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Vertieftes EU-Handelsabkommen mit Tunesien: Gut gemeint ist nicht genug

Schlecht gerüstetes Tunesien und ratlose EU

SWP-Aktuell 2018/A 62, 07.11.2018, 8 Seiten Forschungsgebiete

Die EU verhandelt seit 2016 mit Tunesien über ein neues Freihandelsabkommen (DCFTA). Es soll nicht nur beidseitigen Marktzugang für alle Güter ermöglichen, sondern auch für Dienstleistungen und Investitionen. Doch die Hürden für das Abkommen sind hoch. Der EU fällt es schwer, Konzessionen im Agrarsektor zu machen, die für Tunis attraktiv sein könnten. Zudem gibt es Widerstände in Tunesiens Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik. Ein klug ausgehandeltes Abkommen könnte indes die wirtschaftliche Moderni­sierung und das Wachstum in Tunesien fördern. Dadurch würde die junge Demokratie gestärkt und das Land stabilisiert, was auch im Interesse der EU liegt. 2019 finden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Tunesien und Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Bis dahin sind keine Fortschritte zu erwarten. Die verbleibende Zeit sollte genutzt werden, um in Tunesien einen breiteren Konsens für Verhandlungen her­beizuführen und Tunis zu befähigen, eine eigene Verhandlungsstrategie zu konzipieren.

Seit dem demokratischen Aufbruch, der 2011 in Tunesien stattfand, hat Europa sym­bolisch und materiell viel in die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit inves­tiert, ebenso in entwicklungsorientierte Maßnahmen. Während Tunesien bei der Demokratisierung große Fortschritte ge­macht hat, konnte es bislang nicht aus der wirtschaftlichen Krise finden, die seit 2011 andauert. Tunesien ist nicht zuletzt auf mehr und vor allem hochwertige Exporte an­gewiesen, um wirtschaftlichen Aufschwung zu erzielen und dringend benötigte Arbeits­plätze für die junge Bevölkerung zu schaf­fen. Die EU ist der größte Handelspartner des Landes: Über 50 % der tunesischen Im­porte kommen aus der EU, fast 80% seiner Exporte gehen nach Europa. Tunesien im­portiert dabei in erster Linie Maschinenbau­erzeugnisse und Fahrzeuge, chemische Er­zeugnisse und mineralische Brennstoffe. Bei seinen Exporten dominieren Textilien, Bekleidung, Elektrotechnik und Nahrungs­mittel (vor allem Olivenöl und Datteln).

Für die EU dagegen hat der Handels­austausch mit Tunesien nur marginale Bedeutung, sein Anteil an ihrem globalen Handel liegt unter 1 Prozent. Dennoch kann auch die EU von mehr Marktzugang profitieren – etwa im Agrarsektor, der auch auf tunesischer Seite noch stark ab­geschottet ist. Vor allem aber erhofft sich die EU von einem Abkommen, dass es zur Stabilisierung des einzigen Landes in der Region beiträgt, das sich im Zuge der ara­bischen Umbrüche demokratisiert hat. Auch mit Blick auf Migrationsfragen gewinnt Tu­nesien für die EU zunehmend an Bedeutung.

Ausgangspunkt der Verhandlungen

1998 trat ein Assoziierungsabkommen (AA) mit Tunesien in Kraft, das sich einbettet in die südliche Nachbarschaftspolitik der EU. Wie alle Abkommen mit südlichen Mittel­meeranrainern unterscheidet es sich von sonstigen EU-Abkommen mit Drittstaaten und vor allem mit Entwicklungsländern: Während die Wirtschaftspartnerschafts­abkommen (WPA) mit ehemaligen afrika­nischen, pazifischen und karibischen Kolo­nien der EU vollständige Marktöffnung eta­blieren, beschränken sich die AAs bislang auf eine weitestgehende Marktöffnung nur für Industriegüter, inklusive dem gerade für Tunesien wichtigen Textilsektor. Tunesien profitiert zudem als »upper middle income coun­try« weder von der vollständigen Marktöffnung, die die EU den am wenigsten entwickelten Staaten (LDCs) unter dem »every­thing but arms (EBA)«-Regime für alle Güter außer Waffen gewährt; noch kommt es in den Genuss der starken Zollreduktion, die im System der allgemeinen Zollpräferenz (APS) gilt. Dabei stellen engere Han­dels­beziehungen mit Tunesien für die EU ein Dilemma dar: Wenn sie Tunesien, wie be­absichtigt, deutlich mehr Zollfreiheit bietet, beraubt sie die Staaten Subsahara-Afrikas ihres komparativen Vorteils und würde sie etwa im Agrarsektor zur direkten Konkurrenz machen.

