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Die Türkei auf dem Weg zur Autokratie

Wirtschaftliche Folgen und Handlungsmöglichkeiten der EU und Deutschlands

SWP-Aktuell 2025/A 17, 16.04.2025, 6 Seiten

doi:10.18449/2025A17

Forschungsgebiete

Die Türkei droht, in die Autokratie abzugleiten – auch wenn der Widerstand der Oppositionspartei CHP infolge der Verhaftung Ekrem İmamoğlus vorerst verhindert hat, dass die Partei einem Treuhänder unterstellt und die Großstadtkommune İstanbul unter Zwangsverwaltung gestellt wird. Eine vollständige Autokratisierung der Türkei kann nur dann verhindert werden, wenn der Widerstand der Opposition auf breite und beständige Unterstützung in der Bevölkerung trifft, politische Instabi­li­tät das Wirt­schaftswachstum gefährdet und die Europäische Union (EU) geschlossen reagiert. Es liegt nicht im Interesse der EU und Deutschlands, dass die Türkei durch weitere Auto­kratisierung politisch-wirtschaftlich in Schieflage gerät; denn dann könnte sie ihre regionalen Aufgaben – Eindämmung von Migrationsbewegungen, Abschreckung Russ­lands, Sta­bilisierung Syriens – nicht effektiv wahrnehmen. Die EU kann konstruktiv auf die Türkei einwirken, indem sie ihr Gespräche über die Modernisierung der Zoll­union und über Visaerleichterungen in Aussicht stellt und ihr eine größere Mitsprache in der europäischen Sicherheitsarchitektur anbietet – geknüpft an die Bedingung, dass die Regierung die Spielregeln der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einhält.

Am 19. März 2025 wurden der İstanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu und 99 weitere Personen aus seinem Umfeld in einem großen Polizeieinsatz festgenom­men. İmamoğlu hätte zunächst zu einer Verneh­mung vorgeladen werden müssen, was jedoch nicht geschah, sodass die formelle Rechtmäßigkeit des Ermittlungsverfahrens angezweifelt werden kann. Die gezielte Denunziation durch Kampagnen in regie­rungsnahen (sozialen) Medien gegen İmamoğlu und die Republikanische Volks­partei (CHP) sowie die Aberkennung seines Hochschulabschlusses aus dem Jahr 1994 lassen den Verdacht aufkommen, dass das Strafverfahren politisch motiviert ist. Erhär­tet wird dieser Verdacht dadurch, dass Staats­präsident Recep Tayyip Erdoğan sich in die Ermittlungen einmischt.

İmamoğlu wird vorgeworfen, öffentliche Ausschreibungen manipuliert, illegale Finanz­transaktionen durchgeführt und personenbezogene Daten der Bewohner İstanbuls unrechtmäßig genutzt zu haben. Der Vorwurf der ›Terrorunterstützung‹ bezieht sich auf die von der prokurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM) und der CHP bei den Kommunalwahlen 2024 verfolgte Strategie des ›Stadtkonsenses‹. Dabei ver­zichtete die DEM-Partei in westtürkischen Städten auf eigene Kandidaten und unterstützte statt­dessen die CHP.

Gründe für das Vorgehen gegen die Opposition und seine Folgen

Das Vorgehen gegen die Opposition in der Türkei reiht sich ein in eine Serie juristi­scher Operationen: Seit İstanbul letztes Jahr einen neuen Oberstaatsanwalt erhalten hat, wurden bereits drei CHP-Bezirksbürgermeis­ter verhaftet. Im vergangenen Monat kam es zu Festnahmen von Kom­mu­nalpolitikern der CHP und der DEM-Partei, von denen die meisten medienwirksam umgesetzt wur­den. Aufsehen erregte die poli­zeiliche Vor­führung der beiden Spitzen­vertreter des Unternehmerverbandes TÜSİAD, nachdem sie die Instrumentalisierung der Justiz als politische Waffe kri­tisiert hatten.

Doch der Widerstand der CHP lässt diese Strategie zum Bumerang für Staatspräsident Erdoğan wer­den. Nach der Verhaftung İmamoğlus gin­gen in İstanbul, Ankara, İzmir und zahl­reichen weiteren Provinzen Hunderttausende auf die Straße. Die Pro­teste weiteten sich aus und haben sich zunehmend zu einem breiten Widerstand gegen Erdoğan ent­wickelt.

