Die Türkei droht, in die Autokratie abzugleiten – auch wenn der Widerstand der Oppositionspartei CHP infolge der Verhaftung Ekrem İmamoğlus vorerst verhindert hat, dass die Partei einem Treuhänder unterstellt und die Großstadtkommune İstanbul unter Zwangsverwaltung gestellt wird. Eine vollständige Autokratisierung der Türkei kann nur dann verhindert werden, wenn der Widerstand der Opposition auf breite und beständige Unterstützung in der Bevölkerung trifft, politische Instabilität das Wirtschaftswachstum gefährdet und die Europäische Union (EU) geschlossen reagiert. Es liegt nicht im Interesse der EU und Deutschlands, dass die Türkei durch weitere Autokratisierung politisch-wirtschaftlich in Schieflage gerät; denn dann könnte sie ihre regionalen Aufgaben – Eindämmung von Migrationsbewegungen, Abschreckung Russlands, Stabilisierung Syriens – nicht effektiv wahrnehmen. Die EU kann konstruktiv auf die Türkei einwirken, indem sie ihr Gespräche über die Modernisierung der Zollunion und über Visaerleichterungen in Aussicht stellt und ihr eine größere Mitsprache in der europäischen Sicherheitsarchitektur anbietet – geknüpft an die Bedingung, dass die Regierung die Spielregeln der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einhält.
Am 19. März 2025 wurden der İstanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu und 99 weitere Personen aus seinem Umfeld in einem großen Polizeieinsatz festgenommen. İmamoğlu hätte zunächst zu einer Vernehmung vorgeladen werden müssen, was jedoch nicht geschah, sodass die formelle Rechtmäßigkeit des Ermittlungsverfahrens angezweifelt werden kann. Die gezielte Denunziation durch Kampagnen in regierungsnahen (sozialen) Medien gegen İmamoğlu und die Republikanische Volkspartei (CHP) sowie die Aberkennung seines Hochschulabschlusses aus dem Jahr 1994 lassen den Verdacht aufkommen, dass das Strafverfahren politisch motiviert ist. Erhärtet wird dieser Verdacht dadurch, dass Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan sich in die Ermittlungen einmischt.
İmamoğlu wird vorgeworfen, öffentliche Ausschreibungen manipuliert, illegale Finanztransaktionen durchgeführt und personenbezogene Daten der Bewohner İstanbuls unrechtmäßig genutzt zu haben. Der Vorwurf der ›Terrorunterstützung‹ bezieht sich auf die von der prokurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM) und der CHP bei den Kommunalwahlen 2024 verfolgte Strategie des ›Stadtkonsenses‹. Dabei verzichtete die DEM-Partei in westtürkischen Städten auf eigene Kandidaten und unterstützte stattdessen die CHP.
Gründe für das Vorgehen gegen die Opposition und seine Folgen
Das Vorgehen gegen die Opposition in der Türkei reiht sich ein in eine Serie juristischer Operationen: Seit İstanbul letztes Jahr einen neuen Oberstaatsanwalt erhalten hat, wurden bereits drei CHP-Bezirksbürgermeister verhaftet. Im vergangenen Monat kam es zu Festnahmen von Kommunalpolitikern der CHP und der DEM-Partei, von denen die meisten medienwirksam umgesetzt wurden. Aufsehen erregte die polizeiliche Vorführung der beiden Spitzenvertreter des Unternehmerverbandes TÜSİAD, nachdem sie die Instrumentalisierung der Justiz als politische Waffe kritisiert hatten.
Doch der Widerstand der CHP lässt diese Strategie zum Bumerang für Staatspräsident Erdoğan werden. Nach der Verhaftung İmamoğlus gingen in İstanbul, Ankara, İzmir und zahlreichen weiteren Provinzen Hunderttausende auf die Straße. Die Proteste weiteten sich aus und haben sich zunehmend zu einem breiten Widerstand gegen Erdoğan entwickelt.
Folgt die Regierung einer Macht- oder einer Wirtschaftslogik?