Um mehr und wechselseitigen Markt­zugang zu erreichen, wurde im Rahmen des AA mit Tunesien ab 1998 kontinuierlich über die Liberalisierung des Agrarhandels verhandelt. Im Zuge des politischen Um­bruchs 2011 kamen die Verhandlungen zum Erliegen und wurden erst 2015 auf Initiative der EU wieder aufgenommen – mit dem Ziel, ein tiefes und umfassendes Han­delsabkommen (Deep and Comprehensive Free Trade Agreement, DCFTA) abzu­schließen. Solche Abkommen strebt die EU generell mit ihren südlichen und östlichen Nachbarstaaten an, nach dem Modell, das sie gegenüber wirtschaftsstarken Partnern praktiziert – auch mit Marokko wurden bereits Verhandlungen aufgenommen. Das DCFTA soll neben dem Agrarsektor, Dienst­leistungen, öffentlichen Ausschreibungen und verbessertem Zugang für Investoren auch übergeordnete Themen wie Regulierun­gen und Nachhaltigkeit behandeln. Grund­prinzipien sind wie bei den WPAs Asymmetrie und Progressivität: Demnach öffnet die EU ihre Märkte sofort und vollständig, während Tunesien für seine Marktöffnung mehr Zeit bekommt und sensible Produkte von der Liberalisierung ausnehmen kann.

Bislang sind die Verhandlungen nur schleppend vorangekommen: Neben zwei offiziellen Verhandlungsrunden (April 2016 und Mai 2018) gab es eine technische Runde. Die dritte, für Oktober 2018 vorgesehene Runde wurde auf Anfang Dezember ver­schoben. Ob sie stattfinden wird, war An­fang November noch unklar, auch weil der tunesische Verhandlungsführer zum Trans­portminister ernannt worden ist.

Verhandlungshürden in Tunesien

Tunesien hat sich bisher aus verschiedenen Gründen sehr vorsichtig an die Verhandlungen herangetastet:

Widerstände in Wirtschaft und Gesellschaft gegen ein DCFTA kommen von der seit 2011 äußerst aktiven Zivilgesellschaft und dem mächtigen Gewerkschaftsdachverband Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT). Zudem regt sich Gegenwehr in ein­zelnen sektoralen Berufsverbänden – etwa dem Anwaltsverband oder landwirtschaft­lichen Verbänden. Innerhalb des Arbeit­geberverbandes UTICA herrscht Uneinigkeit: Während manche sich vom DCFTA einen Reformimpuls erhoffen, fürchten andere die Konkurrenz. Die Gegner eines DCFTA machen etwa das aktuelle AA unter anderem für die Verstetigung der regionalen wirtschaftlichen Ungleichgewichte und für eine Produktion mit geringer Wertschöpfung in Tunesien verantwortlich. Sie verlan­gen, dass zunächst dessen Auswirkungen evaluiert werden, bevor man ernsthaft über ein Nachfolgeabkommen verhandelt. Zur verbreiteten Skepsis gegenüber einem DCFTA trägt eine große Lücke im Wissen über Ver­handlungsinhalte und damit auch über mög­liche Spielräume bei. Eine Um­frage im Landwirtschaftssektor (tunesisches Sigma Conseil und Konrad-Adenauer-Stif­tung im Frühjahr 2018) ergab sogar, dass 90% der Befragten noch nie vom DCFTA gehört hat­ten. Dies dürfte sich indes sukzessive än­dern: Die Verhandlungspartner haben ihre Bemühungen intensiviert, in Tunesien mög­lichst transparent über Inhalte und Stand der Verhandlungen zu informieren und alle relevanten Akteure zu konsultieren.

