Der Besuch einer hochrangigen türkischen Delegation in Kairo Anfang Mai 2021 markiert einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der Türkei und Ägypten. Das Verhältnis der Führungen dieser beiden bevölkerungsreichsten Mittelmeeranrainer war seit dem Militärputsch in Ägypten 2013 extrem feindselig gewesen. Die jetzige Annäherung, die in der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen münden könnte, kommt insofern überraschend. Und ihr sind Grenzen gesetzt. Einer engeren Partnerschaft der Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und Abdel-Fatah al-Sisi stehen vor allem Unterschiede in den ideologischen Fundamenten ihrer Herrschaft entgegen. Der außenpolitische Kurswechsel soll den Handlungsspielraum beider Präsidenten vergrößern. Denn ihre Regime stehen aufgrund regionaler, internationaler, aber auch interner Entwicklungen unter Druck. Deutschland und die EU sollten die Annäherung unterstützen, weil sie zur Deeskalation in der Region beitragen kann. Die gegenwärtige außenpolitische und wirtschaftliche Schwäche der Regime könnte auch eine Chance bieten, politisches Umdenken in anderen Bereichen einzufordern.
Im Juli 2013 stürzte das Militär den ägyptischen Präsidenten und Muslimbruder Mohammad Mursi. Seither hatten die Regierungen in Ankara und Kairo keine Gelegenheit ausgelassen, sich gegenseitig an den Pranger zu stellen. Präsident Erdoğan, dessen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) enge Kontakte zur Muslimbruderschaft in Ägypten pflegte, warf Präsident al‑Sisi vor, durch den Militärputsch unrechtmäßig die Macht an sich gerissen und ein totalitäres System errichtet zu haben. Die ägyptische Staatsführung wiederum beschuldigte die Türkei, mit ihrer Unterstützung der Muslimbruderschaft den Terrorismus in der Region zu fördern und sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen.
Im Sommer 2020 sah es sogar danach aus, als könne der »Kalte Krieg« zwischen Kairo und Ankara in einen Waffengang umschlagen: Das militärische Eingreifen der Türkei im libyschen Bürgerkrieg und die Drohung Kairos, bei einem weiteren Vormarsch der von Ankara unterstützten Verbände der damaligen international anerkannten Regierung mit eigenen Truppen zu intervenieren, hatten eine kriegerische Auseinandersetzung in den Bereich des Möglichen rücken lassen. Als im östlichen Mittelmeer neue Gasvorkommen gefunden wurden, entbrannten Streitigkeiten über den Verlauf der sogenannten »Ausschließlichen Wirtschaftszone« (AWZ), die ebenso wie Marineübungen der beiden Staaten die Spannungen weiter anheizten.
Zur Überraschung vieler Beobachter setzte Ende des Jahres jedoch eine allmähliche Annäherung der beiden Regierungen ein. Eine Intensivierung der Geheimdienstkontakte hatte zur Entspannung im Libyen-Konflikt beigetragen, da beide Staaten die Ende 2020 begonnenen UN-Vermittlungen unterstützten, die auf die Bildung einer neuen Einheitsregierung abzielten. Mitte März 2021 machte die türkische Staatsführung dann ein unmissverständliches Zugeständnis: Die in Istanbul ansässigen TV-Sender der ägyptischen Exilopposition wurden angewiesen, umgehend ihre Kritik am Regime in Kairo zu stoppen. Dadurch wurde der Weg frei für ein zweitägiges Treffen der stellvertretenden Außenminister beider Länder am 5. und 6. Mai in Kairo.