Folgt die Regierung einer Macht- oder einer Wirtschaftslogik?

Die Verhaftungen und die Protestwelle gingen und gehen auch an der Wirtschaft nicht spurlos vorbei. Die Börse ist dra­ma­tisch abgestürzt, die türkische Lira hat massiv an Wert verloren und Milliarden von Devisen wur­den in den Markt ge­pumpt, um die Stabi­lität der Landeswäh­rung zu sichern. Da stellt sich die Frage, war­um Erdoğan es zugelassen hat, dass Ermittlungs- und Strafverfahren gegen İmamoğlu und andere CHP-Bürgermeister eingeleitet wurden, obwohl es noch mehr als drei Jahre bis zu den Präsidentschafts­wahlen sind.

Dazu gibt es zwei Lesarten: Die geopoli­tische Lesart verweist auf die sicherheits­politische Aufwertung der Türkei durch den Dissens zwischen den USA und der EU, auf ihre Rolle im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und ihren Einfluss in Syrien. Präsi­dent Erdoğan habe sich darauf verlassen, dass die US-Regierung und die EU auf die Unterdrückung der Opposition durch die Justiz zurückhaltend reagieren würden.

Die innenpolitische Lesart sieht den Kon­frontationskurs gegen die Opposition in der Machterosion begründet, der sich Erdo­ğan und seine Regierung ausgesetzt sehen. Tat­sächlich lag der türkische Staatspräsident in den Umfragen Anfang März deut­lich hinter İmamoğlu und Mansur Yavaş, dem CHP-Bürgermeister von Ankara, und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) ist nicht mehr die stärkste Kraft in der Türkei. Dies legt nahe, das Justizverfahren gegen den İstanbuler Bür­germeister als Versuch zu interpretieren, die CHP und die DEM-Par­tei zu spalten, die Opposition zu schwächen. Die massive Poli­zeipräsenz und die Ein­schrän­kung der Ver­sammlungsfreiheit in İstanbul (und teil­weise auch in weiteren Städ­ten) verstärken den Eindruck, dass es sich um einen gezielten Einschüchterungs­versuch handelt.

Um die Motive hinter Erdoğans Strategie umfassend zu verstehen, ist es erforderlich, die ökonomischen Hintergründe seines Vor­gehens gegen die Opposition zu analysie­ren. Eine rein machtpolitische Betrachtung greift zu kurz; vielmehr muss diese durch eine ökonomische Perspektive ergänzt wer­den, die die wirtschaftlichen Interessen und Zwänge berücksichtigt, die Erdoğans Hand­lungen beeinflussen.

Die wirtschaftliche Bedeutung der CHP-geführten Kommunen

Mit den Kommunalwahlen 2024 ist die CHP landesweit zur stärksten politischen Kraft und zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. Die Partei regiert seit einem Jahr 14 Groß­städte, 21 Provinzhauptstädte, 337 Bezirke und 61 Ortschaften. In diesen CHP-geführ­ten Kommunen leben 62 Prozent der Bevöl­kerung, hier werden 73,4 Prozent des Brutto­inlandsprodukts erwirtschaftet und 84,5 Pro­zent aller Spareinlagen gehalten, nicht zuletzt sind sie für 79,6 Prozent des türki­schen Gesamtexports verantwortlich. Das Pro-Kopf-Einkommen der CHP-regierten Kommunen übertrifft dasjenige der AKP-regier­ten Kommunen.

Dies hat der CHP einen strategischen Vor­teil verschafft, der sie in die Lage ver­setzt hat, entscheidenden Einfluss auf den Wirtschaftskreislauf zu nehmen und eine alternative Sphäre der Macht zu errichten. Die CHP-geführten Gemeinden können Infrastruktur­projekte von erheblichem Wert in Auftrag geben und sind so zu Auf­traggebern für Unternehmen geworden, außerdem zu Großkunden im Großhandel und zu Arbeit­gebern für mehrere Hundert­tausend Be­schäf­tigte. Das hat dazu geführt, dass Unter­nehmer, Baufirmen etc. nicht mehr nur auf Aufträge der Zentralregierung an­gewiesen sind, wodurch sie wiederum gegenüber Prä­sident Erdoğan und seiner Regierung selbst­bewusster auftreten kön­nen. In einigen Fällen haben sich Unter­nehmer bereits teil­weise vom Präsidenten und seiner Regie­rung abgewandt. Besonders relevant ist diese neue wirtschaftliche Macht der CHP insofern, als die hohen Kredit­zinsen seit fast zwei Jahren Investitio­nen und Aufträge im Bausektor bremsen.