Mangelnder politischer Rückhalt. Keine der Parteien in der Regierungskoalition, die 2018 zunehmend in innere Konflikte verstrickt war, setzt sich erkennbar für das DCFTA ein. In der Führungsriege der moderat islamistischen Ennahdha-Partei, der stärksten Partei im Parlament, finden sich durchaus Befürworter. Aber ein Ab­kommen hat hier keine Priorität und Ver­handlungsinhalte sind wenig bekannt. Eine gewisse Zurückhaltung gegenüber einem DCFTA in der zweitgrößten, aber von inter­nen Machtkämpfen zerrissenen Regierungs­partei Nidaa Tounes, beruht auf Präferenzen der Wirtschaftseliten des alten Systems, die in dieser Partei stark vertreten sind. Laut tunesischen Beobachtern fürchten sie um Einfluss und Renten, die bedroht sind durch schärfere arbeitsrechtliche Regula­rien, größere Konkurrenz und mehr Trans­parenz sowie durch neue Gremien mit zivil­gesellschaftlicher Beteiligung, die mit einem DCFTA verbunden wären.

Der amtierende Premierminister Youssef Chahed schließlich hat derzeit wenig zu gewinnen, wenn er ein Abkommen voran­treibt: Das Thema DCFTA vertieft die Kluft zu Akteuren wie der UGTT, mit der er ohne­hin schwierige Verhandlungen im Zuge von Wirtschaftsreformen führen muss, die der Internationale Währungsfonds induziert hat; auf deren Unterstützung ist er aber zu­sehends angewiesen. Daher ist nicht damit zu rechnen, dass sich vor den für Ende 2019 geplanten Parlaments- und Präsidentschafts­wahlen einer der gewichtigen Akteure in der Regierung für das wenig populäre Freihan­delsabkommen in die Bresche werfen wird.

Kapazitätsgrenzen. Der tunesische Staatsapparat scheint überfordert mit den multi­plen Herausforderungen eines jungen Demo­kratisierungsprozesses und einer wirtschaft­lichen Transformation. Europäische Akteure in Kommission oder Mitgliedstaaten monie­ren nicht nur in Handelsfragen einen Mangel an Effizienz, Koordination und Kommuni­ka­tion in Regierung und Verwaltung. In den DCFTA-Verhandlungen brauchen tune­sische Behörden oft Monate oder gar Jahre, um auf Vorschläge der EU zu reagieren und benötigte Daten und Statistiken zu liefern. In Brüssel macht sich darüber eine gewisse Ratlosigkeit breit. Zwar hat sich nach Ein­schätzung europäischer Offizieller seit der ersten Verhandlungsrunde manches gebes­sert, was auch an einem neuen Verhandlungsführer lag. Nach wie vor aber fehle eine klare tunesische Verhandlungsstrate­gie mit entsprechender Prioritätensetzung.

Erwartungen und Spielräume

Ungeachtet aller Vorbehalte und Ängste könnte Tunesien von einem DCFTA profi­tieren – Wirkungsanalysen verweisen da­bei auf unterschiedliche Effekte sowohl für die tunesische Gesamtwirtschaft als auch für einzelne Sektoren. Darum ist eine kluge Prioritätensetzung nötig. In einigen Punk­ten haben beide Seiten zudem profund un­terschiedliche Interessen und Erwartungen. Öffentlich einzusehen sind bislang nur die EU-Vorschläge für den Verhandlungstext.

Agrarsektor: Zölle und Standards

Ihren Agrarsektor haben beide Seiten bis­lang stark abgeschottet – Tunesien geht es vor allem um Milch, Fleisch, Getreide und Getränke. Die EU schützt in erster Linie südeuropäische Produkte wie Oliven und Olivenöl, Obst und Gemüse.

Entscheidend ist die Definition der Ausnahmen, nach denen Zollschutz nur noch für einzelne sensible Produkte möglich sein soll. Wichtig für Tunesien ist, wie umfangreich diese Aus­nahmenliste sein darf, und wie lange die Frist für den Zollabbau. Die EU hatte 2016 ursprünglich zehn Jahre vor­geschlagen, was die tunesische Seite als zu kurz für eine Öffnung ihres Marktes an­sieht, auf dem es dann sehr schnell eine Konkurrenz mit EU-Importen geben würde. Und schließlich ist darüber zu verhandeln, wel­che Möglichkeiten bestehen, etwa in beson­deren Krisenphasen Schutzzölle zu erheben.

