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Die EU und Global Britain: So nah, so fern

Wie »Global Britain« nach dem Brexit außen- und sicherheitspolitisch eingebunden werden kann

SWP-Aktuell 2021/A 35, 26.04.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A35

Forschungsgebiete

Nach dem Brexit will das Vereinigte Königreich (VK) sich unter dem Leitmotiv »Global Britain« als eigenständige Führungsmacht mit globaler Reichweite positionieren. Das unterstreicht die Integrated Review vom 16. März 2021. Praktisch wird dieser Anspruch sichtbar in dem ambitionierten Programm für den dies­jährigen Vorsitz der G7 und der Klima­konfe­renz COP26 sowie erhöhten Verteidigungs­ausga­ben. Damit will London auch die neue US-Administration von seinem stra­te­gi­schen Wert überzeugen. Eine institutionalisierte Zu­sam­menarbeit mit der Europäischen Union (EU) in der Außen- und Sicherheits­politik lehnt die Regierung von Boris Johnson hin­gegen ab; stattdessen setzt sie auf flexible For­mate mit einzelnen EU-Staa­ten. Das stellt Deutsch­land vor einen Ziel­konflikt: Einer­seits will es London in euro­pä­ische Außen- und Sicherheitspolitik ein­binden, anderer­seits darf dies nicht auf Kosten der EU und europäischer Geschlos­sen­heit gehen. Angesichts der aktuell belasteten Bezie­hungen zwischen der EU und dem VK scheint eine institu­tio­na­lisierte Kooperation erst lang­fristig möglich. Mittel­fristig sollte der Fokus auf infor­mellen bi- und multi­lateralen Formaten liegen.

Nach dem Ende der Brexit-Übergangsphase hat sich das Vereinigte Königreich umfassend von der EU gelöst. Zwar konnte der vollständige Bruch in Form eines »No-Deal-Brexits« verhindert werden; das Ende Dezem­ber 2020 geschlossene Handels- und Koope­ra­tionsabkommen (HKA) besie­gelt aber eine harte Trennung zwischen der EU und Groß­britannien. Gleichzeitig spricht aus Sicht der EU vieles für eine enge Kooperation mit London in der Außen- und Sicherheitspolitik: die geographische Nähe, die gemein­sa­men Werte, Interessen und Her­ausforde­rungen, die Mitgliedschaft in der Nato und in anderen internationalen Orga­nisationen, die (noch) engen wirtschaft­lichen Verflechtungen sowie die kulturellen und persön­lichen Beziehungen. Eine große Herausforderung für die Bundesregierung besteht somit darin, London außen- und sicherheits­politisch in europäische Vor­haben ein­zu­binden, ohne dabei die EU zu beschädigen.

Selbstdarstellung als globale Führungsmacht

Schon die ehemalige Premier­ministerin Theresa May hatte als Narrativ der bri­tischen Außenpolitik nach dem Brexit »Global Britain« ausgerufen (vgl. SWP-Ak­tuell 29/2018). Boris Johnson will das VK nach vollzogenem Brexit als eigenständige glo­bale Führungsmacht be­haupten. Mit der Integrated Review of Security, Defence, Development and Foreign Policy (IR) hat seine Regie­rung nun ihre Vor­stellungen von »Global Britain« kon­kretisiert. Im Vor­dergrund stehen vier Aspekte: (1) eine akti­vere Nut­zung von Partnerschaften und Alli­anzen; (2) Groß­britanniens Rolle als energischer Ver­fechter des freien und offenen Handels; (3) eine eigenständige Außenpolitik, die For­schung und Entwicklung, Entwicklungszusammen­arbeit und »soft power« ver­bin­det, sowie (4) eine schlagkräftige Sicher­heits­politik mit glo­baler Reichweite.

Das Ambitionsniveau von »Global Britain« ist dabei (rhetorisch) hoch: Großbritannien sieht sich als »game changer nation«, »a force for good in the world« und »science and tech superpower«. Es möchte nach dem Brexit eigenständig in internatio­nalen Fragen ent­scheiden, zum Beispiel als Vorreiter gegen den Klimawandel, aber auch als Agenda­setter, etwa durch schnelle Sanktionen gegen Belarus im Sommer 2020.