Erdoğan unter Zugzwang
Geradezu enthusiastisch kündigte Präsident Erdoğan nach dem Treffen an, dass sein Land die »historische Freundschaft« zu Ägypten fortsetzen und den wiederaufgenommenen Dialog ausweiten wolle. Dabei wechselt er seinen außenpolitischen Kurs keineswegs freiwillig. Die konfrontative Außenpolitik der letzten Dekade, in der die Türkei auch militärische Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzte, ist an ihre Grenzen gestoßen. In seinem regionalen Umfeld ist das Land zunehmend isoliert. Die Beziehungen zu Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) sind nicht zuletzt als Folge der Katar-Blockade äußerst angespannt. Mit Unterstützung Ägyptens hatten die beiden Golfstaaten zwischen Juni 2017 und Januar 2021 eine Teilblockade gegen das Emirat Katar verhängt, den engsten Verbündeten Ankaras in der Region. Nachdem die Türkei dem Emirat zur Hilfe geeilt war, verschlechterte sich das Verhältnis zusehends. Zuletzt belegte Saudi-Arabien türkische Produkte mit einem informellen Boykott und erklärte noch Ende April, acht türkische Schulen schließen zu wollen. Zwar konnte Ankara seine Beziehungen zu Riad in den vergangenen Monaten wieder etwas verbessern. Gegenüber den VAE stehen die Zeichen aber noch immer auf Konfrontation. So soll ein türkischer Mafiaboss, der seit Wochen Informationen über eine angebliche Verflechtung von Politik und organisiertem Verbrechen in der Türkei liefert, ausgerechnet in Dubai Zuflucht gefunden haben.
Im östlichen Mittelmeer steht Ankara einer energiepolitischen Allianz gegenüber, die Ägypten, Griechenland, die Republik Zypern und Israel eingegangen sind. Nach Gasfunden hatten diese Länder mit Unterstützung weiterer Mittelmeeranrainer das East Mediterranean Gas Forum gegründet. Damit gerät Ankara auch im langjährigen Streit über die Seegrenzen mit Athen und Nikosia zunehmend ins Hintertreffen. Im Gegenzug hat die Türkei durch ein Abkommen mit der libyschen Regierung in Tripolis im November 2019 in ihrem Sinne die beiderseitigen Seegrenzen festgelegt. Die anderen Staaten in der Region erkennen dieses Abkommen aber nicht an. Und die Allianz mit Tripolis ist keineswegs eine sichere Bank. Zwar konnte Ankara durch sein militärisches Eingreifen in Libyen Erfolge verbuchen, langfristig dürfte es aber nicht in der Lage sein, seine Interessen in dem Bürgerkriegsland allein mit militärischen Mitteln abzusichern.
Erdoğan steht auch international unter Druck. Obwohl im Zuge des Regierungswechsels in Washington keine grundlegende Neuordnung des türkisch-amerikanischen Verhältnisses zu erwarten ist, hat US-Präsident Joe Biden früh deutlich gemacht, dass er Konflikte mit Ankara nicht scheut. Dass Biden den im Osmanischen Reich verübten Völkermord an den Armeniern offiziell als solchen anerkannt hat, was seine Vorgänger aus Rücksicht auf die Türkei vermieden hatten, ist Ausdruck dieses Politikwechsels. Hinzu kommt, dass Ankara nach dem Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400 bereits mit US-Sanktionen belegt ist. Außerdem ermittelt die US-Justiz gegen die staatliche türkische »Halkbank«, der vorgeworfen wird, gegen den Iran verhängte Sanktionen unterlaufen zu haben.
Für die türkische Regierung wiegen diese außenpolitischen Herausforderungen angesichts der prekären wirtschaftlichen Situation des Landes umso schwerer. Die Corona-Pandemie hat strukturelle Probleme der türkischen Wirtschaft verschärft und die Zustimmungsraten für die regierende AKP weiter einbrechen lassen. Von der Annäherung an Ägypten erhofft sich Erdoğan daher, außenpolitischen Spielraum zurückgewinnen und innenpolitisch punkten zu können. Dieser Schritt bietet ihm die Möglichkeit, sich gegenüber der neuen US-Administration als friedensorientierter Staatslenker zu präsentieren. Zugleich könnte die Allianz zwischen Saudi-Arabien, den VAE und Ägypten geschwächt werden. Im östlichen Mittelmeer könnte die Annäherung an Kairo dazu beitragen, sowohl Ankaras Position im Streit um die Seegrenzen zu stärken als auch die türkischen Interessen in Libyen langfristig abzusichern.
Sitzt Sisi am längeren Hebel?
Kairo betreibt die Annäherung weniger energisch als Ankara. So betonen ägyptische Regierungsvertreter immer wieder, dass die Türkei für eine Normalisierung der Beziehungen zunächst Vorleistungen erbringen müsse. Diese Rhetorik darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die politische Führung unter Präsident Sisi an einer Verbesserung der Beziehungen interessiert ist.