EU-Zollquoten sind derzeit vor allem bei Olivenöl relevant: Tunesien ist nach den südeuropäischen Mitgliedstaaten der welt­weit fünftgrößte Exporteur, 40% aller tune­sischen Agrarausfuhren sind Olivenölexporte. Olivenöl kann aber nur in begrenzten Mengen zollfrei in die EU eingeführt wer­den. Da die Tourismusbranche infolge der Terroranschläge 2015 Einbußen verzeichnen musste, hat Brüssel diese Quoten zwei­mal erhöht – trotz erheblichen Widerstands südeuropäischer Mitgliedstaaten, in denen Olivenöl produziert wird. Eine weitere Er­höhung hat die EU für das laufende Jahr in Aussicht gestellt, unter der Bedingung, dass Tunesien bereit ist, seinen Markt auch für von Tunesien zu wählende Agrarprodukte zu öffnen (»mini-trade package«). Das lehnt die tunesische Seite bislang ab, obwohl sie gleichzeitig ein sektorales, also nur Güter betreffendes Abkommen einem umfassenden vorzieht. Ein »mini-trade package« wäre damit ein erster Schritt in diese Richtung.

Angesichts stark schwankender Ernten wurden die Quoten nicht immer aus­geschöpft – 2018 indes kam es zu einer Rekordernte an Oliven, die mehr als 100% über den Ernten der Vorjahre liegt. Die gesamte Quotenmenge wurde darum auch bereits zu Jahresbeginn für den Export an­gemeldet. Tunesische Exporteure können Olivenöl jenseits der Quote aber ohnehin unbegrenzt in die EU zollfrei einführen, wenn sie ihr Öl europäischem Öl beimischen (»inward processing«). Auch auf diesem Wege lassen sich tunesische Exporteinnah­men generieren, was aber zuhause schwer­lich als Verhandlungserfolg zu vermitteln ist. Zudem lässt sich dieses Öl nicht als ori­ginär tunesisches vermarkten. Schließlich sind die Einfuhrmengen schwer kalkulierbar, da sie privaten Unternehmerentscheidungen obliegen.

Im EU-Regime für die Einfuhr von Obst und Gemüse gelten saisonal definierte Zoll­quoten, die während europäischer Ernte­phasen durch höhere Zölle eigene Produzenten schützen. Zudem gilt das umstrittene System des sogenannten Mindesteinfuhr­preises, wonach ein Zoll erhoben wird, wenn der Einfuhrpreis geringer ist als ein fest­gelegter Mindestgrenzpreis – dadurch wer­den günstige Anbieter wie etwa tunesische systematisch benachteiligt. Bei Konzessio­nen in diesem Sektor ist es erforderlich, dass innerhalb der EU ein Ausgleich für eigene konkurrierende Erzeuger geschaffen wird.

Schließlich sind Standards eine entscheidende Einfuhrhürde, etwa Höchstwerte für bakterielle Belastung; dies betrifft vor allem Milch oder Fleisch. Anders als bei Zöllen gibt es bei gesetzlich verbindlichen Stan­dards in keinem bilateralen Abkommen günstigere Regelungen für den jeweiligen Handelspartner – alle Abkommen bezie­hen sich dabei auf Standards der WTO. Flexibler dagegen sind private Standards etwa des Lebensmitteleinzelhandels, die aber nicht Gegenstand von Handelsabkom­men sind. Hier können durchaus günstigere Angebote an Exporteure möglich sein – diese sind dynamischer und werden per­manent weiterentwickelt. Dabei sind sie vielfach strenger und noch schwerer ein­zuhalten als gesetzliche Standards. Gleiches gilt für gesetzlich definierte, aber freiwillig eingehaltene Standards wie jene für Bio­produkte – einem Sektor mit hohen Wachs­tumsraten in Tunesien. All diese Standards müssen tunesische Erzeuger nicht einhalten. Allerdings können ihre Produkte dann auch nicht entsprechend vermarktet oder im Le­bensmitteleinzelhandel angeboten werden.

Über den Schutz geografischer Herkunfts­angaben (geographical indications, GIs) lässt sich die Vermarktung bestimmter Produkte absichern. Die EU hat eine lange Liste eige­ner GIs vorgeschlagen, die gewöhnlich in Abkommen definiert werden. Tunesische GIs können nicht nur die Wertschöpfung unterstützen, sondern auch einen umfassenden Beitrag zur ländlichen Entwicklung leisten – perspektivisch indem sie mit tou­ristischen Aktivitäten verknüpft werden. Obwohl die Europäer seit 2016 mehrfach angeregt haben, dass Tunesien dazu Vor­schläge macht, hat es bislang nicht reagiert.