Die Verhaftungen und die Protestwelle gingen und gehen auch an der Wirtschaft nicht spurlos vorbei. Die Börse ist dramatisch abgestürzt, die türkische Lira hat massiv an Wert verloren und Milliarden von Devisen wurden in den Markt gepumpt, um die Stabilität der Landeswährung zu sichern. Da stellt sich die Frage, warum Erdoğan es zugelassen hat, dass Ermittlungs- und Strafverfahren gegen İmamoğlu und andere CHP-Bürgermeister eingeleitet wurden, obwohl es noch mehr als drei Jahre bis zu den Präsidentschaftswahlen sind.
Dazu gibt es zwei Lesarten: Die geopolitische Lesart verweist auf die sicherheitspolitische Aufwertung der Türkei durch den Dissens zwischen den USA und der EU, auf ihre Rolle im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und ihren Einfluss in Syrien. Präsident Erdoğan habe sich darauf verlassen, dass die US-Regierung und die EU auf die Unterdrückung der Opposition durch die Justiz zurückhaltend reagieren würden.
Die innenpolitische Lesart sieht den Konfrontationskurs gegen die Opposition in der Machterosion begründet, der sich Erdoğan und seine Regierung ausgesetzt sehen. Tatsächlich lag der türkische Staatspräsident in den Umfragen Anfang März deutlich hinter İmamoğlu und Mansur Yavaş, dem CHP-Bürgermeister von Ankara, und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) ist nicht mehr die stärkste Kraft in der Türkei. Dies legt nahe, das Justizverfahren gegen den İstanbuler Bürgermeister als Versuch zu interpretieren, die CHP und die DEM-Partei zu spalten, die Opposition zu schwächen. Die massive Polizeipräsenz und die Einschränkung der Versammlungsfreiheit in İstanbul (und teilweise auch in weiteren Städten) verstärken den Eindruck, dass es sich um einen gezielten Einschüchterungsversuch handelt.
Um die Motive hinter Erdoğans Strategie umfassend zu verstehen, ist es erforderlich, die ökonomischen Hintergründe seines Vorgehens gegen die Opposition zu analysieren. Eine rein machtpolitische Betrachtung greift zu kurz; vielmehr muss diese durch eine ökonomische Perspektive ergänzt werden, die die wirtschaftlichen Interessen und Zwänge berücksichtigt, die Erdoğans Handlungen beeinflussen.
Die wirtschaftliche Bedeutung der CHP-geführten Kommunen
Mit den Kommunalwahlen 2024 ist die CHP landesweit zur stärksten politischen Kraft und zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. Die Partei regiert seit einem Jahr 14 Großstädte, 21 Provinzhauptstädte, 337 Bezirke und 61 Ortschaften. In diesen CHP-geführten Kommunen leben 62 Prozent der Bevölkerung, hier werden 73,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet und 84,5 Prozent aller Spareinlagen gehalten, nicht zuletzt sind sie für 79,6 Prozent des türkischen Gesamtexports verantwortlich. Das Pro-Kopf-Einkommen der CHP-regierten Kommunen übertrifft dasjenige der AKP-regierten Kommunen.