Ähnlich wie Erdoğan steht auch Sisi unter erheblichem Druck. Das gute Verhältnis zur US-Führung unter Präsident Donald Trump – der den ägyptischen Präsidenten sogar als seinen »favorite dictator« bezeichnet hatte – stellt nun eine schwere Hypothek für das Verhältnis zu Präsident Joe Biden dar. Zwar hat die erfolgreiche Vermittlung im jüngst wieder eskalierten Konflikt zwischen Israel und der Hamas Sisis Ansehen in Washington verbessert und US-Kritik an der Menschenrechtssituation in den Hintergrund treten lassen. Dennoch sind die USA gerade bei der Bewältigung der regionalen Herausforderungen, mit denen das Regime konfrontiert ist, keineswegs ein verlässlicher Partner. Deutlich wird das insbesondere im Nilkonflikt, der für Kairo derzeit größten außenpolitischen Aufgabe. Im Streit mit Äthiopien um die Wasserverteilung ist Ägypten angesichts der Baufortschritte am Grand Ethiopian Renaissance Damm (GERD) klar in der Defensive. Anders als sein Vorgänger unterstützt Präsident Biden Ägyptens Position nicht einseitig, sondern setzt auf eine ausgewogene Politik.
Am Nilkonflikt lässt sich auch eine weitere Entwicklung ablesen, die für Kairo mindestens ebenso gefährlich ist wie die Neuausrichtung der US-Ägyptenpolitik: die Abkühlung im Verhältnis zu Saudi-Arabien und den VAE. Beide Staaten verhalten sich im Nilkonflikt ebenfalls neutral, obwohl sie bis dahin als die wichtigsten Verbündeten des Sisi-Regimes galten. Seit Beginn der erfolglosen Katar-Blockade ist diese Dreier-Allianz aber zunehmend schwächer geworden. Abstimmung in regionalpolitischen Krisen wie dem Bürgerkrieg in Syrien oder dem Jemen-Konflikt fand offenkundig kaum statt. Und die von den VAE betriebene Normalisierung der Beziehungen zu Israel wird in Kairo äußerst skeptisch gesehen. Nicht nur könnte in der Folge Ägyptens traditionelle Vermittlerrolle im Nahostkonflikt relativiert werden. Auch der Bau neuer Pipelines und Verkehrswege könnte langfristig das Transportaufkommen im Suez-Kanal reduzieren und damit zulasten einer wichtigen Einnahmequelle des ägyptischen Staates gehen.
Vor allem aber haben Riad und Abu Dhabi in den vergangenen Jahren immer weniger dazu beigetragen, die Milliarden-US-Dollar schweren Haushaltsdefizite Ägyptens zu finanzieren. Dabei ist die wirtschaftliche Situation die Achillesferse des Sisi-Regimes. Nicht zuletzt wegen der Auswirkungen der Corona-Pandemie ist Ägypten auch in den kommenden Jahren auf erhebliche externe Finanzhilfen angewiesen, um zumindest die Grundversorgung der wachsenden Bevölkerung sicherzustellen.
Gerade das Ausbleiben der Geldzahlungen aus den Golfmonarchien dürfte Sisi darin bestärkt haben, eine außenpolitische »Frontbegradigung« vorzunehmen, um mehr Spielraum für Verhandlungen mit den beiden traditionellen Gebern zu gewinnen. Zudem ist die Türkei ein wichtiger Absatzmarkt für ägyptische Exporte. Und schließlich ist Sisi im Libyen-Konflikt sogar ein Stück weit auf ein Arrangement mit Ankara angewiesen. Denn seinen Drohungen zum Trotz dürfte er im Unterschied zur Türkei keineswegs daran interessiert sein, Bodentruppen in das Nachbarland zu entsenden. Eine solche Intervention hätte unabsehbare Folgen für die ägyptischen Streitkräfte. Diese sind innenpolitisch zwar mächtiger denn je, ihre militärischen Fähigkeiten lassen sich aber kaum realistisch einschätzen. So ist es ihnen bis heute nicht gelungen, den gewaltsamen Aufstand auf der Sinai-Halbinsel niederzuschlagen.