Außenpolitische Vernetzung

Die erste Säule von »Global Britain« ist die weiterhin sehr gute außenpolitische Ver­netzung des VK. Zwar verliert London den direkten Zugang zur EU, nimmt also nicht mehr teil am regel­mäßigen Austausch der EU-Staats- und Regierungschefs, der Außen­ministerinnen und -minister und auf Arbeits­ebene. Im welt­weiten Vergleich hat Lon­don jedoch immer noch eine privilegierte Posi­tion: Es bleibt ständiges Mitglied im VN-Sicher­heitsrat (mit Vetorecht), Mitglied der G7 / G20, der OSZE, des Europa­rats und der Nato. International ver­fügt London über eines der größten diplo­matischen Netzwerke. Hinzu kommen die tra­di­tionell engen Be­zie­hungen zu den USA sowie im Rahmen der »Five Eyes« zu Kanada, Australien und Neuseeland.

Die offensichtlichsten Widersprüche in dem Kon­zept sind politischer Natur. So hat die Regie­rung Johnson ent­schie­den, den Haus­halt für Entwicklungszusammenarbeit von 0,7 auf 0,5 Prozent des BIP zu kürzen. Dies schwächt die in der IR betonte britische »soft­ power« und Verlässlichkeit in einem zentralen Bereich und steht dem Narrativ des umfassenden Engagements von »Global Britain« entgegen. Zudem will London laut der IR den Multilateralismus stärken, blen­det aber die EU als Partner aus. Doch viele der britischen Ziele werden eine Zusammen­arbeit nicht nur mit europäischen Staa­ten erfor­dern, son­dern auch mit der EU, etwa im Bereich Sank­tionen.

Eigenständiges Netzwerk an Handelsverträgen

Ein eigenes Netz­werk an globalen Handelsverträgen soll die zweite Säule bil­den. Aus Sicht von Boris Johnson war dieses einer der Hauptgründe für den ausgehandelten harten Brexit. Für seine Handelsverträge kann London zwar nicht mehr das Gewicht des EU-Binnenmarkts in die Waag­schale werfen; es ist aber überzeugt, als sechst­größte Volkswirtschaft der Welt Handels­verträge schließen zu können, die besser auf die britische Wirtschaft zugeschnitten sind. Gleichzeitig will London die Welt­handels­organisation und das multilaterale Handelssystem stärken.

In der Praxis hat die britische Regierung erfolgreich bestehende Handelsverträge der EU in eigene Abkommen übersetzt. Trotz nen­nenswerter Ausnahmen wie Mercosur decken sie aus britischer Perspektive circa 57 Prozent der eigenen Exporte (Stand 2019) ab: der Handels­vertrag mit der EU 46 Pro­zent, alle anderen neuen Abkommen, zum Beispiel mit Japan, Süd­korea oder Kanada, etwas mehr als 11 Prozent. Außerdem lau­fen Han­dels­verhandlungen unter anderem mit den USA, Indien und Australien sowie Gespräche über den Bei­tritt des VK zum Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP); bei Erfolg würden wei­tere 30 Prozent der bri­ti­schen Exporte ab­gedeckt. Vor allem ein CPTPP-Beitritt würde einen tatsächlichen Unter­schied zur EU dar­stellen und das sym­bolische militärische Engagement Groß­britanniens im Indo-Pazi­fik handelspolitisch ergänzen.

Diese guten Ergebnisse werden jedoch dadurch relativiert, dass die neuen Abkom­men mit wenigen Abweichungen eine Über­führung von Verträgen sind, die die EU aus­gehandelt hat, und selbst mit engen Part­nern wie Kanada nur provisorisch bis zur Vereinbarung von Folgeabkommen gelten. Zudem bleibt die EU mit Ab­stand Groß­britanniens wichtigster Handels­part­ner – und gerade die (Handels-)Beziehungen zur EU wer­den durch viele neue Handelshinder­nisse erschwert, die trotz des HKA mit dem harten Brexit hinzugekommen sind.

Eigene außenpolitische Akzente

Die dritte Säule von »Global Britain« sieht eigenständige außenpolitische Initiativen vor. Zwar verfolgen EU-Mitgliedstaaten stets ihre eigene Außen- und Sicherheitspolitik; seit dem Austritt aus der EU im Januar 2020 hat die britische Regierung aber versucht, sich durch eigene Akzente bewusst von den EU-Staaten abzusetzen.

Dies äußert sich erstens im Verhältnis zu China. So hat das britische Parlament ein Installationsverbot von 5G-Infra­struktur von Huawei erlassen, das ab September 2021 gilt. Nach dem harten Vorgehen der Volks­republik in seiner ehemaligen Kolonie Hong­kong hat London allen Einwohnern Hong­kongs Visa inklusive der Perspektive auf britische Staatsbürgerschaft angeboten. Mit Blick auf die US-Administ­ra­tion unter Joe Biden will London gegen­über China Härte zeigen und sich als wichtigs­ter euro­päi­scher Partner in Stellung bringen.

