Der Ansatz, der Russlands Nuklearstrategie kennzeichnet, wird im Westen oft als »escalate to deescalate« beschrieben. Demnach sei Moskau bereit, in einem Konflikt frühzeitig Nuklearwaffen einzusetzen, um diesen zu seinen Gunsten zu beenden. Die offizielle Doktrin des Kreml, Nuklearübungen des russischen Militärs und die Debatten unter politisch-militärischen Eliten deuteten bisher jedoch in eine andere Richtung. Mit dem Konzept der »strategischen Abschreckung« hat Russland vielmehr ein Abschreckungssystem entwickelt, in dem Atomwaffen weiterhin wichtig sind. Doch soll eine breite Palette an nicht-militärischen bis hin zu konventionellen Mitteln mehr Flexibilität unterhalb der nuklearen Schwelle schaffen, um Eskalation zu managen. Dies dürfte sich angesichts von Russlands Schwierigkeiten mit dem Einsatz konventioneller Präzisionswaffen im Ukraine-Krieg und der militärischen Neuaufstellung der Nato jedoch verändern: Die Rolle nicht-strategischer Nuklearwaffen in Russlands Abschreckungspolitik wird wahrscheinlich wieder wachsen. Dies wird nicht nur die Krisenstabilität in Europa schwächen, sondern auch die nukleare Rüstungskontrolle künftig zusätzlich erschweren.
In den letzten Jahrzehnten hat Russland ein umfassendes Programm zur Modernisierung seiner Nuklearstreitkräfte durchgeführt. Im Zuge dessen wurden nicht nur alte Trägersysteme ersetzt, sondern auch neue Fähigkeiten entwickelt und in Dienst genommen. Dabei war in der Vergangenheit das Profil des strategischen Arsenals der Sowjetunion und Russlands nicht so sehr durch spezifische militärische Zielplanungen bestimmt. Eine Hauptbestrebung war vielmehr die annähernde numerische Parität mit den USA. So verfügt Russland heute über ein aktives Nuklearwaffenpotential von annähernd 4.500 Atomsprengköpfen. Davon sind etwa 1.600 für stationierte landgestützte ballistische Interkontinentalraketen (ICBM), U‑Boot-gestützte ballistische Raketen (SLBM) und schwere Bomber vorgesehen. Derzeit unterliegt Russlands strategisches Nuklearwaffenarsenal noch Begrenzungen durch den New-START-Vertrag mit den USA, der 2026 ausläuft. Da Russland aktuell an die 1.000 weitere Sprengköpfe in Lagern vorhält, hätte es dann die Möglichkeit, die Zahl seiner stationierten strategischen Nuklearwaffen massiv zu erhöhen.
Getrieben ist Russlands Modernisierungskampagne aber auch von der Sorge über die Glaubwürdigkeit der eigenen Zweitschlagfähigkeit, insbesondere angesichts des US-Raketenabwehrprogramms. Obwohl davon nur eine sehr begrenzte Bedrohung für ebendiese Zweitschlagfähigkeit Moskaus ausgehen dürfte, hat die russische Führung immer wieder auf die vermeintliche Gefahr hingewiesen und eine Reihe von teilweise asymmetrischen strategischen Fähigkeiten entwickelt, die die Zweitschlagfähigkeit sichern sollen. Dazu gehören etwa der bereits stationierte manövrierfähige Hyperschall-Gleitflugkörper Avangard, die neue ICBM des Typs Sarmat, die den Streitkräften noch dieses Jahr zur Verfügung stehen soll, der Langstreckentorpedo Poseidon und der nukleargetriebene Marschflugkörper Burevestnik mit globaler Reichweite. Die beiden letztgenannten Systeme befinden sich noch in der Entwicklungs- bzw. Testphase.
