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Gewichtig und richtig: weitreichende US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland

SWP-Aktuell 2024/A 36, 18.07.2024, 4 Seiten

doi:10.18449/2024A36

Forschungsgebiete

Die USA und Deutschland haben auf dem Nato-Gipfel im Juli 2024 verkündet, dass 2026 in Deutschland bodengestützte amerikanische Mittelstreckenwaffen stationiert werden, die das russische Kernland erreichen können. Das ist ein bedeutender Schritt, denn die Nato erhält damit neue Fähigkeiten in einem Bereich, der durch Russlands Raketenkrieg gegen die Ukraine wichtiger geworden ist. Moskau droht mit militärischen Gegenmaßnahmen. Aber die hiermit verknüpften Risiken für Deutschland sind bei genauer Betrachtung geringer als oft vermutet. Die Pläne haben sogar Potential, zu künftigen Rüstungskontrollvereinbarungen mit Russland beizutragen.

Russland setzt im Krieg gegen die Ukraine in großem Umfang ballistische Raketen und Marschflugkörper ein. Wichtiger als diese militärische Fähigkeit ist jedoch, dass Putin politisch gezeigt hat, auch hohe Kosten und Risiken hinzunehmen, um Ziele mit Gewalt zu erreichen. Ein »zu allem bereites« Moskau könnte, so die Sorge vieler, die Entschlossen­heit einer eventuell gespalte­nen Nato unter­schätzen und einen begrenz­ten Angriff wagen. Um in Putins Risikokalkulation ein­zudringen und diesen Fehlschluss zu ver­hindern, setzt die Allianz auf zusätzliche und teils neuartige abstands­fähige Präzi­sionswaffen, die Ziele tief hinter der Front exakt treffen und erstmals seit Jahr­zehnten wieder an Land stationiert werden.

Für die Zukunft möchten einige europäische Nato-Länder mit dem European Long-range Strike Approach (ELSA) ein landgestütz­tes System entwickeln. Heute besitzt die Nato keine solchen Mittelstreckenwaffen, nur luft- und seegestützte Varianten.

Laut den deutschen und amerikanischen Plänen werden 2026 drei Typen landgestütz­ter US-Mittelstreckenwaffen stationiert. Das ist erstens der Marschflugkörper Tomahawk, der vermutlich 2.500 km weit fliegen kann. Dies würde von Deutschland aus Russlands west­liche Militärbezirke weitgehend ab­decken. Zweitens kommt die Standard Missile (SM) 6 nach Deutschland, eine ballis­tische Rakete. Die U.S. Army nutzt deren stark verbesserte Variante 1B, die eine Reich­weite von über 1.600 km haben müsste. Drittens wird die Long-Range Hyper­sonic Weapon (LRHW), Code: Dark Eagle, stationiert. Diese Hyperschallrakete kann wohl 3.000 km weit fliegen. Zum Vergleich: Bislang ist das Army Tactical Missile System (ATACMS) mit über 300 km die boden­gestützte Nato-Waffe mit der größten Reichweite.

Bessere Abschreckungsfähigkeit

Die drei Systeme werden im Rahmen der 2. Multi-Domain Task Force der U.S. Army in Deutschland stationiert. Ihre Kernaufgabe ist, Russlands Anti-Access/Area-Denial (A2/AD)-Kapazität mit Hilfe neuer Technologien und Konzepte zu überwinden: Moskau hofft, in einem Krieg das Gros der Nato-Kräfte vom Kampfgebiet an seiner Grenze fernzuhalten, indem es mit Raketen und Marschflugkörpern deren Aufmarsch und Versorgung unterbindet oder mit Schlägen gegen einzel­ne Nato-Länder deren Einlenken erzwingt. Allein mit Luft- und Raketen­abwehr könnte sich die Allianz davor nicht wirksam schüt­zen, weil Europa zu groß ist und umfassender Schutz gegen das russische Flugkörper­arsenal zu teuer wäre. Mit eigenen weit­reichen­den Mittelstreckenwaffen kann die Nato diesen russi­schen Plan aber auf zwei komplementäre Arten durchkreuzen.

Ihre erste Aufgabe ist es, jene russischen Deep-Strike-Fähigkeiten, welche die Allianz auf Distanz halten sollen, ins Fadenkreuz zu nehmen (hold at risk) und eventuell zu zer­stören, bevor sie auf Nato-Gebiet feuern. Verlöre der Kreml diese Systeme, da sie zerstört oder abgezogen wurden, würde es der Nato erleichtert, den Angriff zurückzudrängen. Dies soll Russland von vornherein abschrecken, Nato-Länder anzugreifen.

