Bei den Kommunalwahlen in der Türkei hat die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) einen historischen Sieg errungen: Sie wurde landesweit stärkste Kraft und wird fast die Hälfte der Groß- und Provinzhauptstädte regieren. Vor dem Hintergrund einer Rekordinflation, einer strikten Geldpolitik und eines damit einhergehenden Kaufkraftverlustes urbaner Bevölkerungsgruppen war die Wahl ein Stimmungstest für Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Dieser wurde abgestraft – nicht nur für die wirtschaftliche Misere, sondern ebenso für zunehmende Korruption und Vetternwirtschaft. Sein Plan, durch eine Verfassungsänderung ein drittes Mal für das Präsidentenamt kandidieren zu dürfen und darüber hinaus auch seine Machtfülle auszuweiten, erhielt ebenfalls einen herben Dämpfer. Dies ist eine gute Ausgangslage für die Opposition, die gegen eine Konsolidierung des autokratischen Herrschaftssystems arbeitet und sich auf eine Post-Erdoğan-Ära vorbereitet. Der Wahlsieg eröffnet Freiräume für Oppositionelle und die Zivilgesellschaft. Überdies ergeben sich neue transnationale Kooperationsmöglichkeiten zwischen Deutschland und der Türkei.
Am 31. März 2024 wählten 48,3 Millionen türkische Bürger:innen bei einer Wahlbeteiligung von 78,6 Prozent landesweit die Bürgermeister:innen, Provinzparlamente und Ortsvorsteher:innen. Die größte Aufmerksamkeit galt dabei İstanbul. »Wer İstanbul regiert, regiert auch die Türkei«, betonte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan immer wieder. Die Bedeutung der 16-Millionen-Metropole am Bosporus liegt auf der Hand: In İstanbul leben 18,3 Prozent der Bevölkerung sowie ein Viertel der Wahlberechtigten, in dieser Stadt werden 31 Prozent des türkischen Bruttoinlandsprodukts (2022) und 23,2 Prozent des Exports (2023) erbracht, hier schlägt der Puls der türkischen Finanz- und Kulturwelt. Wer İstanbul regiert, kontrolliert enorme finanzielle Ressourcen, hat Umverteilungsspielräume und kann Wählerschichten zufriedenstellen bzw. hinzugewinnen. In İstanbul begann Erdoğan 1994 als Oberbürgermeister seine Karriere, und ausgerechnet hier musste er zum dritten Mal eine Wahlniederlage hinnehmen: Der von ihm ins Rennen geschickte Murat Kurum unterlag dem amtierenden Bürgermeister Ekrem İmamoğlu mit einem Abstand von 11,6 Prozentpunkten.
Erstmals seit 1977 wurde die säkulare CHP stärkste Kraft mit landesweit 37,8 Prozent der gültigen Stimmen. Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) landete mit 35,5 Prozent auf dem zweiten Platz und fuhr ihr schlechtestes Wahlergebnis nach 2002 ein. Die CHP wird 35 und die AKP nur noch 24 von 81 Provinzhauptstädten regieren. Neben der CHP geht auch die ultraislamistische Neue Wohlfahrtspartei (YRP) als Siegerin aus diesen Kommunalwahlen hervor; sie konnte ihre Stimmen gegenüber den Parlamentswahlen 2023 von 2,8 auf 6,2 Prozent mehr als verdoppeln. Die YRP setzte sich in den Hauptstädten und Parlamenten der Provinzen Yozgat und Şanlıurfa durch, die bisher als AKP-Hochburgen galten. Die linke prokurdische Partei für Gleichheit und Demokratie des Volkes (DEM) konnte mit 5,7 Prozent ihre Wählerbasis in den mehrheitlich kurdischen Provinzen und Städten der Südosttürkei festigen.
Quellen: Yüksek Seçim Kurulu [Hoher Wahlausschuss], »Ergebnis Parlamentswahlen 2023«, <https://www.ysk.gov.tr/doc/dosyalar/ docs/14Mayis2023/KesinSecimSonuclari/ ULKE_GENELI_TOPLAMI_MM24.pdf>; »Election 2024«, Anadolu Ajansı, <https://secim.aa.com.tr/> (Zugriff jeweils am 30.4.2024). |
Auch Frauen erlangten bei den diesjährigen Kommunalwahlen einen historischen Erfolg. Statt nur vier wie bisher werden nun elf von 81 (Groß-)Stadtkommunen von Frauen regiert, von denen die überwiegende Mehrheit der CHP oder der DEM angehört.