Russlands nicht-strategische Fähigkeiten
Neben den strategischen verfügt Russland jedoch nach wie vor über etwa 2.000 nicht-strategische Nuklearwaffen, die grundsätzlich von geringerer Sprengkraft und Reichweite sind und keinerlei Rüstungskontroll- und Transparenzmaßnahmen unterliegen.
Insbesondere Russlands Festhalten an diesem Potential und dessen Modernisierung hatten in den letzten Jahren im Westen Diskussionen über Moskaus Nuklearschwelle ausgelöst. Mit dem Angriff auf die Ukraine und den nuklearen Drohgebärden haben sich diese Analysen intensiviert. Russland könnte, so die Sorge, in einer militärischen Auseinandersetzung frühzeitig und in einem vergleichsweise begrenzten Umfang Nuklearwaffen einsetzen, um den Konflikt zu seinen Gunsten schnell zu beenden – und somit nach einem Kalkül handeln, das im Westen als »escalate to deescalate« bezeichnet worden ist. Der Kreml hat dieser Darstellung stets widersprochen. Offiziell erklärt er stattdessen, dass Russland Nuklearwaffen nur im Fall eines Angriffs mit Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen einsetzen würde und dann, wenn die Existenz des russischen Staates durch eine konventionelle Aggression bedroht wäre. Unklar bleibt jedoch, was Moskau als Bedrohung für die Existenz des Staates ansehen würde. Diese Ungewissheit hinsichtlich dessen, wo Russlands Nuklearschwelle genau liegt, kann nicht abschließend geklärt werden – und möglicherweise hat der Kreml selbst diesen Punkt nicht genau definiert. Eine Analyse der russischen sicherheitspolitischen Debatte innerhalb der politischen und militärischen Elite und russischer Strategiedokumente kann aber zumindest Anhaltspunkte dafür liefern, wie Moskau seine Abschreckung bisher konzipiert hat.
Moskaus Nuklearschwelle
Moskau schließt bereits seit Jahrzehnten einen Ersteinsatz von Kernwaffen in seiner Doktrin nicht aus. Doch haben sich die Gestalt und der Charakter dieser Ersteinsatzdrohung und damit auch deren Implikationen für Russlands Nuklearschwelle über die Zeit verändert. Russlands gewandelte Bedrohungswahrnehmung scheint dabei ein Faktor gewesen zu sein, ebenso wie das Zusammenspiel von konventionellen und nuklearen Fähigkeiten.
In den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion führte die von Russland wahrgenommene konventionelle Unterlegenheit gegenüber den modernen Präzisionswaffen der USA auf Seiten Moskaus dazu, nicht-strategischen Nuklearwaffen eine hohe Bedeutung in der eigenen Abschreckungsstrategie zuzumessen. Diese stärkere Gewichtung der Atomwaffen spiegelte sich neben häufigeren Andeutungen der Nuklearoption (Signalling) auch in der deklaratorischen Politik des Landes wider. Der russischen Militärdoktrin aus dem Jahr 2000 zufolge würde Russland den Einsatz von Atomwaffen auch als Reaktion auf eine konventionelle Aggression in Betracht ziehen, »die für die nationale Sicherheit kritisch sei« (Hervorh. d. V.). Hier schien Russland die Bereitschaft zu signalisieren, auch in nicht-existenzbedrohenden Konflikten Nuklearwaffen einzusetzen. Diskussionen unter politisch-militärischen Eliten deuten jedoch darauf hin, dass diese Absenkung der Nuklearschwelle auch in Moskau umstritten war, galt ein derartiger Ansatz doch als wenig glaubwürdig gegenüber nicht-nuklearen Bedrohungen.
Die Rolle von Nuklearwaffen in Moskaus Abschreckungsstrategie änderte sich nach und nach mit der Modernisierung der konventionellen Streitkräfte und der Entwicklung moderner, präziser konventioneller bzw. nuklear-konventioneller (sogenannter dual-capable) land-, see- und luftgestützter Waffensysteme in den 2010er Jahren. Dazu zählt etwa der Dual-capable-Kurzstreckenflugkörper Iskander. Vor allem konzipierte Moskau aber verschiedene Mittelstreckenraketen, wie etwa den ebenfalls zweifach verwendbaren seegestützten Marschflugkörper Kalibr und den luftgestützten konventionellen bzw. nuklearen Marschflugkörper Kh-101/Kh-102.