Die wirtschaftliche Bedeutung der Groß­stadtkommune İstanbul ist kaum zu über­schätzen. Von 1995 bis 2019 betrugen die Einnahmen, die die AKP-geführte Groß­stadt­kommune İstanbul aus 130 Groß­pro­jekten durch verschiedene Bebauungspläne er­zielte, insgesamt 85 Milliarden Dol­lar. Der Verlust İstanbuls 2019 bedeutete für die AKP den Wegfall eines zentralen wirt­schaftlichen Hebels und einer finanziell entschei­denden ›Lebensader‹, deren Fehlen auch heute, in Zei­ten finanzieller Engpässe, deut­lich zu spüren ist. Dies erklärt die Entschlossenheit der Regierung Erdoğan, die Metropole durch juristische Maßnah­men zurück­zuerobern und sie gegebenen­falls mittels Zwangs­verwaltung wieder unter ihre Kon­trolle zu bringen.

Die von der CHP regierten Kommunen – allen voran İstanbul und Ankara – haben sich durch eine soziale Kommunalpolitik profiliert. Sie begegnen den steigenden Lebenshaltungskosten und der Armut mit ver­schie­denen Maßnahmen, haben Trans­fer­leistungen realisiert, vergeben Stipen­dien für Stu­dierende und haben Studenten­wohn­heime gebaut. Große Bedeutung kommt den gemein­nützigen Stadt­restau­rants (Kent Lokantaları) zu, die von den CHP-geführten Kommunen subven­tioniert wer­den und einkommensschwache Bevölke­rungsteile entlasten. Ein gutes Bei­spiel für das Unbehagen der Zentralregierung gegen­über diesen Stadtrestaurants ist das Ermitt­lungsverfahren, das das Handels­ministe­rium gegen den Gastrokritiker Vedat Milor wegen ›versteckter Werbung‹ eingeleitet hat: Milor hatte im Januar 2025 eines dieser Restaurants in Üsküdar (İstan­bul) besucht und seine kulinarischen Ein­drücke auf seinem YouTube-Kanal geteilt.

Der CHP ist es gelungen, durch eine soziale Kommunalpolitik in den von ihr regierten Kommunen, insbesondere in der Großstadtkommune İstanbul, den Alltag breiter Wählerschich­ten zu verbessern und sich als potenzielle Regierungspartei zu empfehlen. Diese Poli­tik bildet zudem ein Gegenmodell zur Wirtschaftspolitik der Regierung Erdoğan, die auf hohe Zinsen, Kaufkraftminderung und Kürzungen bei Sozialleistungen setzt. Angesichts der lan­des­weit herr­schenden Frustration über die wirtschaft­liche Misere – hohe Infla­tion, Kaufkraftverlust, Armut und Zukunfts­ängste aufgrund prekärer Verhältnisse – untergräbt die Kommunalpolitik der CHP das Ansehen der Regie­rung Erdoğan.

Der Preis der Instabilität

Das Vorgehen der Regierung gegen die Op­po­sition birgt indes Risiken für die Wirt­schaft. Unmittelbar nach der Festnahme İma­moğlus und der weiteren Personen aus seinem Um­feld ist die Börsenkapitalisie­rung der Unter­nehmen um rund 1,9 Billio­nen tür­kische Lira gesunken. Es kam zu einer Beschleunigung des Kapitalabflusses und zu einer Um­schichtung von inländi­schen Anlagen in ausländische Währungen. Der Benchmark-Zinssatz ist von 37,1 auf 44,6 Pro­zent gestiegen, wodurch sich die Kredit­kosten des Staates um 7,5 Pro­zent­punkte erhöhten. Die Risiko­prämie der Türkei (CDS-Prämie) erlebte einen Anstieg von 250 auf 383 Basispunkte, womit sich die Kosten für Auslandskredite erheblich verteuerten.