Weitere Verlierer außer der AKP sind die zum Regierungsblock gehörende Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und die oppositionelle nationalistische Gute Partei (İYİP), die die Hälfte bzw. drei Fünftel ihrer Stimmen eingebüßt haben (siehe Grafik 1). Doch was steckt hinter der Niederlage der regierenden AKP?
Klare Niederlage für den Regierungsblock
Eine Wahlniederlage des Regierungsblocks (AKP und MHP) war alles andere als sicher. Erst im Mai 2023 erhielt Präsident Erdoğan ein Regierungs- und Amtsmandat bis 2028. Seine Volksallianz hat eine solide Mehrheit im Parlament (319 von 594 Sitzen) sowie unbeschränkten Zugang zu staatlichen Ressourcen, sie kontrolliert einen Großteil der Medien und bestimmt damit weitgehend den öffentlichen Diskurs. Die Opposition hingegen verlor nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr deutlich an Schlagkraft. Der Oppositionsblock, der so genannte »Sechser-Tisch«, zerfiel, und die Oppositionsparteien traten getrennt zu den Kommunalwahlen an. Ideologische Grabenkämpfe und gegenseitiges Misstrauen hatten die Oppositionsparteien und ihre Kandidat:innen geschwächt. Viele räumten dem amtierenden İstanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu nur geringe Chancen ein, wiedergewählt zu werden.
Vier Gründe sind dafür verantwortlich, dass Erdoğan und sein Regierungsblock trotz der genannten Vorteile eine herbe Niederlage erlitten haben. An erster Stelle ist die schwierige wirtschaftliche Situation zu nennen. Zwar legte die türkische Wirtschaft im Jahr 2023 um 4,5 Prozent zu, sie steht aber vor enormen Herausforderungen. Nach offiziellen Angaben lag die Inflation im März 2024 bei 68,5 Prozent, obwohl die Zinsen der Zentralbank seit Juli 2023 schrittweise auf 50 Prozent angehoben wurden. Die unabhängige Inflation Research Group spricht sogar von einer Teuerungsrate von 124 Prozent. Die hohe Inflation hat für Privathaushalte die Lebensunterhaltskosten spürbar steigen lassen, hat zu Konsumverzicht und Verarmung geführt; für Unternehmen bedeutet sie Planungsunsicherheit und hemmt Investitionen.
Die sich verschlechternden Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten wurden vor den Parlamentswahlen 2023 durch Lohnerhöhungen kompensiert bzw. durch populistische Ausgaben abgemildert. Vor den Kommunalwahlen dieses Jahres erlaubte die Wirtschaftslage keine neue Wahlökonomie, was sich in den Wählerentscheidungen niedergeschlagen hat.
Zweitens schwächte die Kandidatenaufstellung die Wahlchancen der AKP. In İstanbul ließ Erdoğan mit Murat Kurum einen wenig charismatischen Technokraten zur Wahl antreten, dem es nicht gelang, die Wähler:innen für sich zu gewinnen. Erdoğans Machterhaltungsinteresse scheint bei der Nominierung der Kandidat:innen landesweit eine Rolle gespielt zu haben. Nicht nur in İstanbul, sondern vielerorts schickte er Personen mit schwachem Profil ins Rennen, um künftigen parteiinternen Herausforderern keine Machtbasis zu geben. Kurum genoss die volle Unterstützung Erdoğans. Der Präsident zog sogar selbst in den Wahlkampf und bediente sich eines populistischen Diskurses mit stark islamistisch-nationalistischen Untertönen mit dem Ziel, breite Wählerschichten zu überzeugen. Gleichzeitig mobilisierte er alle verfügbaren staatlichen Mittel und Ressourcen für Kurums Wahlkampf.