Grenzen der Annäherung
Auch wenn es für beide Seiten gute Gründe gibt, ihre Annäherung voranzutreiben und die abgebrochenen diplomatischen Beziehungen wiederherzustellen – eine vollständige Normalisierung des türkisch-ägyptischen Verhältnisses ist derzeit nicht zu erwarten. In Libyen etwa scheinen beide Seiten an einem Arrangement interessiert. Wie dieses indes aussehen könnte, ist keineswegs klar. Ein »Grand Bargain« jedenfalls lässt sich allein schon deswegen kaum vorstellen, weil eine langfristige türkische Militärpräsenz in Libyen für die ägyptische Seite kaum hinnehmbar sein dürfte. Ein vollständiger Abzug türkischer Einheiten ist hingegen für Präsident Erdoğan wohl keine Option. Und es ist wiederum wenig realistisch, dass Kairo seine Allianzpolitik im östlichen Mittelmeer zugunsten Ankaras grundlegend ändert. Griechenland, Zypern und Ägypten werden ihre Beziehungen vermutlich weiter ausbauen.
Einer vollständigen Normalisierung der Beziehungen stehen aber vor allem die ideologischen Differenzen der beiden Regime entgegen. Während Präsident Erdoğan das Leitbild einer »türkisch-muslimischen Religionsnation« verfolgt, ist die Herrschaft Präsident Sisis gänzlich auf das Militär ausgerichtet. Dessen Machtübernahme 2013 hat sich ausdrücklich gegen Bestrebungen gerichtet, religiöse Bezüge stärker im Staatswesen zu verankern. Da beide Führungen ihre jeweiligen ideologischen Vorstellungen auch regional aktiv propagieren – was in der türkischen Unterstützung islamistischer Oppositionsgruppen ebenso deutlich wird wie in der ägyptischen Unterstützung für General Haftar in Libyen und das Assad-Regime in Syrien –, sind der Annäherung ihrer Staaten enge Grenzen gesetzt. Nicht zu erwarten ist etwa, dass die Türkei ihre Funktion als Zentrum der ägyptischen Exilopposition unter Präsident Erdoğan verlieren wird – viele ihrer führenden Vertreter haben mittlerweile sogar türkische Pässe erhalten.
Chancen für deutsche und europäische Politik
Trotz ihrer absehbaren Grenzen birgt die Annäherung Ägyptens und der Türkei nicht nur für die beiden Regime, sondern auch für Deutschland und seine europäischen Partner Chancen. Denn diese Entwicklung kann etwa zur Deeskalation der angespannten Situation im östlichen Mittelmeerraum beitragen. Ziel sollte es dabei sein, die Gelegenheit zu nutzen, um die Türkei in regionale Formate einzubinden. In der Folge ließen sich Prozesse der Abstimmung, auch über strittige Grenzfragen, besser gestalten. Ein erster, konkreter Schritt könnte sein, der Türkei einen Beobachterstatus im East Mediterranean Gas Forum einzuräumen.
In Libyen werden beide Seiten benötigt, um das fragile Kräftegleichgewicht zu wahren. Dabei sollten die Europäer Ägypten und die Türkei dazu bewegen, ihre Aktivitäten im Land schrittweise einzuschränken, ohne dieses Gleichgewicht zu stören. In diesem Sinne sollten beide Seiten davon abgehalten werden, etwaige Verschiebungen der Kräfteverhältnisse im Zuge der für Dezember 2021 geplanten Wahlen zu nutzen, um die jeweils andere Seite aus Libyen hinauszudrängen. Schließlich könnten Ankara und Kairo daran mitwirken, den Einfluss anderer externer Akteure wie Russland und die VAE zurückzudrängen.
Vor allem sollten sich die Europäer bewusst machen, dass hinter der Annäherung der beiden Regime deren grundsätzliche Angst steht, ihren außenpolitischen Handlungsspielraum beschnitten zu sehen oder gar einzubüßen: Erdoğan und Sisi sind aufgrund externer, auch wirtschaftlicher Faktoren gleichermaßen darauf angewiesen, ihre bislang auf Konfrontation ausgerichteten bilateralen Beziehungen neu zu justieren. Der Zeitpunkt ist daher günstig, beide Seiten auch in anderen Bereich zum politischen Umdenken zu ermutigen, etwa mit Blick auf die problematische Menschenrechtssituation in Ägypten ebenso wie in der Türkei.
Dr. Hürcan Aslı Aksoy ist Stellvertretende Leiterin des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS).
Dr. Stephan Roll ist Leiter der SWP-Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.
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