Mit diesen Entwicklungen wurde die Rolle von Atomwaffen zum Zweck der Abschreckung und des Eskalationsmanagements zwar nicht ersetzt – Nuklearwaffen gelten nach wie vor als ein wichtiger Bestandteil des russischen Abschreckungssystems; jedoch scheint sich die übermäßige Abhängigkeit Moskaus von Nuklearwaffen mangels konventioneller Alternativen in den letzten zehn Jahren erheblich verringert zu haben. Debatten unter Militärexperten in Russland deuten darauf hin, dass die breitere Verfügbarkeit von nicht-nuklearen Fähigkeiten vor allem eine größere Flexibilität unterhalb der nuklearen Schwelle und in frühen Konfliktphasen schaffen soll. Auch seine jüngsten Militärdoktrinen lassen erkennen, dass Russland die Messlatte für den Atomwaffeneinsatz höher legt: Die Bereitschaft zu einer nuklearen Eskalation gilt offiziell nun frühestens für den Fall einer existenzbedrohenden konventionellen Aggression.
Strategische Abschreckung
Mit dem Konzept der »strategischen Abschreckung« (»strategitscheskoje sderschiwanije«) verfolgt Russland heute eine holistische Abschreckungsstrategie, die sowohl nicht-militärische als auch militärische Mittel vereint. Vor allem beruht das Konzept aber auf der glaubwürdigen Androhung des Einsatzes militärischer Gewalt, für den Russland ein breites Spektrum von konventionellen bis strategischen nuklearen Waffen vorsieht. Einem potentiellen Gegner sollen so sukzessiv höhere Kosten in Aussicht gestellt werden. Dadurch sollen in Friedenszeiten Bedrohungen eingehegt werden; im Konfliktfall soll dieses Dispositiv Moskau befähigen, Eskalation zu managen.
Daraus folgt, dass das russische Verständnis von Abschreckung wesentlich weiter gefasst ist als das traditionell westliche: Aus Moskauer Sicht basiert sie nicht allein auf der Androhung von Gewalt bzw. auf Einschüchterung, sondern auch auf der Bereitschaft zu einer limitierten Gewaltanwendung (»silowoje sderschiwanije«). Laut offizieller Definition können sowohl politische Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen als auch die Bevölkerung eines gegnerischen Staates Adressaten dieser Art Abschreckung, das heißt Ziel von Russlands Einschüchterungsstrategie, sein.
Auch die Nuklearwaffen ordnen sich in dieses Konzept ein. Dabei geht die russische strategische Debatte über den Nutzen von Nuklearwaffen von unterschiedlichen Konflikttypen aus. In erster Linie wird zwischen lokalen Kriegen (wie dem in der Ukraine) und großflächigen Kriegen zwischen Großmächten oder Koalitionen differenziert. Regionale Kriege, verstanden als räumlich begrenzte militärische Konfrontation mit einem Staatenbündnis wie der Nato, gelten als mittlerer Konflikttypus.
Folgt man den Diskussionen in russischen Militärkreisen in den letzten Jahren, so spricht die Mehrheit der Teilnehmenden Nuklearwaffen in lokalen Kriegen höchstens im Rahmen von Drohgebärden und als rhetorisches Mittel eine Rolle zu. Mit Hilfe der Drohung, man werde gegebenenfalls Atomwaffen einsetzen, sollen Konflikte lokal begrenzt gehalten werden, indem dritte Staaten vor einer Intervention abgeschreckt werden. Bei Konfrontationen dieses Zuschnitts liegt der Fokus aber auf dem Einsatz von (strategischen) konventionellen Fähigkeiten. In regionalen Kriegen kann es hingegen zu einem Übergang des Einsatzes von strategischen konventionellen Präzisionswaffen zu nicht-strategischen Nuklearwaffen kommen. Nur für den Typ des Großmachtkonflikts besteht, so deuten es die russischen Debatten an, die Möglichkeit eines massiven Einsatzes von nicht-strategischen und strategischen Nuklearwaffen (siehe Grafik, S. 3).
