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Ende der Eiszeit zwischen Ägypten und der Türkei

Außenpolitische und wirtschaftliche Schwächen bringen die Regime in Kairo und Ankara einander näher

SWP-Aktuell 2021/A 45, 17.06.2021, 5 Pages

doi:10.18449/2021A45

Research Areas

Der Besuch einer hochrangigen türkischen Delegation in Kairo Anfang Mai 2021 mar­kiert einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der Türkei und Ägypten. Das Verhältnis der Führungen dieser beiden bevölkerungsreichsten Mittelmeeranrainer war seit dem Militärputsch in Ägypten 2013 extrem feindselig gewesen. Die jetzige Annäherung, die in der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen münden könnte, kommt insofern überraschend. Und ihr sind Grenzen gesetzt. Einer engeren Partnerschaft der Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und Abdel-Fatah al-Sisi stehen vor allem Unterschiede in den ideologischen Fundamenten ihrer Herrschaft entgegen. Der außenpolitische Kurswechsel soll den Handlungsspielraum beider Präsidenten ver­größern. Denn ihre Regime stehen aufgrund regionaler, internationaler, aber auch interner Entwicklungen unter Druck. Deutschland und die EU sollten die Annäherung unterstützen, weil sie zur Deeskalation in der Region beitragen kann. Die gegen­wärtige außenpolitische und wirtschaftliche Schwäche der Regime könnte auch eine Chance bieten, politisches Umdenken in anderen Bereichen einzufordern.

Im Juli 2013 stürzte das Militär den ägyp­tischen Präsidenten und Muslimbruder Mohammad Mursi. Seither hatten die Regie­rungen in Ankara und Kairo keine Gelegen­heit ausgelassen, sich gegenseitig an den Pranger zu stellen. Präsident Erdoğan, des­sen Partei für Gerechtigkeit und Entwick­lung (AKP) enge Kontakte zur Muslimbruder­schaft in Ägypten pflegte, warf Präsident al‑Sisi vor, durch den Militärputsch un­rechtmäßig die Macht an sich gerissen und ein totalitäres System errichtet zu haben. Die ägyptische Staatsführung wiederum beschuldigte die Türkei, mit ihrer Unterstützung der Muslimbruderschaft den Ter­rorismus in der Region zu fördern und sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen.

Im Sommer 2020 sah es sogar danach aus, als könne der »Kalte Krieg« zwischen Kairo und Ankara in einen Waffengang umschlagen: Das militärische Eingreifen der Türkei im libyschen Bürgerkrieg und die Drohung Kairos, bei einem weiteren Vormarsch der von Ankara unterstützten Verbände der damaligen international an­erkannten Regierung mit eigenen Truppen zu intervenieren, hatten eine kriegerische Auseinandersetzung in den Bereich des Möglichen rücken lassen. Als im östlichen Mittelmeer neue Gasvorkommen gefunden wurden, entbrannten Streitigkeiten über den Verlauf der sogenannten »Ausschließ­lichen Wirtschaftszone« (AWZ), die ebenso wie Marine­übungen der beiden Staaten die Spannungen weiter anheizten.

Zur Überraschung vieler Beobachter setzte Ende des Jahres jedoch eine allmäh­liche Annäherung der beiden Regierungen ein. Eine Intensivierung der Geheimdienst­kontakte hatte zur Entspannung im Libyen-Konflikt beigetragen, da beide Staaten die Ende 2020 begonnenen UN-Vermittlungen unterstützten, die auf die Bildung einer neuen Einheitsregierung abzielten. Mitte März 2021 machte die türkische Staats­führung dann ein unmissverständliches Zugeständnis: Die in Istanbul ansässigen TV-Sender der ägyptischen Exilopposition wurden angewiesen, umgehend ihre Kritik am Regime in Kairo zu stoppen. Dadurch wurde der Weg frei für ein zweitägiges Treffen der stellvertretenden Außenminister beider Länder am 5. und 6. Mai in Kairo.