Dies hat der CHP einen strategischen Vorteil verschafft, der sie in die Lage versetzt hat, entscheidenden Einfluss auf den Wirtschaftskreislauf zu nehmen und eine alternative Sphäre der Macht zu errichten. Die CHP-geführten Gemeinden können Infrastrukturprojekte von erheblichem Wert in Auftrag geben und sind so zu Auftraggebern für Unternehmen geworden, außerdem zu Großkunden im Großhandel und zu Arbeitgebern für mehrere Hunderttausend Beschäftigte. Das hat dazu geführt, dass Unternehmer, Baufirmen etc. nicht mehr nur auf Aufträge der Zentralregierung angewiesen sind, wodurch sie wiederum gegenüber Präsident Erdoğan und seiner Regierung selbstbewusster auftreten können. In einigen Fällen haben sich Unternehmer bereits teilweise vom Präsidenten und seiner Regierung abgewandt. Besonders relevant ist diese neue wirtschaftliche Macht der CHP insofern, als die hohen Kreditzinsen seit fast zwei Jahren Investitionen und Aufträge im Bausektor bremsen.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Großstadtkommune İstanbul ist kaum zu überschätzen. Von 1995 bis 2019 betrugen die Einnahmen, die die AKP-geführte Großstadtkommune İstanbul aus 130 Großprojekten durch verschiedene Bebauungspläne erzielte, insgesamt 85 Milliarden Dollar. Der Verlust İstanbuls 2019 bedeutete für die AKP den Wegfall eines zentralen wirtschaftlichen Hebels und einer finanziell entscheidenden ›Lebensader‹, deren Fehlen auch heute, in Zeiten finanzieller Engpässe, deutlich zu spüren ist. Dies erklärt die Entschlossenheit der Regierung Erdoğan, die Metropole durch juristische Maßnahmen zurückzuerobern und sie gegebenenfalls mittels Zwangsverwaltung wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.
Die von der CHP regierten Kommunen – allen voran İstanbul und Ankara – haben sich durch eine soziale Kommunalpolitik profiliert. Sie begegnen den steigenden Lebenshaltungskosten und der Armut mit verschiedenen Maßnahmen, haben Transferleistungen realisiert, vergeben Stipendien für Studierende und haben Studentenwohnheime gebaut. Große Bedeutung kommt den gemeinnützigen Stadtrestaurants (Kent Lokantaları) zu, die von den CHP-geführten Kommunen subventioniert werden und einkommensschwache Bevölkerungsteile entlasten. Ein gutes Beispiel für das Unbehagen der Zentralregierung gegenüber diesen Stadtrestaurants ist das Ermittlungsverfahren, das das Handelsministerium gegen den Gastrokritiker Vedat Milor wegen ›versteckter Werbung‹ eingeleitet hat: Milor hatte im Januar 2025 eines dieser Restaurants in Üsküdar (İstanbul) besucht und seine kulinarischen Eindrücke auf seinem YouTube-Kanal geteilt.
Der CHP ist es gelungen, durch eine soziale Kommunalpolitik in den von ihr regierten Kommunen, insbesondere in der Großstadtkommune İstanbul, den Alltag breiter Wählerschichten zu verbessern und sich als potenzielle Regierungspartei zu empfehlen. Diese Politik bildet zudem ein Gegenmodell zur Wirtschaftspolitik der Regierung Erdoğan, die auf hohe Zinsen, Kaufkraftminderung und Kürzungen bei Sozialleistungen setzt. Angesichts der landesweit herrschenden Frustration über die wirtschaftliche Misere – hohe Inflation, Kaufkraftverlust, Armut und Zukunftsängste aufgrund prekärer Verhältnisse – untergräbt die Kommunalpolitik der CHP das Ansehen der Regierung Erdoğan.
Der Preis der Instabilität
Das Vorgehen der Regierung gegen die Opposition birgt indes Risiken für die Wirtschaft. Unmittelbar nach der Festnahme İmamoğlus und der weiteren Personen aus seinem Umfeld ist die Börsenkapitalisierung der Unternehmen um rund 1,9 Billionen türkische Lira gesunken. Es kam zu einer Beschleunigung des Kapitalabflusses und zu einer Umschichtung von inländischen Anlagen in ausländische Währungen. Der Benchmark-Zinssatz ist von 37,1 auf 44,6 Prozent gestiegen, wodurch sich die Kreditkosten des Staates um 7,5 Prozentpunkte erhöhten. Die Risikoprämie der Türkei (CDS-Prämie) erlebte einen Anstieg von 250 auf 383 Basispunkte, womit sich die Kosten für Auslandskredite erheblich verteuerten.