Gleichzeitig skizziert London in der IR einen ›ausgewogenen‹ Ansatz gegenüber China, dem zufolge es zwar ein systemischer Herausforderer und die größte staat­liche Bedrohung für die wirtschaftliche Sicherheit des VK ist, China und das VK aber auch vom bilateralen Han­del und von gegen­seitigen Investitionen pro­fi­tieren. Nicht zuletzt müsse China mit an Bord sein, um globalen Herausforderungen wie dem Klima­wandel begegnen zu können. London will also wie die EU Ko­operation und Wett­bewerb mit China verbinden. Im März 2021 erließ es parallel zur EU Sanktio­nen gegen das Land aufgrund von Menschen­rechtsverletzungen, ist aber auch an einem Handelsabkommen ähnlich dem EU-China-Inves­titions­schutz­abkommen interessiert.

Zweitens plant London unter dem Leitmotiv Schwenk (»tilt«) zum Indo-Pazifik ein verstärktes politisches, wirtschaftliches und militärisches Engagement in der Region. 2020 wurde im Außenministerium der Pos­ten eines Generaldirektors für die Region Indo-Pazifik geschaffen, 2021 wird der bri­ti­sche Flugzeugträger Queen Elizabeth in den Indo-Pazifik verlegt. Der angestrebte Beitritt zum CPTPP rundet das Bild ab.

Drittens richtet Großbritannien 2021 den Klimagipfel COP26 in Glasgow aus und hat die G7-Präsidentschaft inne. In Klimafragen präsentiert sich das VK berechtigterweise als Vorreiter, hat es doch schärfere Klima­ziele als die EU formuliert. Zusammen mit den USA will es in Glasgow einen großen Durchbruch in der internationalen Klima­politik unter britischer Führung aushandeln. Mit der G7-Präsidentschaft hebt das VK seine eigenständige globale Rolle hervor. Die G7 nutzt es zunehmend als außen­poli­tisches Forum, etwa mit Einla­dun­gen an Australien, Indien und Südkorea sowie mit den gemein­samen Erklärungen der G7-Außen­minister, ein­schließlich des Hohen Ver­treters (HV) der EU für Außen- und Sicher­heitspolitik, etwa zu Myanmar, Hongkong oder dem russi­schen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine.

Mit diesen Ansätzen will London das sou­ve­räne, globale Großbritannien bewusst als positiven Gegenentwurf zur negativ kon­notierten behäbigen EU positionieren. Aus britischer Sicht schließen sich für die eigene Post-Brexit-Außenpolitik ein stärkerer glo­baler Einfluss Londons und eine direkte Ko­ope­ration mit der EU weitgehend aus. Wäh­rend dieses Narra­tiv auf rhetorischer Ebene verfängt, ist es prak­tisch nicht zu halten. Denn Engagements wie Initiativen in der G7-Präsident­schaft oder abge­stimmte Sank­tionen gegen China wegen Menschenrechts­verletzungen wären alle auch als EU-Mit­glied mög­lich ge­wesen. Der Austritt aus der Union und die ak­tuell dys­funktionale Bezie­hung zu ihr schwächen vielmehr den Hand­lungsspielraum Lon­dons als selbstdeklarierter Vorreiter des Multi­lateralismus. Britische Prioritäten, von Tech­nologieregulierung bis zum Klimawandel, ließen sich einfacher mit der EU erreichen als ohne sie – oder gar gegen sie.

Globaler sicherheits- und verteidigungspolitischer Akteur

Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist für London ein zentraler Bereich, um seine Rolle als globale Führungsnation zu unter­streichen. Diesen Anspruch will es erfüllen, indem es bestehende Allianzen stärkt, neue Kooperationen ausbaut, seine internationale Präsenz ausweitet und seine Streitkräfte modernisiert. Ziel ist weltweite Einsetz­bar­keit, wobei der Fokus auf mari­timen Fähig­keiten, Digitalisierung und der Inte­gration neuer Technologien liegt.