Die nukleare Option hat dementsprechend drei Hauptaufgaben: Abschreckung durch Eskalationsandrohung, der tatsächliche begrenzte Einsatz zum Zwecke des Eskalationsmanagements und massive Vergeltung oder Kriegsführung im Fall einer Eskalation.
Außerdem wird deutlich, dass nicht-nukleare und nukleare Fähigkeiten viel stärker als im Westen als miteinander verwoben betrachtet werden. Dies zeigt sich auch organisatorisch: So sind beispielsweise die russischen Streitkräfte nicht nach strategischen oder nicht-strategischen Nuklearstreitkräften gegliedert. Vielmehr differenziert Russland funktional zwischen generellen Einsatzmitteln (»sily obschtschewo nasnatschenija«), die Effekte direkt im Operationsgebiet erzielen sollen, und strategischen Abschreckungskräften (»strategitscheskije sily sderschiwanija«), die von strategischen konventionellen Waffen bis strategischen Nuklearwaffen reichen. Wegen dieser weit größeren Integration von konventionellen und atomaren Fähigkeiten argumentieren einige westliche Experten und Expertinnen, dass Russlands Nuklearschwelle wesentlich unbestimmter ist als die der Nato-Staaten.
Russlands konventionelle Operation in der Ukraine ist zu einem gewissen Grad ein Spiegel dieser Strategie. So scheint Moskau zu versuchen, den Krieg auf die Ukraine begrenzt zu halten und die Nato durch nukleare Drohgebärden von einer Intervention abzuschrecken. Das nukleare Signalling dient dem Eskalationsmanagement. Dabei ist diese Vorgehensweise nicht ganz neu. Bereits während der Krim-Annexion 2014 sowie in Georgien 2008 bediente sich Russland nuklearer Rhetorik zu Abschreckungszwecken – jedoch nicht mit der gleichen Intensität wie 2022.
Im Westen war Moskaus Strategie des Eskalationsmanagements bisher jedoch überwiegend so interpretiert worden, dass Russland die Signalwirkung und das Potential seiner nicht-strategischen Nuklearwaffen nur dahingehend nutzen würde, um die eigene nationale Sicherheit und das eigene Territorium zu schützen – nicht um revisionistische Ziele in der eigenen Nachbarschaft zu verfolgen. Russlands Vorgehen in der Ukraine stellt diese Lesart nun in Frage.
Russlands Probleme mit konventionellen Präzisionswaffen
In Zukunft dürfte sich der Stellenwert von Nuklearwaffen in Russlands strategischer Abschreckung verändern. Dabei könnten insbesondere zwei Faktoren zu einer größeren Gewichtung der atomaren Komponente führen: Russlands schwindendes Arsenal an nicht-nuklearen strategischen Waffen und die strategische Neuaufstellung der Nato.
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat Russland eine immens hohe Zahl an ballistischen Raketen und Marschflugkörpern eingesetzt. Nach Erkenntnissen westlicher Geheimdienste fallen diese jedoch nicht nur durch eine recht hohe Ausfallquote und mangelnde Zielgenauigkeit auf. Russlands Arsenal an modernen nicht-nuklearen Präzisionswaffen wird auch langsam knapp, weswegen die Militärführung verstärkt auf ältere, weniger präzise Systeme zurückgreifen muss. Um nachzusteuern haben einige der Raketenhersteller die Produktion massiv angekurbelt, doch kommen sie mit der Fertigung nicht hinterher.