Die türkische Zentralbank (CBRT) musste Devisen an den Markt verkaufen, um einen drastischen Anstieg des Wechselkurses zu verhindern; dadurch sind ihre Reserven um fast 25 Milliarden Dollar gesunken. Der Bankensektor hat etwa 25 Prozent seines Wertes verloren. Der geldpolitische Ausschuss der CBRT hielt eine Sondersitzung ab, um die Erosion der Reserven zu stoppen, und musste den Tagesgeldsatz von 44 auf 46 Prozent anheben. Darüber hinaus steht zu erwarten, dass die jüngsten Entwicklungen negative Auswirkungen auf die Beurteilungen der Rating-Agenturen haben werden, die die Kredit- und Investitionswürdigkeit der Türkei bewerten.
Aus diesen wirtschaftlichen Folgen von Verhaftungen und Straßenprotesten lässt sich ableiten, dass die Wirtschaft ein entscheidender Bremsfaktor gegen eine weitere Eskalation und Autokratisierung seitens der Regierung Erdoğan sein könnte.
Wie weiter mit der Türkei?
Läuten die Straßenproteste und der Widerstand der CHP das Ende der Ära Erdoğan ein, oder sind sie eine Unterbrechung auf dem Weg zur vollständigen Autokratie? Mehrere Szenarien – nicht als Prognosen, sondern als Möglichkeiten der weiteren politischen Entwicklung – lassen sich hierzu entwerfen. Drei von ihnen werden im Folgenden näher beleuchtet.
Drei Szenarien
Konsolidierung der Autokratie: Die Straßenproteste ebben ab, die EU und die USA halten sich mit Kritik zurück, İmamoğlu wird wegen Korruption und Terrorunterstützung verurteilt und mit einem Politikverbot belegt. Erdoğan und seine Regierung sichern ihre Macht und setzen ihren repressiven Kurs fort. Die Opposition zersplittert, verliert an Handlungsfähigkeit, und das Parlament wird zu einem – aus Sicht der Regierung – politisch günstigen Zeitpunkt aufgelöst. Aus den anschließenden vorgezogenen Neuwahlen gehen Erdoğan und seine Volksallianz als Sieger hervor und festigen das autokratische Regime.
Durch die Konsolidierung der Autokratie gerät die Wirtschaft in Instabilität. Die Türkei ist auf ausländische Direktinvestitionen und Kapitalzuflüsse angewiesen, um das Wachstum anzukurbeln. Ein politisches Klima, in dem ein gewählter Bürgermeister unter fadenscheinigen Anschuldigungen inhaftiert wird und fast täglich bekannte Persönlichkeiten – von Schauspielern über Journalisten bis hin zu einflussreichen Wirtschaftsführern – verhaftet werden, schafft jedoch ein ungünstiges Investitionsumfeld. Die folgende Stagnation der Wirtschaft wirkt sich negativ auf deutsche und europäische Exporte in die Türkei aus und verursacht weitere Migration aus der Türkei in die EU, vor allem nach Deutschland.
Auseinanderfallen des Regierungsblocks: Die inneren Spannungen innerhalb der AKP und der Volksallianz, die internationale Kritik – insbesondere die unnachgiebige Haltung der EU – sowie die anhaltende Unzufriedenheit der Bevölkerung und der Unternehmerwelt mit der politischen und wirtschaftlichen Lage führen dazu, dass die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) Erdoğan und der AKP ihre Unterstützung entzieht. Es kommt zu einem parlamentarischen Schulterschluss zwischen der CHP, der MHP, der DEM-Partei und anderen oppositionellen Kräften, die eine Zweidrittelmehrheit erreichen und das Parlament auflösen. Dies ebnet den Weg für Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Entweder İmamoğlu oder ein anderer Konsenskandidat tritt für das Präsidentenamt an und setzt sich gegen Erdoğan durch. Ein Bündnis aus Parteien, die unterschiedlicher kaum sein könnten, würde einen geordneten Übergang oder eine Demokratisierung indes kaum ermöglichen. Vielmehr könnte es eine Ära der Instabilität einleiten.