Der amtierende İstanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu von der CHP dagegen verließ sich auf seine Popularität bei verschiedenen Wählergruppen. Er und seine Partei konnten mit einer strategischen Kandidatenaufstellung und einer kreativen Kampagne Hoffnungen wecken bei moderaten Linken, kurdischen Wähler:innen und in säkularen Milieus. Auch religiösen, konservativen İstanbuler:innen begegneten sie mit Empathie, was auf große Resonanz stieß und ihnen Stimmen einbrachte. In seiner Dankesrede appellierte İmamoğlu an alle Wählergruppen und betonte die ethnisch-kulturelle Vielfalt der Türkei.
Zudem trug die Bündelung der oppositionellen Wählerschaft in İstanbul um İmamoğlu und in Ankara um Bürgermeister Mansur Yavaş (ebenfalls CHP) wesentlich zur Niederlage des Regierungsblocks und zum Wahlsieg der CHP bei. İmamoğlu und Yavaş schufen damit quasi ein »Wahlbündnis«, zu dem die Parteiführungen nicht in der Lage waren. Eine genaue Betrachtung der Ergebnisse im Vergleich zu früheren Wahlen zeigt, dass viele ehemalige Wähler:innen der İYİP und der prokurdischen DEM ihre Stimmen der CHP und İmamoğlu bzw. Yavaş gegeben haben.
Entscheidend war in diesem Zusammenhang auch, dass die Parteiführung der DEM keinen harten Wahlkampf gegen İmamoğlu oder die CHP führte.
Der dritte Grund für die Niederlage der AKP ist der rasante Aufstieg der Neuen Wohlfahrtspartei (YRP). Bei diesen Kommunalwahlen stellte sie für die frustrierte AKP-Wählerschaft eine echte Alternative dar. Die YRP steht wie Erdoğan und die AKP in der Tradition der »Nationalen Sicht« (Millî Görüş). Ihr Vorsitzender Fatih Erbakan ist der Sohn Necmettin Erbakans, der 1970 die erste Partei der Millî-Görüş-Bewegung gründete und von 1996 bis 1997 Ministerpräsident war. Fatih Erbakan genießt vor allem unter islamistischen AKP-Anhänger:innen hohes Ansehen. Zu den Hauptthemen der YRP im Wahlkampf gehörten der Gaza-Konflikt und die Unterstützung für Palästinenser:innen im Konflikt mit Israel. Erbakan griff Erdoğan und dessen Regierung an, da diese trotz des Gaza-Kriegs den Handel mit Israel nicht einschränkten. Außerdem thematisierte er die Verarmung insbesondere von Rentner:innen und forderte eine Erhöhung des Mindestlohns. Da die YRP viele religiös-konservative Anhänger:innen der AKP für sich gewinnen konnte, hat sie erheblich zur Niederlage dieser Partei beigetragen.
Der vierte Grund für das Wahldebakel der AKP ist die im historischen Vergleich niedrige Wahlbeteiligung von nur 78,6 Prozent. Traditionell ist die Wahlbeteiligung im Land hoch, im Vorjahr bei den Parlamentswahlen lag sie beispielsweise bei rund 88 Prozent. Vermutungen zufolge haben 80 Prozent derjenigen, die diesmal nicht wählen gingen, zuvor für die AKP gestimmt. Diese hat vor allem in den Städten verloren, bei jungen Menschen, verarmten Personen im Ruhestand sowie bei gebildeten – namentlich konservativen – Wählerschichten.
Absage an die Identitätspolitik, Denkzettel für Erdoğan
Die Wahlergebnisse deuten darauf hin, dass sich der Einfluss ethnisch-kultureller Identitäten und Bruchlinien (säkular vs. religiös, alevitisch vs. sunnitisch, kurdisch vs. türkisch) auf die politische Lagerbildung allmählich verringert. Die CHP wurde bisher überwiegend von der säkularen, urbanen, liberalen, gemäßigt nationalistischen Bevölkerung sowie von Alevit:innen und Kurd:innen gewählt, geographisch erzielte sie hauptsächlich in den Küstengebieten der West- und Südtürkei gute Ergebnisse. In Zentralanatolien war die CHP mit Ausnahme von Eskişehir und Ankara relativ schwach und erreichte im Durchschnitt deutlich unter 15 Prozent der Stimmen. Im Osten und Südosten der Türkei lag sie mit etwa zwei bis vier Prozent weit hinter der AKP, der DEM (bzw. ihren Vorgängerparteien) und teilweise auch hinter der MHP. Dieser Trend scheint nun gebrochen; gleichwohl ist offen, ob sich diese Entwicklung bei kommenden Wahlen fortsetzt.