Die türkische Zentralbank (CBRT) musste Devisen an den Markt verkaufen, um einen drastischen Anstieg des Wechselkurses zu verhindern; dadurch sind ihre Reserven um fast 25 Milliarden Dollar gesunken. Der Bankensektor hat etwa 25 Prozent seines Wertes verloren. Der geldpolitische Aus­schuss der CBRT hielt eine Sondersitzung ab, um die Erosion der Reserven zu stop­pen, und musste den Tagesgeldsatz von 44 auf 46 Prozent anheben. Darüber hinaus steht zu erwarten, dass die jüngsten Ent­wicklungen negative Aus­wirkungen auf die Beurteilungen der Rating-Agenturen haben werden, die die Kredit- und Investitions­würdigkeit der Tür­kei bewerten.

Aus diesen wirtschaftlichen Fol­gen von Verhaftungen und Straßenprotesten lässt sich ableiten, dass die Wirtschaft ein ent­scheidender Bremsfaktor gegen eine weitere Eskalation und Autokratisierung seitens der Regierung Erdoğan sein könnte.

Wie weiter mit der Türkei?

Läuten die Straßenproteste und der Wider­stand der CHP das Ende der Ära Erdoğan ein, oder sind sie eine Unterbrechung auf dem Weg zur vollständigen Autokratie? Mehrere Szenarien – nicht als Prognosen, sondern als Möglichkeiten der weiteren politischen Entwicklung – lassen sich hier­zu entwerfen. Drei von ihnen werden im Folgenden näher beleuchtet.

Drei Szenarien

Konsolidierung der Autokratie: Die Stra­ßenproteste ebben ab, die EU und die USA halten sich mit Kritik zurück, İmamoğlu wird wegen Korruption und Terror­unter­stützung verurteilt und mit einem Politik­verbot belegt. Erdoğan und seine Regierung sichern ihre Macht und setzen ihren repres­siven Kurs fort. Die Opposition zersplittert, verliert an Handlungsfähigkeit, und das Par­­lament wird zu einem – aus Sicht der Re­gie­rung – politisch günstigen Zeitpunkt auf­gelöst. Aus den anschließenden vor­ge­zo­ge­nen Neuwahlen gehen Erdoğan und seine Volksallianz als Sieger hervor und festigen das autokratische Regime.

Durch die Konsolidierung der Autokratie gerät die Wirtschaft in Instabilität. Die Türkei ist auf ausländische Direktinvestitio­nen und Kapitalzuflüsse angewiesen, um das Wachs­tum anzukurbeln. Ein politisches Klima, in dem ein gewählter Bürgermeister unter faden­scheinigen Anschuldigungen inhaf­tiert wird und fast täglich bekannte Per­sön­lichkeiten – von Schauspielern über Jour­nalisten bis hin zu einflussreichen Wirt­schaftsführern – verhaftet werden, schafft jedoch ein ungünstiges Investitionsumfeld. Die folgende Stagnation der Wirt­schaft wirkt sich negativ auf deutsche und euro­päische Exporte in die Türkei aus und ver­ursacht wei­tere Migration aus der Türkei in die EU, vor allem nach Deutschland.

Auseinanderfallen des Regierungs­blocks: Die inneren Spannungen innerhalb der AKP und der Volksallianz, die inter­natio­nale Kritik – insbesondere die un­nachgie­bige Haltung der EU – sowie die anhal­tende Unzufriedenheit der Bevölke­rung und der Unternehmerwelt mit der politischen und wirtschaftlichen Lage füh­ren dazu, dass die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) Erdoğan und der AKP ihre Unterstützung entzieht. Es kommt zu einem parlamenta­ri­schen Schulterschluss zwischen der CHP, der MHP, der DEM-Partei und anderen opposi­tionellen Kräften, die eine Zweidrittel­mehrheit errei­chen und das Parlament auf­lösen. Dies ebnet den Weg für Parlaments- und Präsi­dent­schaftswahlen. Entweder İmamoğlu oder ein anderer Konsens­kandi­dat tritt für das Präsidentenamt an und setzt sich gegen Erdoğan durch. Ein Bünd­nis aus Parteien, die unterschiedlicher kaum sein könnten, würde einen geordneten Über­gang oder eine Demokratisierung indes kaum ermög­lichen. Vielmehr könnte es eine Ära der Instabilität einleiten.

