Nach dem Brexit will das Vereinigte Königreich (VK) sich unter dem Leitmotiv »Global Britain« als eigenständige Führungsmacht mit globaler Reichweite positionieren. Das unterstreicht die Integrated Review vom 16. März 2021. Praktisch wird dieser Anspruch sichtbar in dem ambitionierten Programm für den diesjährigen Vorsitz der G7 und der Klimakonferenz COP26 sowie erhöhten Verteidigungsausgaben. Damit will London auch die neue US-Administration von seinem strategischen Wert überzeugen. Eine institutionalisierte Zusammenarbeit mit der Europäischen Union (EU) in der Außen- und Sicherheitspolitik lehnt die Regierung von Boris Johnson hingegen ab; stattdessen setzt sie auf flexible Formate mit einzelnen EU-Staaten. Das stellt Deutschland vor einen Zielkonflikt: Einerseits will es London in europäische Außen- und Sicherheitspolitik einbinden, andererseits darf dies nicht auf Kosten der EU und europäischer Geschlossenheit gehen. Angesichts der aktuell belasteten Beziehungen zwischen der EU und dem VK scheint eine institutionalisierte Kooperation erst langfristig möglich. Mittelfristig sollte der Fokus auf informellen bi- und multilateralen Formaten liegen.
Nach dem Ende der Brexit-Übergangsphase hat sich das Vereinigte Königreich umfassend von der EU gelöst. Zwar konnte der vollständige Bruch in Form eines »No-Deal-Brexits« verhindert werden; das Ende Dezember 2020 geschlossene Handels- und Kooperationsabkommen (HKA) besiegelt aber eine harte Trennung zwischen der EU und Großbritannien. Gleichzeitig spricht aus Sicht der EU vieles für eine enge Kooperation mit London in der Außen- und Sicherheitspolitik: die geographische Nähe, die gemeinsamen Werte, Interessen und Herausforderungen, die Mitgliedschaft in der Nato und in anderen internationalen Organisationen, die (noch) engen wirtschaftlichen Verflechtungen sowie die kulturellen und persönlichen Beziehungen. Eine große Herausforderung für die Bundesregierung besteht somit darin, London außen- und sicherheitspolitisch in europäische Vorhaben einzubinden, ohne dabei die EU zu beschädigen.
Selbstdarstellung als globale Führungsmacht
Schon die ehemalige Premierministerin Theresa May hatte als Narrativ der britischen Außenpolitik nach dem Brexit »Global Britain« ausgerufen (vgl. SWP-Aktuell 29/2018). Boris Johnson will das VK nach vollzogenem Brexit als eigenständige globale Führungsmacht behaupten. Mit der Integrated Review of Security, Defence, Development and Foreign Policy (IR) hat seine Regierung nun ihre Vorstellungen von »Global Britain« konkretisiert. Im Vordergrund stehen vier Aspekte: (1) eine aktivere Nutzung von Partnerschaften und Allianzen; (2) Großbritanniens Rolle als energischer Verfechter des freien und offenen Handels; (3) eine eigenständige Außenpolitik, die Forschung und Entwicklung, Entwicklungszusammenarbeit und »soft power« verbindet, sowie (4) eine schlagkräftige Sicherheitspolitik mit globaler Reichweite.
Das Ambitionsniveau von »Global Britain« ist dabei (rhetorisch) hoch: Großbritannien sieht sich als »game changer nation«, »a force for good in the world« und »science and tech superpower«. Es möchte nach dem Brexit eigenständig in internationalen Fragen entscheiden, zum Beispiel als Vorreiter gegen den Klimawandel, aber auch als Agendasetter, etwa durch schnelle Sanktionen gegen Belarus im Sommer 2020.
Außenpolitische Vernetzung
Die erste Säule von »Global Britain« ist die weiterhin sehr gute außenpolitische Vernetzung des VK. Zwar verliert London den direkten Zugang zur EU, nimmt also nicht mehr teil am regelmäßigen Austausch der EU-Staats- und Regierungschefs, der Außenministerinnen und -minister und auf Arbeitsebene. Im weltweiten Vergleich hat London jedoch immer noch eine privilegierte Position: Es bleibt ständiges Mitglied im VN-Sicherheitsrat (mit Vetorecht), Mitglied der G7 / G20, der OSZE, des Europarats und der Nato. International verfügt London über eines der größten diplomatischen Netzwerke. Hinzu kommen die traditionell engen Beziehungen zu den USA sowie im Rahmen der »Five Eyes« zu Kanada, Australien und Neuseeland.
Die offensichtlichsten Widersprüche in dem Konzept sind politischer Natur. So hat die Regierung Johnson entschieden, den Haushalt für Entwicklungszusammenarbeit von 0,7 auf 0,5 Prozent des BIP zu kürzen. Dies schwächt die in der IR betonte britische »soft power« und Verlässlichkeit in einem zentralen Bereich und steht dem Narrativ des umfassenden Engagements von »Global Britain« entgegen. Zudem will London laut der IR den Multilateralismus stärken, blendet aber die EU als Partner aus. Doch viele der britischen Ziele werden eine Zusammenarbeit nicht nur mit europäischen Staaten erfordern, sondern auch mit der EU, etwa im Bereich Sanktionen.