Die Stärkung der Allianzen betrifft in ers­ter Linie die transatlantischen Beziehungen und die Nato. London drängt noch nach­drücklicher darauf, die Nato (anstatt der EU) als Ort für europäi­sche militärpolitische Koordinierung zu nutzen. Dem steht aller­dings in der Praxis eine bri­tische Ten­denz zu bi- (etwa mit Frankreich) und multi­late­ralen For­maten (wie der Joint Expedition­ary Force) gegen­über. Auch folgen der jüngst be­schlossene Ausbau der Flotte, der Fokus auf neue Tech­nologien und der »tilt« zum Indo-Pazifik keiner inner­halb der Nato ab­gestimmten Logik, sondern einer souve­rä­nen Priori­sie­rung. Tatsächlich will Lon­don als Zeichen der glo­balen Orientierung seine inter­nationale Präsenz und Agi­li­tät erhö­hen und Partnerschaften außer­halb Euro­pas intensi­vieren, vor allem mit den Staaten der »Five Eyes« und mit Singa­pur, Austra­lien, Malaysia, Neu­seeland in den Five Power Defence Ar­range­ments, aber auch mit ande­ren ASEAN-Staaten, mit Japan, Südkorea und Indien sowie Partnern im Nahen Osten und Afrika.

Großbritannien verfügt laut dem International Institute for Strategic Studies über den weltweit viertgrößten Verteidigungshaushalt und erfüllt das 2‑Prozent-Ziel bei den Ver­tei­digungsausgaben und das 20‑Prozent-Investi­tionsziel der Nato. Das Verteidigungs­budget von aktuell 41,5 Mil­liar­den Pfund wurde im November 2020 außerordentlich um 16,5 Milliar­den Pfund für die kommenden vier Jahre aufgestockt, zudem soll es jährlich um 0,5 Prozent über dem Inflationswert wachsen. Allerdings besteht im Ausrüstungsplan 2020–2030 eine substantielle Finanzierungslücke.

Diese Erhöhung ist gleichermaßen ein Sig­nal an Washington, dass London militä­risch rele­vant und in Europa führend blei­ben will. Neben dem in der IR beschlossenen Aus­bau der nuklearen Ab­schreckung und der Marine will Groß­britan­nien seine Cyber- und Weltraum­fähigkeiten verbessern und neue Technologien in die Streit­kräfte integ­rieren. Gleich­zeitig soll (zumin­dest mittel­fristig) das euroatlantische Engage­ment Priorität behalten; der IR zufolge ist Russ­land die »most acute« Bedrohung. Lang­fristig wird die Pazifikregion entscheidend.

Die IR und die militärische Umsetzung (Defence in a Competitive Age) beantworten mehrere Fragen nur teilweise. Zunächst wird das VK selbst mit der Aufstockung des Verteidigungshaushalts global nicht allein handlungsfähig; der britische Flugzeugträger im Indo-Pazifik beispielsweise braucht US-Geleit­schutz. Ferner könnte es durch die globale Ausrichtung Fähigkeiten abbauen, die laut Nato in Europa benötigt werden, etwa im Landbereich. So soll das Heer von der ursprünglichen Planungsgröße 82 000 auf 72 500 Mann im Jahr 2025 verkleinert werden (vgl. SWP-Aktuell 101/2020). Mit dem Schwenk nach Asien gewinnt London militärisch zwar an glo­baler Sichtbarkeit, hat aber dort nicht den gleichen strategischen Einfluss, den seine Fähigkeiten in Euro­pas Ver­teidigung haben, wo sie (noch) eine Schlüs­sel­rolle spielen.

Ablehnung der EU als außen­politischer Akteur und Partner

Eine Zusammenarbeit mit der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik lehnt die britische Regierung bisher weitgehend ab. Während die Kooperation in diesem Be­reich mit einzelnen EU-Staaten, allen voran Frankreich und Deutschland, großteils vom Brexit ab­ge­kop­pelt wurde, hat die Zusammenarbeit mit der EU an sich deutlich ge­litten. Pre­mier Johnson unterschrieb noch im Januar 2020 gemeinsam mit dem Aus­trittsabkommen die (rechtlich unverbind­liche) poli­tische Erklärung über die zu­künftigen EU-VK-Beziehungen, die unter anderem das Ziel einer engen »Sicherheitspartnerschaft« be­inhaltete. Hierzu sollten ein regelmäßiger Austausch in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungs­politik ge­hören, eine Abstim­mung bei Sanktionen oder die Beteiligung des VK an Operationen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP).