Erdoğan unter Zugzwang

Geradezu enthusiastisch kündigte Präsident Erdoğan nach dem Treffen an, dass sein Land die »historische Freundschaft« zu Ägyp­ten fortsetzen und den wiederaufgenommenen Dialog ausweiten wolle. Dabei wechselt er seinen außenpolitischen Kurs keineswegs freiwillig. Die konfrontative Außenpolitik der letzten Dekade, in der die Türkei auch militärische Mittel zur Durch­setzung ihrer Interessen nutzte, ist an ihre Grenzen gestoßen. In seinem regionalen Umfeld ist das Land zunehmend isoliert. Die Beziehungen zu Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) sind nicht zuletzt als Folge der Katar-Blockade äußerst angespannt. Mit Unterstützung Ägyptens hatten die beiden Golf­staaten zwischen Juni 2017 und Januar 2021 eine Teilblockade gegen das Emirat Katar verhängt, den engsten Verbündeten Ankaras in der Region. Nachdem die Türkei dem Emirat zur Hilfe geeilt war, verschlech­terte sich das Verhältnis zusehends. Zuletzt belegte Saudi-Arabien türkische Produkte mit einem informellen Boykott und erklärte noch Ende April, acht türkische Schulen schließen zu wol­len. Zwar konnte Ankara seine Beziehungen zu Riad in den vergangenen Monaten wieder etwas verbessern. Gegenüber den VAE stehen die Zeichen aber noch immer auf Konfrontation. So soll ein türkischer Mafiaboss, der seit Wochen Informationen über eine angebliche Ver­flechtung von Politik und organisiertem Verbrechen in der Türkei liefert, ausgerechnet in Dubai Zuflucht gefunden haben.

Im östlichen Mittelmeer steht Ankara einer energiepolitischen Allianz gegenüber, die Ägypten, Griechenland, die Republik Zypern und Israel eingegangen sind. Nach Gasfunden hatten diese Länder mit Unter­stützung weiterer Mittelmeeranrainer das East Mediterranean Gas Forum gegründet. Damit gerät Ankara auch im langjährigen Streit über die Seegrenzen mit Athen und Nikosia zunehmend ins Hintertreffen. Im Gegenzug hat die Türkei durch ein Abkommen mit der libyschen Regierung in Tripolis im November 2019 in ihrem Sinne die beiderseitigen Seegrenzen festgelegt. Die anderen Staaten in der Region erken­nen dieses Abkommen aber nicht an. Und die Allianz mit Tripolis ist keineswegs eine sichere Bank. Zwar konnte Ankara durch sein militärisches Eingreifen in Libyen Erfolge verbuchen, langfristig dürfte es aber nicht in der Lage sein, seine Interessen in dem Bürgerkriegsland allein mit mili­tärischen Mitteln abzusichern.

Erdoğan steht auch international unter Druck. Obwohl im Zuge des Regierungswechsels in Washington keine grundlegende Neuordnung des türkisch-amerikanischen Verhältnisses zu erwarten ist, hat US-Präsi­dent Joe Biden früh deutlich gemacht, dass er Konflikte mit Ankara nicht scheut. Dass Biden den im Osmanischen Reich verübten Völkermord an den Armeniern offiziell als solchen anerkannt hat, was seine Vorgän­ger aus Rücksicht auf die Türkei vermieden hatten, ist Ausdruck dieses Politikwechsels. Hinzu kommt, dass Ankara nach dem Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400 bereits mit US-Sanktionen belegt ist. Außer­dem ermittelt die US-Justiz gegen die staat­liche türkische »Halkbank«, der vorgeworfen wird, gegen den Iran verhängte Sanktio­nen unterlaufen zu haben.

Für die türkische Regierung wiegen diese außenpolitischen Herausforderungen angesichts der prekären wirtschaftlichen Situation des Landes umso schwerer. Die Corona-Pandemie hat strukturelle Probleme der türkischen Wirtschaft verschärft und die Zustimmungsraten für die regierende AKP weiter einbrechen lassen. Von der An­näherung an Ägypten erhofft sich Erdoğan daher, außenpolitischen Spielraum zurück­gewinnen und innenpolitisch punkten zu können. Dieser Schritt bietet ihm die Mög­lichkeit, sich gegenüber der neuen US-Administration als friedensorientierter Staatslenker zu präsentieren. Zu­gleich könnte die Allianz zwischen Saudi-Arabien, den VAE und Ägypten geschwächt werden. Im östlichen Mittelmeer könnte die Annä­herung an Kairo dazu beitragen, sowohl Ankaras Position im Streit um die Seegrenzen zu stärken als auch die türkischen In­teressen in Libyen langfristig abzusichern.

Sitzt Sisi am längeren Hebel?

Kairo betreibt die Annäherung weniger energisch als Ankara. So betonen ägyptische Regierungsvertreter immer wieder, dass die Tür­kei für eine Normalisierung der Bezie­hun­gen zunächst Vorleistungen erbringen müsse. Diese Rhetorik darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die politische Führung unter Präsident Sisi an einer Verbesserung der Beziehungen interessiert ist.