Eigenständiges Netzwerk an Handelsverträgen
Ein eigenes Netzwerk an globalen Handelsverträgen soll die zweite Säule bilden. Aus Sicht von Boris Johnson war dieses einer der Hauptgründe für den ausgehandelten harten Brexit. Für seine Handelsverträge kann London zwar nicht mehr das Gewicht des EU-Binnenmarkts in die Waagschale werfen; es ist aber überzeugt, als sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt Handelsverträge schließen zu können, die besser auf die britische Wirtschaft zugeschnitten sind. Gleichzeitig will London die Welthandelsorganisation und das multilaterale Handelssystem stärken.
In der Praxis hat die britische Regierung erfolgreich bestehende Handelsverträge der EU in eigene Abkommen übersetzt. Trotz nennenswerter Ausnahmen wie Mercosur decken sie aus britischer Perspektive circa 57 Prozent der eigenen Exporte (Stand 2019) ab: der Handelsvertrag mit der EU 46 Prozent, alle anderen neuen Abkommen, zum Beispiel mit Japan, Südkorea oder Kanada, etwas mehr als 11 Prozent. Außerdem laufen Handelsverhandlungen unter anderem mit den USA, Indien und Australien sowie Gespräche über den Beitritt des VK zum Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP); bei Erfolg würden weitere 30 Prozent der britischen Exporte abgedeckt. Vor allem ein CPTPP-Beitritt würde einen tatsächlichen Unterschied zur EU darstellen und das symbolische militärische Engagement Großbritanniens im Indo-Pazifik handelspolitisch ergänzen.
Diese guten Ergebnisse werden jedoch dadurch relativiert, dass die neuen Abkommen mit wenigen Abweichungen eine Überführung von Verträgen sind, die die EU ausgehandelt hat, und selbst mit engen Partnern wie Kanada nur provisorisch bis zur Vereinbarung von Folgeabkommen gelten. Zudem bleibt die EU mit Abstand Großbritanniens wichtigster Handelspartner – und gerade die (Handels-)Beziehungen zur EU werden durch viele neue Handelshindernisse erschwert, die trotz des HKA mit dem harten Brexit hinzugekommen sind.
Eigene außenpolitische Akzente
Die dritte Säule von »Global Britain« sieht eigenständige außenpolitische Initiativen vor. Zwar verfolgen EU-Mitgliedstaaten stets ihre eigene Außen- und Sicherheitspolitik; seit dem Austritt aus der EU im Januar 2020 hat die britische Regierung aber versucht, sich durch eigene Akzente bewusst von den EU-Staaten abzusetzen.
Dies äußert sich erstens im Verhältnis zu China. So hat das britische Parlament ein Installationsverbot von 5G-Infrastruktur von Huawei erlassen, das ab September 2021 gilt. Nach dem harten Vorgehen der Volksrepublik in seiner ehemaligen Kolonie Hongkong hat London allen Einwohnern Hongkongs Visa inklusive der Perspektive auf britische Staatsbürgerschaft angeboten. Mit Blick auf die US-Administration unter Joe Biden will London gegenüber China Härte zeigen und sich als wichtigster europäischer Partner in Stellung bringen.
Gleichzeitig skizziert London in der IR einen ›ausgewogenen‹ Ansatz gegenüber China, dem zufolge es zwar ein systemischer Herausforderer und die größte staatliche Bedrohung für die wirtschaftliche Sicherheit des VK ist, China und das VK aber auch vom bilateralen Handel und von gegenseitigen Investitionen profitieren. Nicht zuletzt müsse China mit an Bord sein, um globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel begegnen zu können. London will also wie die EU Kooperation und Wettbewerb mit China verbinden. Im März 2021 erließ es parallel zur EU Sanktionen gegen das Land aufgrund von Menschenrechtsverletzungen, ist aber auch an einem Handelsabkommen ähnlich dem EU-China-Investitionsschutzabkommen interessiert.
Zweitens plant London unter dem Leitmotiv Schwenk (»tilt«) zum Indo-Pazifik ein verstärktes politisches, wirtschaftliches und militärisches Engagement in der Region. 2020 wurde im Außenministerium der Posten eines Generaldirektors für die Region Indo-Pazifik geschaffen, 2021 wird der britische Flugzeugträger Queen Elizabeth in den Indo-Pazifik verlegt. Der angestrebte Beitritt zum CPTPP rundet das Bild ab.