Davon ist bei der Aushandlung des künf­tigen Verhältnisses 2020 nichts geblie­ben. Wenige Tage nach Unterschrift der politi­schen Erklärung veröffentlichte die britische Regierung ihr Verhandlungsmandat, in dem sie keine institutionalisierte Zusammen­arbeit mit der EU in der Außen- und Sicher­heitspolitik mehr vorsah. Das Wort »Vertei­digung« oder Bezüge zur Ko­opera­tion auf diesem Gebiet fehlten. Als Folge sucht man Regelungen zur Koope­ra­tion in der Außen- und Sicherheitspolitik im HKA ver­geblich. Ein Austausch über diese Themen ist selbst in den mit dem HKA ge­schaffe­nen EU-VK-Institutionen nicht ge­plant. US-Außen­minis­ter Antony Blinken nahm jüngst am EU-Außen­minis­terrat als Gast teil – der­gleichen wünscht London nicht.

Auch in der IR blendet London die EU als Akteur oder gar Partner in der Außen- und Sicherheitspolitik aus; erwähnt wird sie ausschließlich als Partner in der Klima­politik. Zudem hat das britische Außen­ministerium dem EU-Bot­schafter die diplo­matische Anerkennung mit dem Argument verwehrt, damit einen Präzedenzfall für andere internationale Orga­nisationen zu setzen. Dies ist wenig über­zeugend, zumal nicht nur alle anderen 140 Drittstaaten mit EU-Delegation deren Bot­schafter anerkennen, sondern auch das VK bis zu seinem EU-Austritt Personal für den Europäischen Auswär­tigen Dienst gestellt und mit diesem zusammenge­arbeitet hat. In seiner Rede auf der Münch­ner Sicherheitskonferenz 2021 skizziert Boris Johnson ein »Global Britain«, das sich für das Erstarken des Wes­tens und die multilaterale Weltordnung einsetzt – in der die EU aber in der Außen- und Sicher­heitspolitik nicht vorkommt.

Ähnlich trüb sind die Aussichten in der Verteidigungs­politik. Die EU hat Großbritan­nien an­geboten, sich unter den regulä­ren Bedingun­gen für Dritt­staaten an GSVP-Ope­ratio­nen oder Projekten der Ständigen Struk­tu­rier­ten Zusammenarbeit zu beteiligen. Letzteres streben mittlerweile selbst die USA an. Die britische Regierung hingegen lehnt alle Möglichkeiten ab.

Die britisch-europäische Kluft

Der britische Positionswechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik lässt sich zum gro­ßen Teil mit der innen­politischen Dyna­mik im VK erklären. Hier setzten sich 2019 die har­ten Brexit-Befür­wor­ter durch. Boris Johnson holte nach seiner Amtsübernahme aus­schließ­lich Brexiteers in sein Kabinett, die wie Außen­minister Dominic Raab teils ihre gesamte politische Karriere für den EU-Aus­tritt ge­kämpft haben. Während die EU in der Han­delspolitik oder der inneren Sicher­heit von so zentraler Bedeutung ist, dass sich das VK un­aus­weich­lich mit ihr arran­gie­ren muss, bleibt sie in der Außen-, Sicher­heits- und vor allem der Ver­teidigungs­poli­tik schwach.

Daher setzt London darauf, die EU in die­sem Bereich folgenlos um­gehen zu können und sich stattdessen bi- und multilateral namentlich mit Frank­reich und Deutschland direkt abzustimmen, zu einem gerin­ge­ren Grade auch mit Polen oder den nor­di­schen Staa­ten. Dieser Fokus auf alter­native Formate kann durch­aus als Versuch gewer­tet wer­den, die EU außen- und sicher­heits­politisch zusätzlich zu schwä­chen. Dies ist nicht nur eine ver­passte Chance für eine dringend notwendige posi­tive Koopera­tion zwischen der EU und dem VK, sondern er­höht ebenfalls das Risiko, dass die Euro­päer von Dritten wie Russland, China und in Einzel­fällen auch den USA gespalten wer­den. Außerdem ver­lieren insbesondere zwischen der EU und dem VK nicht­ abge­stimmte Sank­tionen an Wirkungs­kraft und die Ge­fahr steigt, dass die Briten sich auch in der Außen- und Sicherheitspolitik schrittweise von der EU entfernen.