Einigung auf vorgezogene Wahlen: Erdoğan fürchtet die wirtschaftlichen Folgen einer weiteren Eskalation und gibt dem Druck der Straße, dem Widerstand der Opposition sowie der Kritik der EU nach. Das Strafverfahren gegen İmamoğlu und dessen Untersuchungshaft setzt er nun als strategisches Druckmittel gegenüber der CHP-Führung ein. Vor diesem Hintergrund kommen beide Seiten in Verhandlungen überein, vorgezogene Neuwahlen abzu­halten. Im Rahmen dieses Kompromisses wird İmamoğlu aus der Untersuchungshaft ent­lassen und das Strafverfahren gegen ihn eingestellt, sofern die CHP der Auflösung des Parlaments und der Durchführung von Neuwahlen zustimmt. Dieser Schritt könnte eine stabilere politische Übergangsphase einleiten, die es der Türkei ermöglichte, ein neues Wahlsystem einzuführen und sich unter einem neuen Präsidenten sowie einer von der CHP geleiteten Allianz politisch neu auszurichten. Ein geordneter Macht­wechsel, begleitet von wirtschaftlicher und politischer Stabilität, böte zudem die Gele­gen­heit, die Beziehungen zwischen der EU und der Tür­kei neu zu gestalten, was die geopolitische Position der EU stärken könnte.

Alle drei Szenarien sind denkbar. Ob eines von ihnen sich realisiert und wenn ja, welches, hängt von der innenpolitischen Dynamik in der Türkei und den inter­natio­na­len Reaktionen und Entwicklungen ab. Entscheidend wird sein, ob die Straßen­proteste – diszipliniert – anhalten und es der CHP gelingt, den Druck auf die Regie­rung Erdoğan zu erhöhen, ein breites Oppositionsbündnis aufrechtzuerhalten und die Zivilgesellschaft sowie die Gewerk­schaften und Unternehmerverbände für sich zu gewinnen. Ob die EU geschlossen auftritt oder nicht, spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Das Zusammenspiel von inner­gesell­schaftlichem und internatio­nalem Druck könnte die türkische Regie­rung zwingen, ihren repressiven auto­kratischen Kurs zu überdenken, um geo-, außen- und handelspolitische Ziele zu erreichen.

Deutschland und die EU verfügen über sicherheitspolitische und wirtschaftliche Handlungsoptionen, um konstruktiv auf die Türkei einzuwirken.

Handlungsmöglichkeiten der EU und Deutschlands

Das Szenario ›Konsolidierung der Auto­kratie‹ ist weder im Interesse der EU noch dem­jenigen Deutschlands, da eine weitere Auto­kratisierung die Türkei in eine poli­tisch-wirt­schaft­liche Schieflage bringen würde. In diesem Fall wäre die Türkei nicht mehr in der Lage, ihre regionalen Aufgaben effek­tiv wahrzunehmen, zum Beispiel die Ein­dämmung von Migrationsbewegungen, die Abschreckung Russlands und die Stabi­lisierung Syriens. Auch das Szenario ›Aus­ein­anderfallen des Regierungsblocks‹ ist nicht wünschenswert, da es zu politischer Instabi­lität führen könnte, die die Hand­lungs­­fähigkeit der Türkei ebenfalls ein­schrän­ken würde. Beide Entwicklungen wür­den die geopolitische Rolle der Türkei schwächen und die stra­tegischen Interessen der EU und Deutschlands in der Region gefährden.

Das Szenario ›Einigung auf vorgezogene Wahlen‹ entspräche den europäischen und deutschen Interessen, da es eine Möglich­keit zur politischen Stabilisierung der Tür­kei und einer Neuausrichtung der Beziehungen zur EU bieten würde. Allerdings bleibt frag­lich, ob sich die EU während der Wahl­kampf­phase auf eine gemeinsame Linie einigen könnte und eine kritische Hal­tung gegenüber Erdoğan beibehalten würde, da die Mitgliedstaaten unterschied­liche Inter­essen und Ansätze in Bezug auf die Türkei verfolgen.