Ein weiterer Beleg für eine verfehlte Identitätspolitik ist die Tatsache, dass ultranationalistische Parteien bei den diesjährigen Kommunalwahlen nicht an frühere Erfolge anknüpfen konnten. Die letzten Parlamentswahlen waren durch einen massiven (nationalistischen) Rechtsruck gekennzeichnet, die nationalistischen Parteien – MHP, İYİP, die Partei der Großen Einheit (BBP) und die Partei des Sieges (ZP) – konnten so viele Stimmen wie nie zuvor auf sich vereinen und kamen insgesamt auf fast 23 Prozent. Die ultranationalistische Wende schlug sich auch in der Wahlkampfrhetorik von Staatspräsident Erdoğan und – im zweiten Wahlgang – von Kemal Kılıçdaroğlu nieder, damals CHP-Vorsitzender und Erdoğans Herausforderer. Bei den aktuellen Kommunalwahlen rutschten die nationalistischen Parteien auf zusammen knapp 11 Prozent ab (siehe Grafik 1, Seite 2).
Aus dem Wahlverhalten der Kurd:innen bei den Kommunalwahlen lassen sich zwei Botschaften ablesen. Erstens hat die kurdische Wählerschaft das Regime der Zwangsverwaltung abgewählt, und die DEM hat sich in den primär kurdisch besiedelten Städten durchgesetzt. Bei den Kommunalwahlen 2019 hatte die prokurdische Partei, damals die Partei der Demokratie der Völker (HDP), 65 Bürgermeisterposten gewonnen. Die Regierung enthob aber einen Großteil der kurdischen Politiker:innen wegen Terrorvorwürfen ihres Amtes und ersetzte sie durch Zwangsverwalter. Zweitens haben religiös-konservative kurdische Wähler:innen die AKP abgestraft. Sie gingen diesmal entweder nicht zur Wahl oder bevorzugten die YRP, die auf ihrem religiös-konservativen Diskurs beharrte.
Für Präsident Erdoğan waren die Kommunalwahlen ein Stimmungstest, vor allem hinsichtlich seiner neuen Geld- und Währungspolitik. Einen klaren Wahlsieg hätte er als Bestätigung seines bisherigen Kurses interpretiert. Nun hat er die Quittung bekommen für seine volatile Geldpolitik, für die zunehmende Vetternwirtschaft und Korruption im Land sowie für sein autoritäres Regime. Erdoğan verband mit den Kommunalwahlen die Hoffnung, die Großkommunen İstanbul und Ankara zurückzugewinnen. Die Herrschaft über diese Metropolen hätte seinen Handlungsspielraum bei der sozialen Umverteilung und der Allokation von Ressourcen an seine cronies deutlich vergrößert – allein İstanbul steht für fast ein Drittel der türkischen Wirtschaft.
Mit der Wahlniederlage haben auch Erdoğans Pläne, durch eine Verfassungsänderung an der Macht bleiben zu können, einen empfindlichen Dämpfer erhalten. Für eine Verfassungsänderung, die ihm eine dritte Kandidatur für das Amt des Staatspräsidenten sichern würde, ist eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erforderlich. Diese zu organisieren wird nicht einfach sein für einen politisch angeschlagenen und mit vielfältigen wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontierten Präsidenten und seinen Partner MHP. Die Unterstützung der rechtspopulistischen und ultraislamistischen Kleinparteien wie İYİP, Hüda Par oder YRP reicht dafür nicht aus, eine Unterstützung durch die prokurdische DEM wäre notwendig. Die Vorsitzenden dieser Parteien dürften jedoch kaum Interesse daran haben, Erdoğans politisches Leben durch eine Verfassungsänderung zu verlängern. Sie alle haben die Zeit nach Erdoğan im Blick. Zugeständnisse an die DEM würden den Präsidenten wiederum von den nationalistischen und den ultraislamistischen Parteien entfremden.