Die EU tut sich ihrerseits schwer mit der außen- und sicherheitspolitischen Kooperation mit dem VK. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) steht im Wider­spruch zu Bilateralisierungen, »cher­ry-pick­ing« und zur ausschließlichen Nut­zung flexibler Formate. Das EU-Mandat für die Aushandlung der zukünftigen Beziehungen zielte zwar auf eine Zusammenarbeit in diesem Politikfeld ab, betonte aber aus­drück­lich die Bewahrung der »Entscheidungs­autonomie« der EU. Angeboten wurde dem VK lediglich, sich als Unterstützer ohne Mitspracherecht an EU-Entschei­dun­gen zu beteiligen, was mit seinem außen- und sicher­heitspolitischen Gewicht sowie seinem Selbst­verständnis kaum vereinbar ist.

Mögliche Formate

In der Folge findet die Zusammenarbeit zwischen dem VK und den EU-Staaten in der Außen- und Sicher­heitspolitik zurzeit pri­mär in flexib­len Formaten statt. Diese soll­ten im gegen­seitigen Interesse genutzt wer­den, um – oft in parallelen Prozessen – London in inter­nationalen Fragen im euro­päischen Rahmen zu halten, externe Spal­tungs­versuche zu unterbinden und Groß­britanniens Beziehung zur EU aufrecht­zu­erhalten. Folgende Formate bieten sich an:

Das derzeit oft diskutierte E3-Format, be­stehend aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland, bezieht seine Reputation vor allem aus den Verhandlungen zum Nuklear­abkommen mit dem Iran seit 2003. Seit 2016 ist seine Bedeutung gestiegen: Es gilt als Mög­lichkeit, trotz des Brexits außen­politische Ko­ordi­nierung zwischen den drei großen euro­päischen Ländern zu gewährleisten, der schwachen GASP Anstöße zu geben und den Umgang mit dem schwierigen US-Präsi­denten Donald Trump (2017–2021) abzustimmen. Treffen fanden häufiger statt, die Themenpalette wurde verbreitert (vom Südchinesischen Meer bis zur Vergiftung des Agen­ten Sergej Skripal), neben den Außen­ministern trafen sich die Verteidigungs­minister, Part­ner wurden assoziiert. Das E3-For­mat er­laubt, London auch ohne institu­tio­nelles Abkommen in EU-Entscheidungen indirekt einzu­beziehen, Positionierungen über EU-Themen hinaus abzusprechen und gemein­sam vor­zugehen.

Allerdings befürchten andere EU-Staaten ein exklusives und intransparen­tes Format, das die europäische Ge­schlossen­heit zu unter­minieren droht, Interessen anderer Staaten nicht berücksichtigt oder gar als Direk­torat Entscheidungen vorgibt. Die Atom­verhandlungen mit dem Iran wurden über eine einflussreiche Rolle des HV an die EU angebunden; dieser war bei der jüngsten Wiederbelebung des Formats jedoch nicht anwesend. Auch gilt es zu verhindern, dass London einen Erfolg der E3 als Miss­erfolg der EU-Außenpolitik deklariert und die normative Auseinandersetzung voran­treibt.

Erfolgversprechend mit Blick auf Ergebnisse und Akzeptanz scheint eine themenspezifische temporäre Ergänzung: E3 + X. Wenn es um die östliche Nachbarschaft der EU geht, könnte etwa Polen dazukommen. Für die EU-Nato-Ko­ope­ration böte sich E3 + Nato-General­sekretär + EU HV an. Berlin und Paris sollten darauf drängen, den HV einzubinden, um die Legitimität der Union zu stärken. Er könnte ihre Interessen ver­treten und als »watchdog« der anderen EU-Staaten deren Positionen einbringen. Per­spektivisch könnte auch der lang diskutierte »Europäische Sicherheitsrat« zur Einbettung Londons genutzt werden, zu dem aber noch viele Fragen geklärt werden müssten.

Die Quad, in diesem Fall die E3 und die USA, hat in der Vergangenheit auf Ebene der poli­ti­schen Direktoren gut funktioniert, was Infor­ma­tionsaustausch und Ko­ordinie­rung angeht. Seit Blinken US-Außen­minis­ter ist, traf sich zudem die Außenminister-Quad mehrfach, etwa zum Iran, zu Myan­mar und China.