Die Situation wird durch Russlands extreme Abhängigkeit von Halbleitern und Elektronik-Komponenten aus dem Westen verschärft. Systeme wie Russlands Iskander-M-Raketen und die Marschflugkörper der Typen Kalibr und Kh-101 benötigen spezielle Mikroelektronik-Bauteile, die vor allem im Westen und in Ostasien hergestellt werden. Da diese Komponenten jedoch von den westlichen Sanktionen und Exportkontrollen betroffen sind, hat das russische Militär Schwierigkeiten, sein Arsenal wieder aufzustocken. Moskaus Bemühungen, eine eigene Halbleiterindustrie aufzubauen, waren bisher kaum erfolgreich. Kurz- und mittelfristig sind auch Importe aus China aufgrund der extraterritorialen Wirkung der US-Sanktionen keine Option. So muss Russland entweder weniger leistungsfähige Systeme herstellen oder versuchen, Sanktionen – zum Beispiel über Scheinfirmen – zu umgehen.
Angesichts dieses Mangels an konventionellen Präzisionswaffen stellt sich die Frage, ob das Vakuum, das die Systeme in Russlands Abschreckungsstrategie zu einem gewissen Grad hinterlassen, durch nicht-strategische Nuklearwaffen gefüllt werden könnte. Dies würde bedeuten, dass Moskau, ähnlich wie in den frühen 2000er Jahren, nicht-strategische Nuklearwaffen in seiner Strategie des Eskalationsmanagements zumindest vorübergehend wieder stärker gewichten würde.
Wird Moskau neue Stationierungen vornehmen?
Die wachsende Bedeutung von Nuklearwaffen aufgrund der beschriebenen konventionellen Schwächen könnte durch den gegenwärtigen Wandel der europäischen Sicherheitsordnung noch zunehmen. Russlands Krieg in der Ukraine hat massive Veränderungen in der Verteidigungsarchitektur in Europa angestoßen. Der Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens wird es dem Bündnis erleichtern, den baltischen Raum zu verteidigen, und Russlands Fähigkeit beeinträchtigen, Militäroperationen in der Ostsee durchzuführen. Dabei wird die russische Militärplanung in Zukunft eine wesentlich längere Küstenlinie der Nato und Landgrenze mit dem Bündnis berücksichtigen müssen. Die Schritte der Nato zur Anpassung ihrer Verteidigungs- und Abschreckungsarchitektur dürften die strategische Lage aus russischer Sicht zusätzlich verschlechtern. Zwar verfügt Russland bereits über beträchtliche militärische Mittel in Kaliningrad, in der Region St. Petersburg und auf der Halbinsel Kola. Doch wird sich Moskaus Bedrohungswahrnehmung angesichts dieser Entwicklungen höchstwahrscheinlich verschärfen, was gewisse Streitkräfteanpassungen nach sich ziehen dürfte. Verteidigungsminister Sergei Shoigu hat bereits erklärt, dass die genannten Veränderungen Russlands Verteidigungsstrategie beeinflussen werden.
Wie dies aussehen könnte, bleibt indes unklar. Momentan scheint Russland nicht über genügend konventionelle Streitkräfte zu verfügen, um die bisherigen Stationierungen im Baltikum aufzustocken. Dies könnte einen weiteren Faktor bilden, der sich zugunsten einer Aufwertung insbesondere nicht-strategischer Nuklearwaffen in Russlands Abschreckungsstrategie und zu einer Anpassung des Nukleardispositivs in jenen Regionen auswirkt, die an die Nato grenzen.