Regulierung: unklare Acquis-Anforderung

Abgesehen von produktspezifischen Stan­dards wird in Abkommen im Rahmen der Nachbarschaftspolitik oder auch mit engen Partnern wie Norwegen im Europäischen Wirtschaftsraum der Ansatz verfolgt, dass die Partner den acquis communautaire der EU übernehmen. Dieser geht über die Ein­haltung europäischer Einfuhrregelungen hinaus, die jeder Drittstaat ohnehin erfül­len muss, will er in die EU exportieren. Mit dem Acquis sollen neben sämtlichen EU-Rege­lungen auch jenseits von Einfuhrbestimmungen die Verwaltungsstrukturen oder die Rechtsprechung kopiert werden. Tunesien müsste dann zum Beispiel ver­änderte EU-Lebensmittelstandards automatisch anwenden, ohne neuerliche Verhandlungen. Tunis kritisiert diesen Ansatz – wie auch zuvor schon die Vertreter der Ukraine bei ihren Verhandlungen – als Geißel ohne Beitrittsoption.

Dabei bietet eine Acquis-Übernahme durchaus Vorteile: Sie erhöht den Druck, Reformen in strategischen Sektoren durch­zuführen, die letztlich die Qualität der Produktion fördern. Dies ist für jedweden Handel nicht nur mit der EU wichtig, son­dern auch in der Region.

Allerdings ist weder der Acquis noch eine vollständige Harmonisierung mit EU-Standards für Exporte nötig: Eine Alternative ist die wechselseitige Anerkennung von Produktionsverfahren. Sie wird für Mittel­meerpartner im Industriebereich schon seit längerem anvisiert: Abkommen über wech­selseitige Konformitätsbewertung und An­erkennung gewerblicher Produkte (ACAA) sollen den Handel erleichtern, indem Prüf­verfahren anerkannt werden. Bislang konnte allerdings nur ein einziges entsprechendes Abkommen vereinbart werden, mit Israel.

Textil: Verarbeitungsgrad

In Tunesien ist ein Drittel der gewerblich Beschäftigten im Textilsektor tätig. In den 1970er Jahren etablierte sich eine Arbeitsteilung mit der EU: Aufgrund geringerer Lohnkosten werden seither europäische Stoffe in Tunesien fertiggestellt und zu europäischen Präferenzzöllen in die EU reexportiert. Zwar bietet das Assoziierungsabkommen für Textilien breiten Zugang zum EU-Markt, je nach Verarbeitungsgrad aber mit abgestuftem Zollsatz.

Geltende Herkunftsregeln können dabei tendenziell als Handels- bzw. Produktivitätsbarriere wirken: Nach der sogenannten »double transformation«-Regel gilt Zoll­freiheit nur, wenn zwei Verarbeitungsschritte vollzogen wurden – also etwa vom Garn zum Stoff und vom Stoff zum fertigen Kleidungsstück. Fehlt aber wie in Tunesien die entsprechende Verarbeitungsindustrie, ist ein höherer Zoll zu zahlen.

Zugleich ist Tunesien Vertragspartei des umfassenden Pan-Euro-Med-Übereinkom­mens (PEM), das neben der EU in einer großen Gruppe von Ländern grenzüberschreitende Verarbeitung ermöglicht, und dies zu den eigenen günstigen Zollbedingungen (»diagonale Kumulierung«). Da­durch können regionale Verarbeitungs- und Wertschöpfungsketten gefördert werden.

Tunesische Textilverarbeiter plädieren für eine »single transformation«-Regelung, die nur eine Verarbeitungsstufe verlangt, was der aktuellen Verarbeitungsstruktur in Tunesien eher entspräche. Dann könnten auch sehr günstige Vorprodukte aus Län­dern außerhalb der PEM-Gruppe, etwa aus Asien, verarbeitet und Zollvorteile genutzt werden. Allerdings würde mit einer solchen Vereinfachung das in der PEM geltende Prinzip einheitlicher Regeln aufgebrochen, was auch andere Mitglieder zu Ausnahmewünschen veranlassen könnte. Überdies würde es einmal mehr schwerer, davon die Politik abzugrenzen, die die EU mit den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) und dem »everything but arms«-Regime gegenüber Entwicklungsländern verfolgt, die bislang exklusiv von der »single trans­formation«-Regelung profitieren.