Wie bei den E3 liegt die Heraus­forderung der Quad darin, dass andere EU-Staaten ihre Nichtbeteiligung kritisieren, allen voran Polen, Italien und Spa­nien. Zu Recht ver­weisen Letztere darauf, dass sie bei bestimm­ten Themen genauso viel oder mehr Ein­fluss oder Fähigkeiten einbringen kön­nen wie die E3, etwa mit Blick auf die Süd­flanke der EU. Die USA haben aus Sorge vor sol­chen Beschwerden den Begriff »Quad« lange vermieden. Londons Fokus auf die E3 und die Quad deutet auf ein bri­tisches Politikverständnis hin, das auf die USA und große Staaten setzt, anstatt themenbezogen nach relevanten Akteuren zu suchen. Diese Les­art sollte sich Berlin nicht zu eigen machen, sondern wie beim E3-Format auf einer the­men­spezifischen tem­porären Erweiterung der Quad insistieren. So könnte Deutschland in seiner Brückenfunktion sicherstellen, dass auch die Interessen der EU-Partner einbezogen werden.

Auf globaler Ebene bietet sich als flexibles Format die G7 auch zur Koor­dination in der Außen- und Sicherheits­politik an. Lon­don hat während seiner G7-Präsident­schaft das Format für außen­politische Koordinierung genutzt, begünstigt durch den Macht­wechsel in Washington. Vorteil ist hier, dass die EU bereits G7-Mit­glied ist und der HV an den Erklärungen der G7-Außen­minister betei­ligt war. Nach Groß­britan­nien übernimmt 2022 Deutschland die G7-Präsi­dentschaft, könnte also die außen- und sicherheitspolitische Nutzung des Formats fortführen.

Die Nato bleibt das zentrale militärpolitische Forum für europäische und transatlantische Koordination. Es liegt daher in bei­der­seitigem Interesse, dass Großbritannien ein starker und verlässlicher Partner bleibt. Aus deutscher Sicht ergänzen EU-Vertei­di­gungsinitiativen die Nato-Verpflichtungen und erhöhen die europäische Handlungs­fähigkeit. Deshalb sollte die Nato-EU-Koope­ration für eine weitere Anbindung des VK an EU-Initiativen genutzt werden. Versuche, EU und Nato gegeneinander auszuspielen, gilt es indes zu unterbinden.

Überdies sollte Deutschland dort, wo es seinen Interessen entspricht, die bi­laterale Koordinierung mit London anstre­ben und durch regelmäßigen Austausch stärken. Bi‑ und minilaterale Gespräche mit London könnten zum Beispiel dazu dienen, EU-Sank­tions­entschei­dungen zu flankieren. London hat sich seit dem Brexit-Referen­dum um engere bila­terale Beziehungen be­müht, nicht zuletzt aufgrund der Annahme, Berlin könne die EU-Verhandlungen (und EU-Politiken allgemein) maßgeblich be­einflussen. Deutschland hingegen hat Wert darauf gelegt, die Zusammenarbeit mit den EU‑27 zu priorisieren und den Eindruck zu ver­meiden, eine bilaterale Kooperation könne diejenige innerhalb der EU unter­minieren.

Nach dem Vollzug des Brexits besteht Spielraum für Deutschland, diese Balance hin zu etwas mehr bilateraler Kooperation mit dem VK zu verlagern. Denn gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik ist die Entscheidungsautonomie der EU nicht ge­fähr­det; vielmehr ist es sinnvoll und gebo­ten, London parallel einzubinden, solange dies in Ergän­zung und nicht anstelle der außen- und sicherheitspolitischen Kooperation inner­halb der EU stattfindet. Die seit langem geplante Unterzeichnung der ge­mein­samen Erklärung zur bilateralen Zusam­menarbeit in der Außen- und Sicher­heitspolitik könnte hier ein positives Signal senden.

Ad‑hoc-Koordinierung mit der EU: Schließlich sollte sich Deutschland dafür ein­setzen, dass trotz des schwierigen Ver­hält­nisses zwischen EU und britischer Regie­rung alle flexiblen Möglichkeiten zur EU-VK-Koordinierung ausgeschöpft werden. Vorbild hierfür könnte die zu­nehmende Abstimmung mit den USA sein: In Analogie zu den Besuchen von US-Präsident und US‑Außenminister im Europäischen Rat bzw. Außenministerrat könnte etwa der britische Außenminister eingeladen werden zu Bera­tungen zum Umgang mit Russland oder zum Vorgehen im Indo-Pazifik. Solche Ad‑hoc-Formate könnten schrittweise Ver­trauen aufbauen und in Einzelfragen den Nutzen gegenseitiger Ko­ordinierung unter­streichen, ohne dass die Entscheidungs­autonomie der EU oder die britische Souve­ränität eingeschränkt würden.