Einigung auf vorgezogene Wahlen: Erdoğan fürchtet die wirtschaftlichen Folgen einer weiteren Eskalation und gibt dem Druck der Straße, dem Widerstand der Opposition sowie der Kritik der EU nach. Das Strafverfahren gegen İmamoğlu und dessen Untersuchungshaft setzt er nun als strategisches Druckmittel gegenüber der CHP-Führung ein. Vor diesem Hintergrund kommen beide Seiten in Verhandlungen überein, vorgezogene Neuwahlen abzuhalten. Im Rahmen dieses Kompromisses wird İmamoğlu aus der Untersuchungshaft entlassen und das Strafverfahren gegen ihn eingestellt, sofern die CHP der Auflösung des Parlaments und der Durchführung von Neuwahlen zustimmt. Dieser Schritt könnte eine stabilere politische Übergangsphase einleiten, die es der Türkei ermöglichte, ein neues Wahlsystem einzuführen und sich unter einem neuen Präsidenten sowie einer von der CHP geleiteten Allianz politisch neu auszurichten. Ein geordneter Machtwechsel, begleitet von wirtschaftlicher und politischer Stabilität, böte zudem die Gelegenheit, die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei neu zu gestalten, was die geopolitische Position der EU stärken könnte.
Alle drei Szenarien sind denkbar. Ob eines von ihnen sich realisiert und wenn ja, welches, hängt von der innenpolitischen Dynamik in der Türkei und den internationalen Reaktionen und Entwicklungen ab. Entscheidend wird sein, ob die Straßenproteste – diszipliniert – anhalten und es der CHP gelingt, den Druck auf die Regierung Erdoğan zu erhöhen, ein breites Oppositionsbündnis aufrechtzuerhalten und die Zivilgesellschaft sowie die Gewerkschaften und Unternehmerverbände für sich zu gewinnen. Ob die EU geschlossen auftritt oder nicht, spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Das Zusammenspiel von innergesellschaftlichem und internationalem Druck könnte die türkische Regierung zwingen, ihren repressiven autokratischen Kurs zu überdenken, um geo-, außen- und handelspolitische Ziele zu erreichen.
Deutschland und die EU verfügen über sicherheitspolitische und wirtschaftliche Handlungsoptionen, um konstruktiv auf die Türkei einzuwirken.
Handlungsmöglichkeiten der EU und Deutschlands
Das Szenario ›Konsolidierung der Autokratie‹ ist weder im Interesse der EU noch demjenigen Deutschlands, da eine weitere Autokratisierung die Türkei in eine politisch-wirtschaftliche Schieflage bringen würde. In diesem Fall wäre die Türkei nicht mehr in der Lage, ihre regionalen Aufgaben effektiv wahrzunehmen, zum Beispiel die Eindämmung von Migrationsbewegungen, die Abschreckung Russlands und die Stabilisierung Syriens. Auch das Szenario ›Auseinanderfallen des Regierungsblocks‹ ist nicht wünschenswert, da es zu politischer Instabilität führen könnte, die die Handlungsfähigkeit der Türkei ebenfalls einschränken würde. Beide Entwicklungen würden die geopolitische Rolle der Türkei schwächen und die strategischen Interessen der EU und Deutschlands in der Region gefährden.
Das Szenario ›Einigung auf vorgezogene Wahlen‹ entspräche den europäischen und deutschen Interessen, da es eine Möglichkeit zur politischen Stabilisierung der Türkei und einer Neuausrichtung der Beziehungen zur EU bieten würde. Allerdings bleibt fraglich, ob sich die EU während der Wahlkampfphase auf eine gemeinsame Linie einigen könnte und eine kritische Haltung gegenüber Erdoğan beibehalten würde, da die Mitgliedstaaten unterschiedliche Interessen und Ansätze in Bezug auf die Türkei verfolgen.
Bisher gab es kaum Kritik aus den USA, und auch die Reaktionen aus den EU-Gremien und Deutschland sind eher zurückhaltend geblieben. In Deutschland stehen zwei Vorgehensweisen zur Debatte: Zum einen wird vor einer engeren sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit der Türkei unter der derzeitigen Regierung gewarnt. Demgegenüber wird empfohlen, statt den Dialog abzubrechen, mit stiller Diplomatie auf die Regierung Erdoğan einzuwirken und von ihr die Einhaltung rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien einzufordern. Letzteres basiert auf der Einschätzung, dass die EU auf eine stabile Türkei angewiesen ist – einerseits als wichtiger Nato-Partner, besonders zur Abschreckung Russlands, andererseits als Puffer zur Eindämmung von Migrationsbewegungen nach Europa.