Russland hat bereits seit 2017 Iskander-M-Systeme in Kaliningrad stationiert, wobei unklar ist, ob es dort auch Nuklearsprengköpfe lagert. Bisher hat Moskau Renovierungsarbeiten an einigen Lagestätten durchgeführt. Es könnte daher nun Nuklearwaffen in die Exklave verlegen, sollte dies nicht bereits der Fall sein. Auch hat Moskau im August 2022 Mig-31I-Kampfflugzeuge mit Dual-capable-Raketen des Typs Kinzhal nach Kaliningrad beordert, um die strategische Abschreckung zu stärken. Die luftgestützte ballistische Rakete Kinzhal mit mittlerer Reichweite gehört zu Russlands modernen Waffensystemen, deren Einsatz im Ukraine-Krieg Aufsehen erregte. Auch wenn sie oft als Hyperschallrakete etikettiert wird, basiert ihr Design letztendlich auf den Iskander-M-Systemen. Dabei zeichnet sie weniger die hohe Geschwindigkeit aus – die auch andere ballistische Raketen erreichen – als ihre Manövrierfähigkeit, die eine effektive Abwehr erschwert.
Ein weiterer Schritt, um auf die veränderte europäische Sicherheitsordnung zu reagieren, könnte in der Stationierung von Nuklearwaffen bzw. nuklearwaffenfähigen Systemen in Belarus bestehen. Ende Juni haben Alexander Lukaschenko und Putin dieses Thema angesprochen. Demnach sollen in den kommenden Monaten belarussische Kampfflugzeuge des Typs Su‑25 in Russland zu Trägersystemen für russische Nuklearwaffen umgebaut und Personal entsprechend ausgebildet werden. Zudem kündigte der russische Staatschef an, Iskander-M-Systeme nach Belarus zu verlegen. Ein Transfer von Nuklearsprengköpfen nach Belarus war allerdings nicht Teil der öffentlichen Verlautbarung.
Auch wenn das Verbot der Stationierung von Nuklearwaffen auf belarussischem Territorium mit der belarussischen Verfassungsreform vom Februar 2022 gestrichen wurde, wäre ein solcher Transfer relativ aufwendig. Beispielsweise müssten zunächst ehemals sowjetische Lagerstätten in Belarus reaktiviert werden. Zudem könnte das belarussische Su-25-Kampfflugzeug höchstwahrscheinlich nur Gravitationsbomben tragen und seine Überlebensfähigkeit gegenüber Abwehrmaßnahmen wäre relativ gering. Zuletzt war auch ein anderes Kampfflugzeug des Typs Su-24 im Gespräch. Dieses wäre zwar bereits nuklearfähig, allerdings ist es vor zehn Jahren von Belarus außer Dienst gestellt worden und müsste daher erst reaktiviert werden. Zum jetzigen Zeitpunkt scheinen einige politische, aber auch technische Fragen zwischen Moskau und Minsk also noch ungeklärt zu sein. Denkbar ist auch, dass für Putin und Lukaschenko das politische Signal im Zentrum ihrer öffentlich gemachten Überlegungen stand und weniger die tatsächliche Verlegung von robusten Systemen nach Belarus.
Krisenstabilität könnte abnehmen…
Eine Aufwertung der Rolle von Nuklearwaffen in Russlands Abschreckungsstrategie und eine Stärkung des Nukleardispositivs in den Gebieten, die an die Nato angrenzen, könnten auf unterschiedliche Weise die europäische Sicherheit und Stabilität schwächen.
Erstens könnte eine vermehrte Stationierung von Nuklearwaffen im Westen des Landes neue Rüstungsdynamiken in Europa auslösen. Die unmittelbaren militärischen Auswirkungen einer Stationierung von nicht-strategischen Nuklearwaffen in Kaliningrad und Belarus dürften allerdings eher gering sein. Bereits jetzt kann Russland mittels seiner Marschflugkörper jedes Ziel in Europa bedrohen.