Sollte Erdoğan ein Referendum über eine Verfassungsänderung anordnen, müsste er erneut auf Wirtschaftspopulismus und Wahlgeschenke setzen, um eine realistische Aussicht auf Erfolg zu haben. Dies würde die Erholung der türkischen Wirtschaft behindern und wäre daher auch politisch nicht tragbar. Daraus kann man schließen, dass die Gefahr eines weiteren Abgleitens in die Autokratie vorerst gebannt ist.
Die CHP – ein neuer Macht- und Wirtschaftsfaktor
Mit dieser landesweiten Wahlniederlage, insbesondere der erneuten Niederlage in İstanbul, bekommt Erdoğans Charisma Risse. Zweifel an seiner Führung werden aufkommen, während İmamoğlu zu einer politischen Attraktion geworden ist. In türkischen und ausländischen Medien genießt er bereits jetzt mehr Aufmerksamkeit als andere türkische Oppositionspolitiker:innen. İmamoğlu war Desinformationskampagnen und Dämonisierungsversuchen ausgesetzt, sowohl seitens der AKP in den Medien als auch durch mehrere Strafprozesse; dass er trotzdem Erdoğans Kandidaten Murat Kurum hinter sich ließ, macht ihn zum Aufsteiger der türkischen Politszene.
Die wohl bedeutsamste Botschaft dieser Wahl ist, dass ein Machtwechsel bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2028 prinzipiell möglich ist. Für die Opposition war es ein Test, inwieweit sie dem Machtanspruch Erdoğans geschlossen entgegentreten kann. Der Sieg für İmamoğlu festigt zweifellos seine Position als stärkster Herausforderer Erdoğans in den kommenden Jahren und als aussichtsreicher Kandidat bei den nächsten Präsidentschaftswahlen.
Dennoch droht ihm ein Politikverbot. Im Juni 2023 reichte die İstanbuler Staatsanwaltschaft eine Anklageschrift wegen »Angebotsmanipulation« gegen sieben Personen ein, darunter Bürgermeister İmamoğlu. Sollte er beim nächsten Gerichtstermin am 31. Mai für schuldig befunden werden, drohen ihm zwischen drei und sieben Jahre Gefängnis sowie der »Entzug bestimmter Rechte«, was für ihn das Verbot einschließt, für ein politisches Amt zu kandidieren. Das Verfahren ist offenkundig politisch motiviert. Würde man allerdings jetzt den Wahlsieger İmamoğlu mit einem Betätigungsverbot belegen, löste dies eine Solidarisierung mit ihm und seiner Partei, der CHP, aus. Dies würde ihn politisch stärken.
Quellen: Hüseyin Gökçe, »En büyük ekonomiye sahip illerin tamamı CHP’ye geçti« [Provinzen mit den stärksten Volkswirtschaften gehen an CHP], in: Ekonomim, 2.4.2024, <https://www.ekonomim.com/ekonomi/en-buyuk-ekonomiye-sahip-illerin-tamami-chpye-gecti-haberi-736830>; »Election 2024«, Anadolu Ajansı, <https://secim.aa.com.tr/> (Zugriff jeweils am 30.4.2024). |
Die CHP hat sich mit dem aktuellen Wahlergebnis zu einem politischen und wirtschaftlichen Faktor entwickelt. In den nächsten fünf Jahren wird die Partei 14 Großstädte, 21 Provinzhauptstädte, 337 Bezirke und 61 Ortschaften regieren. In diesen CHP-geführten Kommunen leben 62 Prozent der Bevölkerung, hier werden 73,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet und 84,5 Prozent aller Spareinlagen gehalten, nicht zuletzt sind sie für 79,6 Prozent des türkischen Gesamtexports verantwortlich. Und mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 9.588 US-Dollar übertreffen sie das Pro-Kopf-Einkommen der AKP-regierten Kommunen (siehe Grafik 2).