Die zweite Aufgabe der Mittelstreckenwaffen besteht darin, wenigstens einige zeitkritische Hochwertziele in Russland zerstören zu können. Hierzu zählen mobile Kommandozentralen oder Abschussrampen für ballistische Raketen und Marschflugkörper. So wird Russland signalisiert, dass die Nato bei einem Angriff gegen sich die Option hat, die russische Fähigkeit zur Fortsetzung der Kampfhandlungen massiv einzuschränken – was abschrecken soll.

Diese beiden Aufgaben können von den heute verfügbaren luft- und seegestützten Nato-Flugkörpern kurzer sowie mittlerer Reichweite nicht optimal erfüllt werden. Marschflugkörper, die von Flugzeugen abgefeuert werden, müssen zuerst in die Luft gebracht werden, wodurch wertvolle Zeit verlorengeht. Das schränkt ihre Wirk­samkeit gegen mobile Hochwertziele ein. Verfügbare seegestützte Marschflugkörper haben entweder zu kurze Reich­weiten oder sind wegen ihrer eher geringen Geschwindigkeit zu lange unterwegs für zeitkritische Ziele im russischen Kernland. Die heutigen landgestützten Systeme, etwa ATACMS, sind zwar reaktionsschnell: Sie müssen nicht erst in die Luft gebracht werden und fliegen viel schneller als Marsch­flugkörper. Aber ihre Reichweite ist zu gering, um Ziele tief im Landesinneren Russlands zu treffen.

Die drei bodengestützten Mittelstrecken­waffen bieten einen Mehrwert für die kon­ven­tionelle Abschreckung gegenüber Russ­land, denn sie erfüllen die zwei Aufgaben besser. Nicht nur die LRHW, auch die SM 6-Version der Army fliegen mit über fünf­facher Schallgeschwindigkeit und sind im Zielanflug manövrierbar. Daher sind sie hocheffektiv gegen mobile Ziele und sehr schwer abzufangen, selbst für moderne Raketenabwehr. Die Dark Eagle ist mit bis zu 17-facher Schallgeschwindigkeit kaum zu stoppen. Mit dieser hohen Eindringfähigkeit sind beide Waffen ideal, um auch solche russischen Hochwertziele auszuschalten, die gezielt geschützt werden. Die überaus teure Dark Eagle ist wohl für die wertvollsten Ziele vorgesehen; die SM 6 bietet dazu eine günstigere Alternative.

Der Tomahawk fliegt zwar nur im Unterschallbereich, dafür aber extrem tief. Damit kann er oft unterhalb eines gegnerischen Radars bleiben und so der Luftabwehr ent­kommen. Als preiswertester der drei Flug­körper stellt der Tomahawk eine effiziente Lösung für weniger gut geschützte und wenig mobile Ziele dar. Dass die drei Waffen völlig unterschiedliche Flugbahnen haben, erschwert die Abwehr.

Weitere Vorteile gegenüber luft- und seegestützten Abstandswaffen sind geringe­re Kosten und die Mobilität der boden­gestützten Systeme. Sie werden von straßen­mobilen Abschussrampen gestartet, die mit C-17A-Transportflugzeugen rasch verlegbar sind. Diese Mobilität macht die Army-Mittel­streckenwaffen weniger ver­wundbar als langsame Schiffe oder Flug­zeuge am Boden.

Keine großen zusätzlichen Risiken

Mit der Stationierung bodengestützter US-Mittelstreckensysteme hierzulande ist die Frage nach Russlands Reaktion verbunden – und welche Risiken Moskaus Verhal­ten wiederum für Deutschland hätte.

Gegner der Stationierungspläne meinen, die US-Waffen würden zu Zielscheiben für Moskaus Raketen, sodass Deutschland einer höheren Bedrohung ausgesetzt wäre. Dem ist entgegenzuhalten: Der Kreml dürfte künf­tige Mittelstreckenwaffen der USA zwar als legitime Ziele betrachten. Aber Putin sieht Berlin ohnehin als Gegner. Als logisti­sche Nato-Drehscheibe mit vielen US-Basen ist Deutschland schon heute ein prioritäres Ziel für russische Abstandswaffen, wenn Moskau die Nato im Kriegsfall auf Distanz halten will. Neue US-Flugkörper verschärfen diese Lage nicht signifikant.