Diese Perspektive ist nachvollziehbar, übersieht aber einen wesentlichen Aspekt: Die Türkei braucht ihrerseits in der gegenwärtigen geopolitischen Lage weiterhin den Schutzschirm der Nato und die EU als Absatzmarkt und Wirtschaftspartner, um ihre nationale Sicherheit zu gewährleisten und ihre Wirtschaft auf Wachstumskurs zu halten. Dies wird dadurch unterstrichen, dass die Türkei sich aktiv um eine Schlüsselrolle in der europäischen Sicherheitsarchitektur bemüht. Ähnliches gilt für die türkische Rüstungsindustrie: Trotz technologischer Fortschritte ist die Türkei in vielen Bereichen nach wie vor von der EU abhängig. Eine vollständige Loslösung von dieser Abhängigkeit durch Kooperationen mit anderen Staaten oder Staatengruppen ist unrealistisch. Eine nachhaltige Entwicklung der türkischen Rüstungsindustrie erfordert weiterhin eine enge Zusammenarbeit mit den EU-Staaten.
Vor diesem Hintergrund könnten Deutschland und die EU auf die Türkei einwirken, indem sie die Intensivierung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit, eine stärkere Einbindung in die europäische Sicherheitsarchitektur sowie die Förderung zusätzlicher Rüstungskooperationen an folgende Bedingung knüpfen: Die Türkei muss zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehren, die Autokratisierung stoppen und die Menschenrechte respektieren.
Ein weiterer wichtiger Hebel wären Gespräche über die Modernisierung der Zollunion und über Visaerleichterungen. Beide Maßnahmen sind für die Türkei von großer Bedeutung, um das Investitionsklima zu verbessern. Die türkische Wirtschaft ist stark mit derjenigen der EU verflochten, und eine Wiederbelebung der wirtschaftlichen Dynamik hängt in hohem Maße von der Vertiefung dieser wirtschaftlichen Verflechtungen ab. Die Türkei und ihre Industrie verfolgen das Ziel einer stärkeren Integration in die europäischen Lieferketten. Driftet das Land jedoch in Richtung Autokratie ab, würde das seine Chancen, vom Reshoring zu profitieren, deutlich verringern. Damit wäre ein bedeutender wirtschaftlicher Anreiz gegeben, den autokratischen Kurs zu überdenken. Die EU und Deutschland könnten hier ansetzen, um die türkische Regierung vor einer Fortsetzung des autokratischen Kurses zu warnen.
Der künftigen Bundesregierung stünde noch die Maßnahme zur Verfügung, die Exportgarantien für Türkei-Geschäfte deutscher Unternehmen zu begrenzen, wie sie es bereits 2018 getan hat. Diese Maßnahme führte damals zum Einlenken der türkischen Regierung, die deutsche Staatsbürger, darunter Unternehmer und Menschenrechtsaktivisten, inhaftiert und deutsche Unternehmen auf eine ›Terrorliste‹ gesetzt hatte.
Die Türkei steht vor entscheidenden politischen Weichenstellungen, die nicht nur ihre eigene Zukunft, sondern auch die geopolitische Stabilität der Region und das Verhältnis zur EU und zu Deutschland betreffen. Es liegt daher im Interesse der EU und Deutschlands, ein klares Signal an Ankara zu senden, dass eine strategische Partnerschaft mit einer autokratischen Türkei nicht akzeptabel ist. Dabei gibt es Hebel, die einen vollständigen Abbruch der Beziehungen vermeiden, aber dennoch eine klare politische Botschaft vermitteln.
Dr. Yaşar Aydın ist Wissenschaftler am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) an der SWP.
Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.

Dieses Werk ist lizenziert unter CC BY 4.0
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2025A17