Ähnlich wie Erdoğan steht auch Sisi unter erheblichem Druck. Das gute Verhält­nis zur US-Führung unter Präsident Donald Trump – der den ägyptischen Präsidenten sogar als seinen »favorite dictator« bezeich­net hatte – stellt nun eine schwere Hypo­thek für das Verhältnis zu Präsident Joe Biden dar. Zwar hat die erfolgreiche Ver­mittlung im jüngst wieder eskalierten Kon­flikt zwischen Israel und der Hamas Sisis Ansehen in Washington verbessert und US-Kritik an der Menschenrechtssituation in den Hintergrund treten lassen. Dennoch sind die USA gerade bei der Bewältigung der regionalen Herausforderungen, mit denen das Regime konfrontiert ist, keines­wegs ein verlässlicher Partner. Deutlich wird das insbesondere im Nilkonflikt, der für Kairo derzeit größten außenpolitischen Aufgabe. Im Streit mit Äthiopien um die Wasserverteilung ist Ägypten angesichts der Baufortschritte am Grand Ethiopian Renais­sance Damm (GERD) klar in der Defensive. Anders als sein Vorgänger unterstützt Präsi­dent Biden Ägyptens Position nicht einsei­tig, sondern setzt auf eine ausgewogene Politik.

Am Nilkonflikt lässt sich auch eine wei­tere Entwicklung ablesen, die für Kairo min­destens ebenso gefährlich ist wie die Neuausrichtung der US-Ägyptenpolitik: die Ab­kühlung im Verhältnis zu Saudi-Arabien und den VAE. Beide Staaten verhalten sich im Nilkonflikt ebenfalls neutral, obwohl sie bis dahin als die wichtigsten Verbündeten des Sisi-Regimes galten. Seit Beginn der erfolg­losen Katar-Blockade ist diese Dreier-Allianz aber zunehmend schwächer gewor­den. Abstimmung in regionalpolitischen Krisen wie dem Bürgerkrieg in Syrien oder dem Jemen-Konflikt fand offenkundig kaum statt. Und die von den VAE betriebene Normalisierung der Beziehungen zu Israel wird in Kairo äußerst skeptisch gesehen. Nicht nur könnte in der Folge Ägyptens traditionelle Vermittlerrolle im Nahost­konflikt relativiert werden. Auch der Bau neuer Pipelines und Verkehrswege könnte langfristig das Transportaufkommen im Suez-Kanal reduzieren und damit zulasten einer wichtigen Einnahmequelle des ägyp­tischen Staates gehen.

Vor allem aber haben Riad und Abu Dhabi in den vergangenen Jahren immer weniger dazu beigetragen, die Milliarden-US-Dollar schweren Haushaltsdefizite Ägyp­tens zu finanzieren. Dabei ist die wirtschaftliche Situation die Achillesferse des Sisi-Regimes. Nicht zuletzt wegen der Aus­wirkungen der Corona-Pandemie ist Ägyp­ten auch in den kommenden Jahren auf erhebliche externe Finanzhilfen angewiesen, um zumindest die Grundversorgung der wachsenden Bevölkerung sicherzustellen.

Gerade das Ausbleiben der Geldzahlungen aus den Golfmonarchien dürfte Sisi darin bestärkt haben, eine außenpolitische »Frontbegradigung« vorzunehmen, um mehr Spielraum für Verhandlungen mit den beiden traditionellen Gebern zu gewin­nen. Zudem ist die Türkei ein wichtiger Absatzmarkt für ägyptische Exporte. Und schließlich ist Sisi im Libyen-Konflikt sogar ein Stück weit auf ein Arrangement mit Ankara angewiesen. Denn seinen Drohungen zum Trotz dürfte er im Unterschied zur Türkei keineswegs daran interessiert sein, Bodentruppen in das Nachbarland zu ent­senden. Eine solche Intervention hätte un­absehbare Folgen für die ägyptischen Streit­kräfte. Diese sind innenpolitisch zwar mächtiger denn je, ihre militärischen Fähig­keiten lassen sich aber kaum realistisch einschätzen. So ist es ihnen bis heute nicht gelungen, den gewaltsamen Aufstand auf der Sinai-Halbinsel niederzuschlagen.

