche Situation als deren Wahr­nehmung durch die involvierten Akteure von Bedeutung.

So könnten die USA in einer sich verschärfenden Krisenlage, beispielsweise im Ostseeraum, Sorgen vor einer niedrigen russischen Nuklearschwelle haben, weshalb sie den Einsatz von konventionellen Präzi­sionswaffen in Betracht ziehen könnten. Russland dürfte dies wiederum fürchten, was einen russischen Einsatz von Nuklearwaffen wahrscheinlicher machen könnte. Insgesamt wäre das Eskalationspotential von Krisen erhöht.

Da beide Seiten diese potentielle Eskalationsdynamik in ihre Militärplanungen einbeziehen werden und darüber hinaus etablierte Krisenkommunikationskanäle existieren, dürfte es unwahrscheinlich blei­ben, dass es zu einer Eskalation über die Nuklearschwelle hinaus kommt. In jedem Fall dürfte die Wahrnehmung der vorliegenden asymmetrischen Kräfteverteilung in Zukunft Krisen und die Schritte beider Seiten noch stärker mitprägen als bisher.

…und gleichzeitig könnten die Erfolgsaussichten für Rüstungskontrolle schwinden

Drittens wird eine potentiell wachsende Bedeutung von Nuklearwaffen für Russ­lands Sicherheit ein zusätzliches Hindernis für Fortschritte bei der Rüstungskontrolle darstellen. Der New-START-Vertrag, der die Zahl strategischer Trägersysteme und Atom­sprengköpfe begrenzt, läuft 2026 aus. Der­zeit ist es extrem unwahrscheinlich, dass ein Nachfolgevertrag zwischen den USA und Russland geschlossen wird. Grund da­für sind nicht nur die bilateralen Spannun­gen, sondern insbesondere auch Chinas nukleare Aufrüstung und die innenpolitischen Kräfteverhältnisse in den USA. Ob ungeachtet dessen eine politisch verbind­liche Obergrenze von strategischen Nuklear­waffen oder ein begrenzter Datenaustausch als Transparenzmaßnahme ausgehandelt werden können, bleibt abzuwarten.

Bezüglich nicht-strategischer Nuklearwaffen ist die Lage noch schwieriger. Bereits vor dem Krieg ist die Rüstungskontrolle von nicht-strategischen Systemen in gravieren­dem Maße erodiert. Der INF-Vertrag (Inter­mediate Range Nuclear Forces Treaty) über das Verbot landgestützter Mittelstrecken­waffen von 1987 scheiterte 2019, als die USA unter der Trump-Administration den Austritt beschlossen. Auslöser war Russ­lands Entwicklung eines nach dem Vertrag verbotenen Marschflugkörpers. Moskau hatte eine Verletzung der Vertragsbestimmungen stets abgestritten und wiederum den USA Vertragsbruch vorgeworfen. Ver­schiedene Rüstungskontroll- und Trans­parenzinitiativen mit Blick auf INF-Systeme liefen seitdem ins Leere.

Sollte die Bedeutung von nicht-strate­gischen Nuklearwaffen für Russlands Ab­schreckung wieder zunehmen, wird Mos­kau wohl erst recht kein Interesse an Be­grenzungen im Segment der Kurz- und Mittel­streckenraketen haben. Und auch die USA dürften angesichts von Chinas Aufrüs­tung im Mittelstreckenbereich und in An­betracht ihrer eigenen Raketenprogramme kein Interesse an Beschränkungen haben. So wird es weder auf strategischer noch auf nicht-strategischer Ebene in den kommenden Jahren eine nennenswerte Erhöhung der nuklearen Sicherheit und Stabilität in Europa geben.

Handlungsempfehlungen

Die gegenwärtige Erarbeitung einer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie ermöglicht es der Bundesregierung, die neue Bedrohungslage in Europa zu analysieren und diesbezüglich eine Position zu entwickeln.

Dabei ist es zunächst wichtig, dass Deutschland dem Problem ins Auge sieht: Russland wird in den nächsten Jahren kein Interesse an Rüstungskontrolle, geschweige denn an Abrüstung von nicht-strategischen Nuklearwaffen haben. Vielmehr wird die Bedeutung von Nuklearwaffen in Russlands Sicherheitskonzept wachsen. Die im Koali­tionsvertrag geforderte abrüstungspolitische Offensive auch mit Blick auf Nuklearwaffen kurzer und mittlerer Reichweite dürfte in dieser Legislaturperiode keine Aussicht auf Erfolg haben.

Darüber hinaus sollte die Bundesregierung jedoch auch eine eigene Haltung zu dieser Bedrohung entwickeln und damit ihre Handlungsfähigkeit stärken. An­gesichts der Entwicklung neuer konventioneller Mittelstreckensysteme durch die USA und der Reaktivierung des 56. Artillerie­kommandos in Deutschland könnten in den nächsten Jahren schwierige Ent­schei­dungen über Stationierungen von konventionellen Mittelstreckenflugkörpern auf Berlin zukommen. Verhandlungen mit Moskau können aber nur aus einer Position der Stärke heraus gewinnbringend sein, die sich insbesondere auch aus einem geeinten Bündnis speist. So sollte die Bundesregierung der Gefahr entgegenwirken, dass Beschlüsse über eventuelle amerikanische Raketenstationierungen in Europa zur Zer­reißprobe für die Nato werden.

Schließlich sollten Vertreter und Vertreterinnen der Bundesregierung Russlands nukleare Einschüchterungsstrategie, die sich gezielt auch an westliche Bevölkerungen richtet, durchkreuzen. Moskaus nukle­ares Signalling wird auch in den kommenden Jahren anhalten und potentiell die deutsche Bevölkerung verunsichern. Gute Kommunikation und das Erklären von Sachverhalten können dabei helfen, dem Effekt der Einschüchterung entgegenzuwirken. Schließlich können auch professionelle Medienvertreter und -vertreterinnen an wichtiger Stelle dazu beitragen, Amplifikation, das heißt die unkommentierte Weiter­gabe russischer Meldungen, zu vermeiden.

Lydia Wachs ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts »Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order« (STAND).

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