Eine weitere Sorge ist, dass Putin sich im Gegenzug gezwungen sieht, mehr russische Waffen herzustellen und in Europa zu sta­tionieren. Ein »Wettrüsten« wäre die Folge. In der Tat hat die russische Regierung noch während des Nato-Gipfels vage militä­rische Gegenmaßnahmen angekündigt. Im Juni hatte Putin schon verlautbart, Russ­land müsse wohl in Reaktion auf die kurz­zeitige Ver­legung von Tomahawk und SM 6 für Übungen der U.S. Army in Dänemark und den Philippinen mehr russische Kurz- und Mittelstreckenwaffen produzieren und ge­gebenenfalls stationieren. Doch die russi­sche Ferti­gung von Abstandswaffen lässt sich zumindest kurzfristig kaum mehr steigern. Putin würde als Reaktion wohl gern neue Raketen­programme auflegen, schon aus Prestigegründen. Wegen der aktuellen russischen Hochrüstung und der Sanktionen gegen das Land knirscht und kracht es in Russlands Rüstungssektor aber bereits jetzt an allen Ecken und Enden. Die Produktionskapazitäten, Fachkräfte und Finanzmittel sind begrenzt. Daher hegen auch russische und US-Fachleute, die die Sorgen vor einem Wettrüsten teilen, große Zweifel, dass der Kreml kurz- oder mittelfristig mit neuen Programmen ein Flug­körper-Wettrüsten initiieren könnte.

Überdies monieren kritische Stimmen, Deutschland würde »singularisiert«, da nur hier stationiert werde. Bei der Nachrüstung der 1980er Jahre hatte Bonn darauf bestan­den, es müsse in mehreren Nato-Staaten stationiert werden. Allerdings entsprang diese Sorge dem Umstand, dass die Bonner Republik besonders verwundbar war, da die Sowjetunion zum Beispiel eine neue Berlin­krise hätte provozieren oder andere Druck­mittel im Zusammenhang mit der deutschen Teilung hätte finden können. Diese deut­sche Sonderlage gibt es seit 1990 nicht mehr.

Als Risiko wird zudem, speziell in Bezug auf die LRHW, eine verminderte Krisen­stabilität diskutiert, also das verfrühte mili­tä­rische Eskalieren Russlands aus Angst vor einem entscheidenden Überraschungs­angriff der Nato. Die LRHW kann russisches Kernland in wenigen Minuten erreichen, und infolge der Manövrierfähigkeit sei für Moskau unklar, ob der Angriff eventuell Russlands nuklearem Vergeltungspotential gelte. Dadurch entstünden in Krisen Anreize für den Kreml, das eigene Atomarsenal frühzeitig einzusetzen, bevor Nato-Raketen es zerstören (»use ’em or lose ’em«). Ferner könne Moskau nicht wissen, ob anfliegende LRHW konventionell oder nuklear bestückt seien, und daher nuklear überreagieren.

Doch dieses »warhead ambiguity«-Problem existiert nicht. Die drei bodengestützten Ab­standswaffen gibt es nur konventionell. Die USA nutzen flexibel zu bewaffnende (dual-capable) Flugkörper seit 2011 nicht mehr.

Die Ungewissheit, welches Ziel attackiert wird, und die kurze Flugzeit erhöhen tat­sächlich den Druck auf den Kreml. Daraus abgeleitete Eskalationsrisiken werden aber oft überzeichnet. »Use ’em or lose ’em«-Szena­rien, in denen Russland einen Nuklearkrieg gegen die USA startet, um zu verhindern, dass seine Raketen am Boden zerstört wer­den, werfen Fragen auf. Warum sollte Moskau aus Furcht vor einem möglichen US-Angriff einen Atomkrieg los­treten, bei dem die nukleare Vergeltung der USA garantiert ist? Russische Ängste vor US-Angriffen gab es zwar öfters. Sie führten aber zu mehr Vorsicht statt zu rascher Eska­lation.