Grenzen der Annäherung

Auch wenn es für beide Seiten gute Gründe gibt, ihre Annäherung voranzutreiben und die abgebrochenen diplomatischen Bezie­hungen wiederherzustellen – eine voll­ständige Normalisierung des türkisch-ägyp­tischen Verhältnisses ist derzeit nicht zu erwarten. In Libyen etwa scheinen beide Seiten an einem Arrangement interessiert. Wie dieses indes aussehen könnte, ist kei­neswegs klar. Ein »Grand Bargain« jeden­falls lässt sich allein schon deswegen kaum vorstellen, weil eine langfristige türkische Militärpräsenz in Libyen für die ägyptische Seite kaum hinnehmbar sein dürfte. Ein vollständiger Abzug türkischer Einheiten ist hingegen für Präsident Erdoğan wohl keine Option. Und es ist wiederum wenig realis­tisch, dass Kairo seine Allianzpolitik im öst­lichen Mittelmeer zugunsten Ankaras grund­legend ändert. Griechenland, Zypern und Ägyp­ten werden ihre Beziehungen vermutlich weiter ausbauen.

Einer vollständigen Normalisierung der Beziehungen stehen aber vor allem die ideologischen Differenzen der beiden Re­gime entgegen. Während Präsident Erdoğan das Leitbild einer »türkisch-muslimischen Religionsnation« verfolgt, ist die Herrschaft Präsident Sisis gänzlich auf das Militär aus­gerichtet. Dessen Machtübernahme 2013 hat sich ausdrücklich gegen Bestrebungen gerichtet, religiöse Bezüge stärker im Staats­wesen zu verankern. Da beide Füh­rungen ihre jeweiligen ideologischen Vor­stellungen auch regional aktiv propagieren – was in der türkischen Unterstützung islamistischer Oppositionsgruppen ebenso deutlich wird wie in der ägyptischen Unterstützung für General Haftar in Libyen und das Assad-Regime in Syrien –, sind der Annäherung ihrer Staaten enge Grenzen gesetzt. Nicht zu erwarten ist etwa, dass die Türkei ihre Funktion als Zentrum der ägyptischen Exil­opposition unter Präsident Erdoğan ver­lieren wird – viele ihrer führenden Ver­treter haben mittlerweile sogar türkische Pässe erhalten.

Chancen für deutsche und europäische Politik

Trotz ihrer absehbaren Grenzen birgt die Annäherung Ägyptens und der Türkei nicht nur für die beiden Regime, sondern auch für Deutschland und seine europäischen Partner Chancen. Denn diese Entwicklung kann etwa zur Deeskalation der angespannten Situation im östlichen Mittel­meer­raum beitragen. Ziel sollte es dabei sein, die Gele­genheit zu nutzen, um die Türkei in regio­nale Formate einzubinden. In der Folge ließen sich Prozesse der Abstimmung, auch über strittige Grenzfragen, besser gestalten. Ein erster, konkreter Schritt könnte sein, der Türkei einen Beobachterstatus im East Mediterranean Gas Forum einzuräumen.

In Libyen werden beide Seiten benötigt, um das fragile Kräftegleichgewicht zu wah­ren. Dabei sollten die Europäer Ägypten und die Türkei dazu bewegen, ihre Aktivi­täten im Land schrittweise einzuschränken, ohne dieses Gleichgewicht zu stören. In diesem Sinne sollten beide Seiten davon abgehalten werden, etwaige Verschiebungen der Kräfteverhältnisse im Zuge der für Dezember 2021 geplanten Wahlen zu nutzen, um die jeweils andere Seite aus Libyen hinauszudrängen. Schließlich könn­ten Ankara und Kairo daran mitwirken, den Einfluss anderer externer Akteure wie Russland und die VAE zurückzudrängen.

Vor allem sollten sich die Europäer bewusst machen, dass hinter der Annäherung der beiden Regime deren grundsätz­liche Angst steht, ihren außenpolitischen Hand­lungsspielraum beschnitten zu sehen oder gar einzubüßen: Erdoğan und Sisi sind aufgrund externer, auch wirtschaftlicher Faktoren gleichermaßen darauf angewiesen, ihre bislang auf Konfrontation aus­gerichteten bilateralen Beziehungen neu zu jus­tieren. Der Zeitpunkt ist daher günstig, beide Seiten auch in anderen Bereich zum politischen Umdenken zu ermutigen, etwa mit Blick auf die problematische Menschen­rechtssituation in Ägypten ebenso wie in der Türkei.

Dr. Hürcan Aslı Aksoy ist Stellvertretende Leiterin des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS).
Dr. Stephan Roll ist Leiter der SWP-Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.

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