Dienstleistungen: Arbeitsmigration

Bislang schlägt die EU einen gemischten Ansatz vor: Vorrangig gewährt danach der Positivlistenansatz den Zugang für einzelne Dienstleistungen. Dagegen schützt der Negativlistenansatz Niederlassungen durch Ausnahmen vom prinzipiell freien Markt­zugang. Für Tunesien besonders wichtig sind Möglichkeiten, angestellte Arbeit­nehmer in der EU zu beschäftigen (sogenannte »Mode 4« im Dienstleistungskapitel). Auf diese Weise ließe sich prinzipiell Ar­beitsmigration unterstützen. Bislang fehlen in den Textvorschlägen der EU aber quan­titative Vorgaben für mögliche Arbeits­migration in einzelnen Sektoren.

Für Tunesien scheinen vor allem Arbeits­optionen in der Informations- und Kommu­nikationsbranche interessant. Allerdings müsste derlei Arbeitsmigration durch Visa- und Arbeitsgenehmigungsregelungen jen­seits des Handelsabkommens unterstützt werden. Diese Regelungen definieren aber nach wie vor die einzelnen EU-Mitgliedstaa­ten, ein Arbeitsaufenthalt ist nach allen na­tionalen Definitionen bislang auf maximal sechs Monate begrenzt. Unterschiedliche na­tionale Migrationsstrategien hindern die EU daran, bei Mode 4 Konzessionen zu machen.

Investitionen: Verbessertes Modell

Im DCFTA-Vorschlag der EU sind neben dem Zugang für Investoren zum tunesischen Markt auch Regeln zu deren Schutz anvi­siert. Bislang wurden diese in Bilateralen In­vestitionsschutzabkommen (BITs) festgelegt, die 19 EU-Mitgliedstaaten mit Tunesien abgeschlossen haben. Die BITs sehen auch die umstrittenen Schiedsverfahren vor, in denen Unternehmen Staaten auf Entschädi­gung verklagen können, ohne dass es stän­dige Richter oder eine Berufungsinstanz gäbe. Auch indirekte Enteignung, etwa im Zuge schärferer Umweltgesetze, kann danach eine Klage auslösen. Im neuen EU-Modell zum Investorschutz gibt es dafür bessere Regelungen.

Mit kleinen Schritten zu neuer Dynamik

Vor den Präsidentschafts- und Parlaments­wahlen in Tunesien, die für Ende 2019 geplant sind, wird kaum ein Abkommen stehen. Doch gilt es schon jetzt, die Wei­chen für erfolgreiche Verhandlungen ab 2020 zu stellen.

Die EU unterstützt die tunesische Seite seit längerem darin, Verhandlungskapazitäten, Koordination und Kommunikation zu stärken. Und sie kommt Tunesien weiter entgegen als sonst üblich. Dabei läuft sie erstens Gefahr, sich der Illusion hinzugeben, dass ein Abkommen selbst dann ver­handelt werden kann, wenn auf der Gegen­seite der politische Wille fehlt. Indem die EU versucht, Tunesien zum Jagen zu tra­gen, riskiert sie zweitens, dass ein DCFTA als neokoloniales, von außen oktroyiertes Projekt wahrgenommen wird, dem es an Ownership und Legitimität mangelt. Dies würde die nachhaltige Umsetzung eines Abkommens erschweren und die Sicht der tunesischen Bevölkerung auf die Beziehungen zur EU auf Jahre hinaus negativ prägen.

Die EU muss folglich den Balanceakt vollführen, den Tunesiern beim Gestalten zu helfen, ohne sie zu bevormunden. Zu­dem muss sie ausreichend Druck ausüben, damit Tunesien Reformen einleitet, aber nicht so viel, dass dadurch Konflikte im Innern hervorgerufen werden. Dafür gilt es in Tunesien Wissen zu vermitteln, Kapa­zitäten aufzubauen und einen breiten Kon­sens über ein DCFTA zu stiften. Eine Reihe konkreter Anknüpfungspunkte könnte auf der tunesischen Seite Vertrauen bilden:

Agrarsektor: EU-Angebote nutzen

Die EU könnte die Umsetzungsfrist ver­längern, etwa auf 25 Jahre wie in den meis­ten WPAs. Die Kommission schlug Tunesien nun sogar vor, die Frist selber zu bestimmen. Tunis sollte das nutzen. Auch könnte der Anteil an Ausnahmen von der Liberalisierung steigen, der in den WPAs bei bis zu 25% liegt.