Zielkonflikte mit Blick auf die künftige Zusammenarbeit

Die Einbindung Großbritanniens in außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Ko­operation(en) stellt gerade Deutschland vor erheb­liche Zielkonflikte, muss es doch zwei durch den Brexit gegensätzlich gewor­dene Interessen ab­wägen: Einerseits bleibt das Vereinigte Königreich ein wich­tiger Part­ner, mit dem Deutschland viele Interessen, Werte und Herausforderun­gen teilt. Ande­rerseits erschwert die ideo­logisch getriebene grund­sätzliche Ab­leh­nung Groß­britan­ni­ens, mit der EU in der Außen- und Sicher­heitspolitik zu ko­ope­rie­ren, die Ab­stim­mung derzeit beträchtlich. Solange die briti­sche Regierung eine Zusammenarbeit mit der EU hier so ka­te­gorisch ablehnt, sind Partner wie Deutsch­land und Frank­reich gezwungen zu wäh­len: zwi­schen einer Koordination inner­halb der EU und einer bi- bzw. multilateralen Zu­sam­men­arbeit mit dem VK. Dieser Ziel­konflikt wird sich angesichts der ver­här­te­ten Positio­nen nicht kurzfristig lösen lassen.

Mittelfristig ist daher mit »ad hocism« und Kooperationen in kleineren Formaten (wie den E3) zu rechnen. Informelle Kontakte zwi­schen dem VK und der EU bzw. einzel­nen EU-Staaten werden dominieren, dar­über hinaus wird bei gemeinsamen Inter­essen eine themengebundene Koordination stattfinden, beispielsweise bei Sanktionen. Die belas­teten EU-VK-Beziehungen setzen jedoch auch der bilateralen Kooperation Grenzen, denn je weiter sich der Konflikt zwischen der EU und dem VK zuspitzt, etwa was Nordirland oder die Impf­stoff­verteilung angeht, desto schwieriger wird es für Deutschland und andere EU-Staaten wie Irland, normale Beziehungen zu Lon­don zu pflegen. Gleich­zeitig kann eine erfolgreiche mittelfristige Kooperation (z. B. in den E3, der G7 oder bilateral) funktionierende Arbeitszusammenhänge wiederher­stellen, Vertrauen aufbauen und posi­tive Ergebnisse zeiti­gen – und somit die Basis für eine lang­fris­tige institu­tionalisierte Kooperation legen. Deutschland sollte sich dafür einset­zen, dass sich die EU-Länder untereinander über ihre bila­terale Zusammen­arbeit mit dem VK aus­tauschen, damit sie nicht gegen­einander ausgespielt werden.

Thematisch ist sich die EU bzw. Deutsch­land mit Großbritannien bei den meis­ten außenpolitischen Dossiers einig. Hier ist Kooperation möglich, etwa mit Blick auf die COP26, den Iran oder Russland. Einige we­nige Felder bergen Konfliktstoff, vor allem han­delspolitische und regulatorische Fragen sowie pandemiebezogene Themen (Impf­stoffe). Diese drohen das angespannte Ver­hältnis zu dominieren, wie der aktuelle Konflikt um das Nordirland-Protokoll zeigt.

Langfristiges Ziel sollte eine Normalisierung und Institutionalisierung der EU-VK-Beziehungen sein. Voraussetzung hierfür wären eine größere Offenheit der EU; eine veränderte politische Position Londons; eine erfolgreichere EU-Außenpolitik, die die Union als Partner attraktiver macht, oder eine Veränderung der internationalen Sicher­heitslage, die mehr Kooperation erfordert. Das Superwahljahr 2024, in dem in den USA, in Großbritannien und der EU gewählt wird und sich alle drei Akteure potentiell neu aufstellen, könnte den Weg ebnen für qua­li­tativ neue Bezie­hungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.

Bis dahin sollte das deutsche Interesse darauf ausgerichtet sein, durch regelmäßigen Austausch eine enge Koordi­nation mit London zu gewährleisten, und zwar in bi- und minilateralen For­maten sowie in der Nato. Das übergeordnete Ziel sollte stets sein, die Außen- und Sicher­heitspolitik der EU grundsätzlich und nachhaltig zu stärken. Jegliche Versuche Londons, kleinere For­mate gegen die EU als Ganzes oder einzelne EU-Staaten gegeneinander auszuspielen und damit die Union zu schwächen oder vor­zuführen, müssen abgewehrt werden. Die EU wie ihre Mitglied­staaten müssen sich darüber im Klaren sein, dass die Zu­sam­menarbeit mit London auf absehbare Zeit schwierig sein wird.

Dr. Claudia Major ist Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.

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