Die CHP stellt die »orthodoxe Ökonomie«, die Haushaltsdisziplin und die Priorisierung der Inflationsbekämpfung nicht in Frage. Als Ziele hat sie angekündigt, entschieden gegen Armut vorzugehen, die soziale Kommunalpolitik auszubauen und den sozialen Wohnungsbau zu fördern, sie betont das »öffentliche Interesse« und strebt eine effiziente Besteuerung an. All das sind Indizien dafür, dass sich die CHP nicht strikt an der neoliberalen Politik der Regierung orientiert. Das Versprechen, eine demokratische Wende herbeizuführen, Korruption zu bekämpfen und für Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge zu sorgen, birgt die Chance, dass sich die türkische Wirtschafts- und Finanzwelt dieser Partei zuwendet.
Mit den Kommunalwahlen hat sich der CHP die Möglichkeit eröffnet, durch geschickte Lokalpolitik den Alltag breiter Wählerschichten zu verbessern und sich als zukünftige Regierungspartei zu profilieren. Für Bürgermeister:innen von Großstädten bietet sich die Gelegenheit, neue Felder der Kooperation mit deutschen und europäischen Städten zu erschließen (siehe übernächstes Kapitel).
Anfang vom Ende der Erdoğan-Ära?
Präsident Erdoğan und seine Partei wurden bei den Kommunalwahlen aufgrund der wirtschaftlichen Misere und weil Korruption und Vetternwirtschaft um sich greifen abgestraft. Die AKP rutschte in der Wählergunst erstmals hinter die oppositionelle CHP zurück. Auch in absoluten Stimmzahlen befindet sich die AKP seit 2019 in einem Abwärtstrend. Bahnt sich damit das Ende der Ära Erdoğan an?
Dagegen lässt sich einwenden, dass Präsidentschafts- und Parlamentswahlen anderen soziopolitischen Dynamiken unterliegen als Kommunalwahlen. Außerdem ist Erdoğan populärer als seine Partei, und bei den Kommunalwahlen ging es schließlich nicht unmittelbar um Erdoğan als Kandidaten. Gleichwohl werden die noch verbleibenden vier Jahre seiner Amtszeit zahlreiche Herausforderungen mit sich bringen. Es wird für ihn sehr schwierig, diese ohne Popularitätsverlust zu überstehen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Erdoğan bis zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in vier Jahren wieder die Oberhand gewinnt, wird überdies durch folgende Umstände verringert: Erstens haben seine aktuellen und potenziellen Bündnispartner im rechten Lager ebenfalls massiv Stimmen verloren. Für die Parteiführungen dürfte es schwer werden, diese zurückzugewinnen.
Zweitens hat Erdoğan nun mit der YRP einen neuen (islamistischen) Gegner von rechts. Diese Partei, die sich die Solidarität mit den Palästinenser:innen auf die Fahnen geschrieben hat, hat bei den Kommunalwahlen einen Achtungserfolg erzielt. Dieser könnte Erdoğan zu einer harschen Rhetorik gegen Israel sowie einer entsprechenden Politik verleiten, was die Beziehungen zum Westen vermutlich weiter belasten würde.
Handelsrestriktionen gegen Israel sind ein erstes Anzeichen in diese Richtung. Das türkische Handelsministerium gab am 9. April 2024 bekannt, dass es 54 verschiedene Produkte nicht mehr nach Israel liefern wird, darunter Eisen- und Stahlprodukte, Flugzeugtreibstoff, Bau- und andere Maschinen, Zement, Granit, Chemikalien, Pestizide und Ziegelsteine. Anfang Mai hat das türkische Handelsministerium mitgeteilt, sämtliche Export- und Importgeschäfte mit Israel würden ausgesetzt. Diese Entscheidungen sind eine Reaktion auf die humanitäre Situation der palästinensischen Bevölkerung im Gaza-Streifen und auf die Weigerung der israelischen Regierung, Hilfsgüter in das belagerte und bombardierte Gebiet hineinzulassen.
Drittens wird der Verlust von Großstädten an die Opposition den Zugang der herrschenden Eliten zu öffentlichen Ressourcen weiter begrenzen, wodurch noch mehr Wähler:innen sich von der AKP abwenden könnten.