Nichtsdestotrotz könnte eine Stärkung der Nuklearstreitkräfte im Ostseeraum und gegebenenfalls in Belarus politischen Druck innerhalb der Nato erzeugen, auf diese Schritte Moskaus zu antworten. Bisher lehnt die Nato eine erneute Stationierung von nuklearfähigen landgestützten Mittelstreckenflugkörpern in Europa entschieden ab. Doch entwickeln die USA derzeit unterschiedliche konventionelle Abstandswaffen. Stationierungsentscheidungen stehen wohl noch aus. Sollte Russland sein Nukleardispositiv im Westen ausbauen, könnten insbesondere zentral- und osteuropäische Staaten nicht nur eine Stärkung der defensiven Fähigkeiten, wie der Raketen- und Flugabwehr, fordern. Sie könnten auch Druck auf die Nato ausüben, offensive Fähigkeiten durch eine Stationierung der amerikanischen konventionellen Marschflugkörper und Hyperschallwaffen zu erhöhen, die sich derzeit in den letzten Entwicklungsstadien befinden.
Dies könnte langfristig ein ernsthaftes Interesse in Moskau an nicht-strategischer Rüstungskontrolle – ähnlich wie in den 1970er und 1980er Jahren – hervorrufen. Kurz- bis mittelfristig könnte es aber vor allem Moskaus Bedrohungswahrnehmung verschärfen und damit einen Einfluss auf Eskalationsdynamiken haben.
Daran schließt sich der zweite Punkt an: Eine größere Gewichtung von Nuklearwaffen in Russlands Eskalationsmanagement könnte sich auf die Stabilität und Dynamik von potentiellen Krisen zwischen der Nato und Russland auswirken. Die Forschung zu Nuklearkrisen hebt insbesondere zwei Faktoren hervor, die Krisenstabilität – das heißt das Eskalationspotential von Krisen – beeinflussen können. Dies ist erstens der Anreiz, Nuklearwaffen als erstes einzusetzen, und zweitens der Grad der Kontrollierbarkeit von Krisen, etwa durch Kommunikationskanäle. Dabei ist weniger die tatsächliche Situation als deren Wahrnehmung durch die involvierten Akteure von Bedeutung.
So könnten die USA in einer sich verschärfenden Krisenlage, beispielsweise im Ostseeraum, Sorgen vor einer niedrigen russischen Nuklearschwelle haben, weshalb sie den Einsatz von konventionellen Präzisionswaffen in Betracht ziehen könnten. Russland dürfte dies wiederum fürchten, was einen russischen Einsatz von Nuklearwaffen wahrscheinlicher machen könnte. Insgesamt wäre das Eskalationspotential von Krisen erhöht.
Da beide Seiten diese potentielle Eskalationsdynamik in ihre Militärplanungen einbeziehen werden und darüber hinaus etablierte Krisenkommunikationskanäle existieren, dürfte es unwahrscheinlich bleiben, dass es zu einer Eskalation über die Nuklearschwelle hinaus kommt. In jedem Fall dürfte die Wahrnehmung der vorliegenden asymmetrischen Kräfteverteilung in Zukunft Krisen und die Schritte beider Seiten noch stärker mitprägen als bisher.
…und gleichzeitig könnten die Erfolgsaussichten für Rüstungskontrolle schwinden
Drittens wird eine potentiell wachsende Bedeutung von Nuklearwaffen für Russlands Sicherheit ein zusätzliches Hindernis für Fortschritte bei der Rüstungskontrolle darstellen. Der New-START-Vertrag, der die Zahl strategischer Trägersysteme und Atomsprengköpfe begrenzt, läuft 2026 aus. Derzeit ist es extrem unwahrscheinlich, dass ein Nachfolgevertrag zwischen den USA und Russland geschlossen wird. Grund dafür sind nicht nur die bilateralen Spannungen, sondern insbesondere auch Chinas nukleare Aufrüstung und die innenpolitischen Kräfteverhältnisse in den USA. Ob ungeachtet dessen eine politisch verbindliche Obergrenze von strategischen Nuklearwaffen oder ein begrenzter Datenaustausch als Transparenzmaßnahme ausgehandelt werden können, bleibt abzuwarten.