Die EU ist auch bereit, über eine An­hebung der Olivenquote zu verhandeln, allerdings unter Bedingungen: Sie drängt auf das »Mini-trade«-Paket, wonach auch Tunesien seinen Markt für einige auszuwählende Agrarprodukte öffnet. Dieser Anreiz ist sinnvoll, Tunesien kann ihn aber als Erpressung missverstehen. Daher sollte betont werden, dass dies im Grunde genom­men ohnehin dem tunesischen Vorschlag eines sektoralen Abkommens entspricht. Die EU sollte also das »mini-trade package« als Schritt genau in diese Richtung vermit­teln, um erste Erfahrungen mit Blick auf ein mögliches Sektorabkommen zu machen. Im Idealfall ließe sich so Vertrauen schaf­fen, das für umfassendere Schritte nötig ist.

Bei Obst und Gemüse sind europäische Konzessionen wegen der herrschenden Konkurrenzsituation unwahrscheinlicher. Dass dennoch Spielraum existiert, zeigt das marok­kanische Assoziierungsabkommen, in dem die EU Rabat mehr Marktzugang gewährt hat als Tunis.

Hier muss zunächst EU-intern ein Ausgleich für die heimischen Erzeuger gefun­den werden, etwa im Zuge der anstehenden EU-Agrarreform. Tunesien könnte zudem darauf drängen, dass der zu entrichtende Zoll im System der Mindesteinfuhrpreise weiter abgesenkt wird. Konsequenter wäre, das ganze System abzuschaffen. Ist es doch ein letztes Überbleibsel stark abschottender variabler Zölle, die früher vielfach genutzt, in der Uruguayrunde 1995 von der WTO aber prinzipiell beseitigt wurden.

Tunesische GIs können Produktion und Vertrieb hochwertiger und damit beschäftigungs- und entwicklungswirksamer Erzeug­nisse unterstützen. Daher sollten sie drin­gend definiert werden – in einer dyna­mischen Liste, wie sie in EU-Abkommen üblich ist. Der Aufbau einer entsprechen­den Produktion ist auf finanzielle Unterstützung der EU angewiesen, um Qualität, gute Vermarktungsstrukturen und Einbin­dung in umfassende Projekte zur länd­lichen Entwicklung sicherzustellen.

Auch die Fähigkeit, Standards umzusetzen, ist von der EU zu fördern. Dabei sollte Tunesien durchaus auch freiwillige oder pri­vate Standards als positiven Anreiz nutzen, um Marktpotenziale höherwertiger Produkte ausschöpfen zu können. Die EU hat bereits vielfältige Unterstützung ange­boten, etwa »Aid for Trade«-Maßnahmen wie die Professionalisierung von Testlabors. Auch das deutsche »Import Promotion Desk« bietet gezielt Hilfen an, um Agrar­ausfuhren in die EU zu steigern. Tunesien sollte aber selbst analysieren, welche An­forderungen Priorität haben und welcher Unterstützung es bedarf.

Regulierung: klare Definition nötig

Der Terminus »acquis« löst Ängste auf tune­sischer Seite aus und ist Quelle von Miss­verständnissen. Darum gilt es genauer zu definieren, was unter selektiver Übernahme zu verstehen ist, und Hilfe zu leisten, damit Tunesien eine Auswahl treffen kann. Vor allem sollte die EU den Ansatz wechselseitiger Anerkennung stärker unterstützen, wie er mit den ACAAs verfolgt wird – auch wenn dies im Lebensmittelbereich ein eher längerfristiges Ziel sein dürfte.

Textil: begrenzten Kompromiss nutzen

Für die EU ist es schwierig, auf eine ein­stufige Herkunftsregelung wie gegenüber Entwicklungsländern umzuschwenken; denn es droht die Gefahr einer Ausdehnung auf die PEM-Länder, ein solcher Schritt wäre auch der Positionierung gegenüber den WPA-Staaten abträglich. Tunesien blockiert aber auch die aktuelle Revision der PEM-Regelungen, um mehr Flexibilität für eine Erleichterung bei Zöllen auf Textilien zu erreichen, die nicht im klassischen Be­klei­dungssektor produziert werden (Schutz­ummantelung von Gartengeräten etwa). Hier könnte die EU ein zeitlich befristetes Angebot machen, das sowohl in PEM als auch in den DCFTA-Verhandlungen Fort­schritte ermöglichen würde. Gleichzeitig sollte betont werden, dass Tunesien von der geltenden Regelung einer zweiten Verarbeitungsstufe durchaus Vorteile hat, was sich durch finanzielle EU-Förderung noch unter­stützen ließe – kann diese Regelung doch zu höherer Wertschöpfung führen.