Bisher gab es kaum Kritik aus den USA, und auch die Reaktionen aus den EU-Gre­mien und Deutschland sind eher zurück­haltend geblieben. In Deutschland stehen zwei Vorgehensweisen zur Debatte: Zum einen wird vor einer engeren sicherheits­politischen Zusammenarbeit mit der Türkei unter der derzeitigen Regierung gewarnt. Demgegenüber wird empfohlen, statt den Dialog abzubrechen, mit stiller Diplomatie auf die Regierung Erdoğan einzuwirken und von ihr die Einhaltung rechtsstaat­licher und demokratischer Prinzipien ein­zufordern. Letzteres basiert auf der Ein­schätzung, dass die EU auf eine stabile Tür­kei angewiesen ist – einerseits als wich­tiger Nato-Partner, besonders zur Abschre­ckung Russlands, andererseits als Puffer zur Eindämmung von Migrationsbewegungen nach Europa.

Diese Perspektive ist nachvollziehbar, übersieht aber einen wesentlichen Aspekt: Die Türkei braucht ihrerseits in der gegen­wärti­gen geopolitischen Lage weiterhin den Schutzschirm der Nato und die EU als Absatz­markt und Wirtschaftspartner, um ihre nationale Sicherheit zu gewährleisten und ihre Wirtschaft auf Wachstumskurs zu halten. Dies wird da­durch unterstrichen, dass die Türkei sich aktiv um eine Schlüssel­­rolle in der euro­päischen Sicher­heitsarchi­tektur bemüht. Ähnliches gilt für die türki­sche Rüstungs­industrie: Trotz technologi­scher Fortschritte ist die Türkei in vielen Bereichen nach wie vor von der EU ab­hän­gig. Eine vollständige Los­lösung von dieser Ab­hängigkeit durch Kooperationen mit ande­ren Staaten oder Staatengruppen ist unrea­listisch. Eine nach­haltige Entwicklung der türkischen Rüs­tungs­industrie erfordert weiterhin eine enge Zusammenarbeit mit den EU-Staaten.

Vor diesem Hintergrund könnten Deutsch­land und die EU auf die Türkei einwirken, indem sie die Intensivierung der sicher­heits­politischen Zusammenarbeit, eine stärkere Einbindung in die europä­ische Sicherheits­architektur sowie die För­derung zusätz­licher Rüstungs­kooperatio­nen an folgende Bedingung knüpfen: Die Türkei muss zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehren, die Auto­kratisierung stoppen und die Menschen­rechte respektieren.

Ein weiterer wichtiger Hebel wären Ge­spräche über die Modernisierung der Zoll­union und über Visaerleichterungen. Beide Maßnahmen sind für die Türkei von großer Bedeutung, um das Investitionsklima zu ver­bessern. Die tür­kische Wirtschaft ist stark mit derjenigen der EU ver­flochten, und eine Wie­derbele­bung der wirtschaftlichen Dyna­mik hängt in hohem Maße von der Vertie­fung dieser wirtschaftlichen Verflech­tun­gen ab. Die Türkei und ihre Industrie verfolgen das Ziel einer stärkeren Integration in die europäischen Lieferketten. Driftet das Land jedoch in Richtung Autokratie ab, würde das seine Chancen, vom Reshoring zu profi­tieren, deutlich verringern. Damit wäre ein bedeutender wirtschaftlicher Anreiz ge­geben, den auto­kratischen Kurs zu über­denken. Die EU und Deutschland könnten hier ansetzen, um die tür­kische Regierung vor einer Fortsetzung des autokratischen Kurses zu warnen.

Der künftigen Bundesregierung stünde noch die Maßnahme zur Verfügung, die Exportgarantien für Türkei-Geschäfte deut­scher Unternehmen zu begrenzen, wie sie es bereits 2018 getan hat. Diese Maßnahme führte damals zum Einlenken der türki­schen Regierung, die deutsche Staatsbürger, darunter Unternehmer und Menschen­rechts­aktivisten, inhaftiert und deutsche Unter­nehmen auf eine ›Terrorliste‹ gesetzt hatte.

Die Türkei steht vor entscheidenden poli­tischen Weichenstellungen, die nicht nur ihre eigene Zukunft, sondern auch die geo­politische Stabilität der Region und das Ver­hältnis zur EU und zu Deutschland betref­fen. Es liegt daher im Interesse der EU und Deutschlands, ein klares Signal an Ankara zu senden, dass eine strategische Partner­schaft mit einer autokratischen Türkei nicht akzeptabel ist. Dabei gibt es Hebel, die einen vollständigen Abbruch der Bezie­hun­gen vermeiden, aber dennoch eine klare politische Botschaft vermitteln.

Dr. Yaşar Aydın ist Wissenschaftler am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) an der SWP.

Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.

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