Bezüglich nicht-strategischer Nuklearwaffen ist die Lage noch schwieriger. Bereits vor dem Krieg ist die Rüstungskontrolle von nicht-strategischen Systemen in gravierendem Maße erodiert. Der INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) über das Verbot landgestützter Mittelstreckenwaffen von 1987 scheiterte 2019, als die USA unter der Trump-Administration den Austritt beschlossen. Auslöser war Russlands Entwicklung eines nach dem Vertrag verbotenen Marschflugkörpers. Moskau hatte eine Verletzung der Vertragsbestimmungen stets abgestritten und wiederum den USA Vertragsbruch vorgeworfen. Verschiedene Rüstungskontroll- und Transparenzinitiativen mit Blick auf INF-Systeme liefen seitdem ins Leere.
Sollte die Bedeutung von nicht-strategischen Nuklearwaffen für Russlands Abschreckung wieder zunehmen, wird Moskau wohl erst recht kein Interesse an Begrenzungen im Segment der Kurz- und Mittelstreckenraketen haben. Und auch die USA dürften angesichts von Chinas Aufrüstung im Mittelstreckenbereich und in Anbetracht ihrer eigenen Raketenprogramme kein Interesse an Beschränkungen haben. So wird es weder auf strategischer noch auf nicht-strategischer Ebene in den kommenden Jahren eine nennenswerte Erhöhung der nuklearen Sicherheit und Stabilität in Europa geben.
Handlungsempfehlungen
Die gegenwärtige Erarbeitung einer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie ermöglicht es der Bundesregierung, die neue Bedrohungslage in Europa zu analysieren und diesbezüglich eine Position zu entwickeln.
Dabei ist es zunächst wichtig, dass Deutschland dem Problem ins Auge sieht: Russland wird in den nächsten Jahren kein Interesse an Rüstungskontrolle, geschweige denn an Abrüstung von nicht-strategischen Nuklearwaffen haben. Vielmehr wird die Bedeutung von Nuklearwaffen in Russlands Sicherheitskonzept wachsen. Die im Koalitionsvertrag geforderte abrüstungspolitische Offensive auch mit Blick auf Nuklearwaffen kurzer und mittlerer Reichweite dürfte in dieser Legislaturperiode keine Aussicht auf Erfolg haben.
Darüber hinaus sollte die Bundesregierung jedoch auch eine eigene Haltung zu dieser Bedrohung entwickeln und damit ihre Handlungsfähigkeit stärken. Angesichts der Entwicklung neuer konventioneller Mittelstreckensysteme durch die USA und der Reaktivierung des 56. Artilleriekommandos in Deutschland könnten in den nächsten Jahren schwierige Entscheidungen über Stationierungen von konventionellen Mittelstreckenflugkörpern auf Berlin zukommen. Verhandlungen mit Moskau können aber nur aus einer Position der Stärke heraus gewinnbringend sein, die sich insbesondere auch aus einem geeinten Bündnis speist. So sollte die Bundesregierung der Gefahr entgegenwirken, dass Beschlüsse über eventuelle amerikanische Raketenstationierungen in Europa zur Zerreißprobe für die Nato werden.
Schließlich sollten Vertreter und Vertreterinnen der Bundesregierung Russlands nukleare Einschüchterungsstrategie, die sich gezielt auch an westliche Bevölkerungen richtet, durchkreuzen. Moskaus nukleares Signalling wird auch in den kommenden Jahren anhalten und potentiell die deutsche Bevölkerung verunsichern. Gute Kommunikation und das Erklären von Sachverhalten können dabei helfen, dem Effekt der Einschüchterung entgegenzuwirken. Schließlich können auch professionelle Medienvertreter und -vertreterinnen an wichtiger Stelle dazu beitragen, Amplifikation, das heißt die unkommentierte Weitergabe russischer Meldungen, zu vermeiden.
Lydia Wachs ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts »Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order« (STAND).
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DOI: 10.18449/2022A59