Investitionsschutz: Vom neuen Modell profitieren

Aktuell wird EU-weiter Investitionsschutz zwar oft parallel mit Handelsbestimmungen verhandelt, aber wegen europäischer Ratifi­zierungsregeln in einem getrennten Abkom­men beschlossen. Tunesien hat Vorteile vom neuen EU-Modell – gerade angesichts der zahlreichen Initiativen, mit denen etwa die G20 und Deutschland Investitionen in ganz Afrika unterstützen. Ansonsten gelten die begrenzteren BITs der Mitgliedstaaten wie bis­her auch für Tunesien. Diese könnten das Land sogar an verbesserter Gesetzgebung hin­dern, die Ziel der Reformen ist – können diese doch Enteignungsklagen von Unter­nehmen begründen. Der neuere EU-Ansatz schließt das eher aus und sollte darum mit Blick auf die Investitionspläne im Rahmen des DCFTA oder separat verfolgt werden.

Dienstleistungen: rote Linie kommunizieren

Eine Dienstleistungsliberalisierung für Arbeitsmigration ist aus EU-Sicht derzeit unrealistisch, da sich die Mitgliedstaaten in Asylfragen nicht einig sind und die Lage in diesem Politikfeld angespannt ist. Dies sollte deutlich kommuniziert werden, um falschen Erwartungen entgegenzuwirken.

Wirkungsanalysen verbessern

Tunesien beharrt – auch auf Druck seiner Zivilgesellschaft – darauf, ein Impact As­sessment abzuschließen, das unabhängig von der EU finanziert wird, bevor es die Verhandlungen fortsetzt. Dabei soll es pri­mär um eine Evaluierung des bestehenden Assoziierungsabkommens gehen. Auch wenn die Tunesier diese Forderung aus Sicht der EU als Mittel zur Verzögerung nutzen, traf sie bis vor kurzem einen wun­den Punkt bei der EU-Bewertung: Diese erfolgte lange vor Abschluss und erst recht vor der Umsetzung eines Abkommens. Seit 2017 hat die EU zwar eine jährliche Bericht­erstattung über Wirkungen etabliert. Diese sollte allerdings systematisch mit Revisions­klauseln verknüpft werden, die Anpassungen von Abkommen vorsehen.

Cross-Learning nutzen

In Verhandlungen mit den östlichen Nach­barstaaten gab es ähnliche Schwierigkeiten – etwa bei der Frage, was die Übernahme des Acquis bedeutet. Wünschenswert wäre eine Beratung durch Akteure, die erfahren sind in Verhandlungen mit der EU – ein entsprechender Austausch von Verhand­lungsführern fand auf Initiative der Aus­landshandelskammer und der Bertelsmann Stiftung im Juni 2018 in Tunis statt und könnte verstetigt werden.

Afrikanische Freihandelszone darf kein Bremsklotz sein

Bisher haben 49 Staaten ein Abkommen über eine Freihandelszone auf dem gesam­ten afrikanischen Kontinent – inklusive Tunesien – unterzeichnet. Langfristig wer­den sie ihre regionalen WPAs, die bi­latera­len AAs oder die bis dahin voraussichtlich abgeschlossenen DCFTAs ineinander über­führen müssen. Diese Perspektive ist jetzt schon mitzudenken. Trotz individueller Bedarfe sind vereinheitlichende Elemente wie harmonisierte Herkunftsangaben wich­tig. Das sehr langfristige Ziel der panafrikanischen Freihandelszone sollte aber nicht missbraucht werden, um jedwede vorherige regionale und bilaterale Handelsinitiative zu blockieren – diese ließen sich vielmehr als vorbereitender Schritt nutzen.

Auf europäischer Seite verzögern die an­stehenden Wahlen zum Europäischen Par­lament und die Neubesetzung der Kommis­sion einen zügigen Abschluss. Damit ist auch unklar, wie sich die EU künftig zum Design der DCFTAs positionieren wird.

Keine der beiden Seiten hat aber ein Interesse daran, den überholten Status quo beizubehalten. Für alle aufgezeigten Diffe­renzen lassen sich Lösungen finden – vor­ausgesetzt, Tunis bringt den nötigen poli­tischen Willen auf und die EU unterstützt Tunesien in den Verhandlungen umsichtig.

Dr. agr. Bettina Rudloff ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Dr. Isabelle Werenfels ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2018

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