Mehr Raum für deutsch-türkische Kooperation
Die Wahlniederlage für Erdoğan weist auf eine gegenläufige Entwicklung zur weiteren Autokratisierung der Türkei hin. Deutlich geworden ist auch, dass Opposition und Zivilgesellschaft intakt und demokratische Politikinhalte mehrheitsfähig sind. Wichtige Ansatzpunkte für die Ausrichtung der deutschen und europäischen Türkeipolitik ergeben sich ferner daraus, dass es in dem Land nicht zu einem weiteren ultranationalistischen Rechtsruck gekommen ist, der die flüchtlingsfeindliche Stimmung noch mehr angeheizt hätte.
Deutschland ist an einer Zusammenarbeit mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage interessiert und entsprechend auch an einem erneuerten Migrationsabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei. Das Wahlergebnis wird indes weder in Berlin noch in Brüssel zu einer Neuausrichtung der Türkeipolitik führen. Einen Durchbruch in den Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei bzw. der EU und der Türkei wird es erst geben, wenn sich die türkische Zentralregierung von ihrem bisherigen autoritären Kurs abwendet und weitere konstruktive Schritte in der Zypernfrage unternimmt. Der Europäische Rat hat jüngst sein strategisches Interesse an der Entwicklung kooperativer Beziehungen mit der Türkei zum Ausdruck gebracht, diese jedoch davon abhängig gemacht, dass die Gespräche über die Lösung der Zypernfrage wieder aufgenommen werden.
Eine Dynamisierung der Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei scheint nun vor allem über wirtschaftliche Verflechtungen und die Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene erreichbar. Die oppositionelle CHP regiert nach der Wahl erheblich mehr Kommunen als vorher. Dadurch tun sich neue Kooperationsfelder zwischen deutschen und türkischen Städten und Gemeinden auf. Derzeit gibt es über 80 deutsch-türkische Städtepartnerschaften. Städtepartnerschaften fördern nicht nur die Verbindungen zwischen den Gesellschaften; sie schaffen darüber hinaus Freiräume für die kommunale Zusammenarbeit und den Erfahrungsaustausch zu Themen wie Umweltschutz, nachhaltige Stadtentwicklung, Digitalisierung, Schutz von marginalisierten Gruppen und Geflüchteten sowie Jugendpartizipation.
Erdoğan hatte vor den Kommunalwahlen ein Signal ausgesendet: Wenn in einer Stadt nicht die AKP oder ihre Allianzparteien gewählt würden, werde die Zentralregierung diese Stadt nicht ausreichend unterstützen. So hat die Zentralregierung es in den letzten Jahren der Stadtverwaltung des CHP-geführten İstanbul unmöglich gemacht, im Inland Kredite aufzunehmen. Dadurch konnte zum Beispiel das Schienennetz nicht weiter ausgebaut werden. Hier könnte Deutschland ins Spiel kommen, indem es Gemeinden bei Infrastruktur- und Klimaprojekten, beispielsweise dem Ausbau des Schienenverkehrs, und der Digitalisierung finanziell unterstützt.
Der Dialog zum Fachkräfteaustausch, wie er etwa bereits zwischen Köln und İstanbul praktiziert wird, könnte ein weiterer Baustein der Kooperation sein. Die sieben bevölkerungsreichsten Städte bzw. Provinzhauptstädte – İstanbul, Ankara, Izmir, Bursa, Antalya, Adana, Mersin – werden in den kommenden fünf Jahren von CHP-Bürgermeistern regiert. In diesen Städten und Provinzen befinden sich die wichtigsten türkischen Produktionsstandorte, hier werden knapp 80 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes erbracht – und die einheimische Industrie verfügt über ein großes Reservoir an Fachkräften, von denen ein Teil auch für einen Einsatz in Deutschland in Frage käme. Nicht zuletzt sind die meisten in der Türkei tätigen deutschen Unternehmen in den genannten Städten und Provinzen aktiv; sie könnten nun von einer transparenteren Auftragsvergabe dieser Kommunen profitieren.
Resümierend lässt sich feststellen, dass die Gelegenheit günstig ist, die deutsch-türkische Kooperation auf kommunaler Ebene zu vertiefen und sektoral zu intensivieren.
Dr. Hürcan Aslı Aksoy ist Leiterin des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) an der SWP.
Dr. Yaşar Aydın ist Wissenschaftler am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) an der SWP.
Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.
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DOI: 10.18449/2024A25