Stark übertrieben wären Befürchtungen Moskaus, mit der Dark Eagle könne die Nato entwaffnende Präzisionsschläge führen und so Russlands nukleares Vergeltungspoten­tial an Land in großem Umfang zerstören oder seine politi­schen Führungszentren auf einen Schlag aus­schalten. Dafür sind schon die Stückzahlen der in Deutschland statio­nierten US-Systeme viel zu gering: Für die LRHW sind wohl nur vier Abschussrampen vorgesehen, von denen je zwei Flugkörper starten können. Die Rampen sind zwar nach­ladbar, aber die (geheime) Gesamtzahl der teuren Flugkörper müsste relativ klein sein.

Die wahrscheinlichste Reaktion wäre, dass Moskau Propaganda und Desinformation verstärkt, um die eigentliche Stationierung 2026 noch zu vereiteln und so Zweifel an der Nato zu säen. Von Russ­lands Nach­richtendiensten gesteuerte oder unter­stütz­te Einflussoperationen haben zuletzt stark zugenommen. Gewiss ist nicht jede hierzu­lande geäußerte Kritik an der Statio­nierung der Mittelstreckenwaffen russische Propa­ganda. Moskau verbreitet aber das irrige Narrativ, die Nato schüre für ihren Selbst­erhalt die Konfrontation mit Russland und opfere dafür die Sicherheit der Menschen in Europa.

Insgesamt ist das Risiko für Deutschland moderat. Dagegen abzuwägen ist das reale Risiko des Nichthandelns: Welche Schlüsse zieht Putin, wenn ihm die Nato nicht signa­lisiert, dass eine weitere russische Eskala­tion in Richtung Nato auf eine entschlossene Alli­anz trifft, die neue, noch wirksamere Abstandswaffen zur Verfügung hat? Der Kreml-Propaganda soll­te Berlin entgegenhalten, dass die Stationierung eine Reaktion auf Russland und kein Selbstzweck ist. Ein Rüstungskontroll­vorschlag würde dies unterstreichen.

Potentiale für Rüstungskontrolle

Der Kreml behauptet, die Nato stelle Mittel­strecken­waffen nur auf, um sich selbst zu erhalten. Diese Propaganda könnte die Allianz wirksam kontern, indem sie einen Verzicht auf die Stationierung anbietet – wenn Russland ebenfalls auf landgestützte Mittelstreckensysteme in Europa verzichtet oder ihre Zahl beiderseits auf niedrigem Niveau gedeckelt würde. Das wäre ein INF-Vertrag light. Da erst 2026 stationiert wird, gäbe es genug Gelegenheit zur Einigung, bevor Fakten geschaffen werden.

Solche Rüstungskontrollideen hätten zum Ziel, das heute zugunsten Russ­lands bestehende Ungleichgewicht bei land­gestütz­ten Mittelstreckenwaffen in Europa abzumildern oder idealerweise zu beseiti­gen: Moskau verfügt über den Marsch­flugkörper SSC-8 (Zahl im hohen zweistelligen Bereich), der den INF-Vertrag 2019 zu Fall brachte, seit 2023 über die Raketen Zolfaghar aus Iran (rund 400 Stück) und KN‑23 aus Nordkorea (etwa 50 Stück). Die see­gestütz­ten Hyperschall-Marschflug­körper Zirkon (Zahl im hohen zweistelligen Bereich) verschießt Russland seit 2024 auch von Land aus. Von seiner ballistischen Iskander-Version SS-26 müsste Moskau trotz ihres Einsatzes gegen die Ukraine noch deutlich über 100 Stück haben (Fachleute betrachten die SS-26 als Mittelstrecken­waffe.) Die Bilanz: Russland besitzt weit über 500 boden­gestützte Mittelstreckenflugkörper, die Nato in Europa bislang keinen einzigen.

Aber wäre es sinnvoll, 2026 die mühsam erreichte US-Stationierung (und die teure Entwicklung bei ELSA) für eine Rüstungskontrollvereinbarung abzusagen? Das wäre der Fall, denn wenn Moskau durch die Einigung das Gros seiner A2/AD-Kapazität verlöre, bräuchte Europa auch weniger »Gegen­mittel«. Bei den verbleibenden see- und luftgestützten Abstandswaffen wäre Nato-Europa im Vorteil. Auch hätten die USA dann mehr bodengestützte Mittel­streckensysteme für Ostasien zur Ver­fügung, wo das Ungleichgewicht zugunsten Chinas noch größer ist.

Dr. Jonas Schneider ist Wissenschaftler und Torben Arnold ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts »Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order« (STAND).

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