Drittens richtet Großbritannien 2021 den Klimagipfel COP26 in Glasgow aus und hat die G7-Präsidentschaft inne. In Klimafragen präsentiert sich das VK berechtigterweise als Vorreiter, hat es doch schärfere Klimaziele als die EU formuliert. Zusammen mit den USA will es in Glasgow einen großen Durchbruch in der internationalen Klimapolitik unter britischer Führung aushandeln. Mit der G7-Präsidentschaft hebt das VK seine eigenständige globale Rolle hervor. Die G7 nutzt es zunehmend als außenpolitisches Forum, etwa mit Einladungen an Australien, Indien und Südkorea sowie mit den gemeinsamen Erklärungen der G7-Außenminister, einschließlich des Hohen Vertreters (HV) der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, etwa zu Myanmar, Hongkong oder dem russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine.
Mit diesen Ansätzen will London das souveräne, globale Großbritannien bewusst als positiven Gegenentwurf zur negativ konnotierten behäbigen EU positionieren. Aus britischer Sicht schließen sich für die eigene Post-Brexit-Außenpolitik ein stärkerer globaler Einfluss Londons und eine direkte Kooperation mit der EU weitgehend aus. Während dieses Narrativ auf rhetorischer Ebene verfängt, ist es praktisch nicht zu halten. Denn Engagements wie Initiativen in der G7-Präsidentschaft oder abgestimmte Sanktionen gegen China wegen Menschenrechtsverletzungen wären alle auch als EU-Mitglied möglich gewesen. Der Austritt aus der Union und die aktuell dysfunktionale Beziehung zu ihr schwächen vielmehr den Handlungsspielraum Londons als selbstdeklarierter Vorreiter des Multilateralismus. Britische Prioritäten, von Technologieregulierung bis zum Klimawandel, ließen sich einfacher mit der EU erreichen als ohne sie – oder gar gegen sie.
Globaler sicherheits- und verteidigungspolitischer Akteur
Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist für London ein zentraler Bereich, um seine Rolle als globale Führungsnation zu unterstreichen. Diesen Anspruch will es erfüllen, indem es bestehende Allianzen stärkt, neue Kooperationen ausbaut, seine internationale Präsenz ausweitet und seine Streitkräfte modernisiert. Ziel ist weltweite Einsetzbarkeit, wobei der Fokus auf maritimen Fähigkeiten, Digitalisierung und der Integration neuer Technologien liegt.
Die Stärkung der Allianzen betrifft in erster Linie die transatlantischen Beziehungen und die Nato. London drängt noch nachdrücklicher darauf, die Nato (anstatt der EU) als Ort für europäische militärpolitische Koordinierung zu nutzen. Dem steht allerdings in der Praxis eine britische Tendenz zu bi- (etwa mit Frankreich) und multilateralen Formaten (wie der Joint Expeditionary Force) gegenüber. Auch folgen der jüngst beschlossene Ausbau der Flotte, der Fokus auf neue Technologien und der »tilt« zum Indo-Pazifik keiner innerhalb der Nato abgestimmten Logik, sondern einer souveränen Priorisierung. Tatsächlich will London als Zeichen der globalen Orientierung seine internationale Präsenz und Agilität erhöhen und Partnerschaften außerhalb Europas intensivieren, vor allem mit den Staaten der »Five Eyes« und mit Singapur, Australien, Malaysia, Neuseeland in den Five Power Defence Arrangements, aber auch mit anderen ASEAN-Staaten, mit Japan, Südkorea und Indien sowie Partnern im Nahen Osten und Afrika.
Großbritannien verfügt laut dem International Institute for Strategic Studies über den weltweit viertgrößten Verteidigungshaushalt und erfüllt das 2‑Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben und das 20‑Prozent-Investitionsziel der Nato. Das Verteidigungsbudget von aktuell 41,5 Milliarden Pfund wurde im November 2020 außerordentlich um 16,5 Milliarden Pfund für die kommenden vier Jahre aufgestockt, zudem soll es jährlich um 0,5 Prozent über dem Inflationswert wachsen. Allerdings besteht im Ausrüstungsplan 2020–2030 eine substantielle Finanzierungslücke.
Diese Erhöhung ist gleichermaßen ein Signal an Washington, dass London militärisch relevant und in Europa führend bleiben will. Neben dem in der IR beschlossenen Ausbau der nuklearen Abschreckung und der Marine will Großbritannien seine Cyber- und Weltraumfähigkeiten verbessern und neue Technologien in die Streitkräfte integrieren. Gleichzeitig soll (zumindest mittelfristig) das euroatlantische Engagement Priorität behalten; der IR zufolge ist Russland die »most acute« Bedrohung. Langfristig wird die Pazifikregion entscheidend.
Die IR und die militärische Umsetzung (Defence in a Competitive Age) beantworten mehrere Fragen nur teilweise. Zunächst wird das VK selbst mit der Aufstockung des Verteidigungshaushalts global nicht allein handlungsfähig; der britische Flugzeugträger im Indo-Pazifik beispielsweise braucht US-Geleitschutz. Ferner könnte es durch die globale Ausrichtung Fähigkeiten abbauen, die laut Nato in Europa benötigt werden, etwa im Landbereich. So soll das Heer von der ursprünglichen Planungsgröße 82 000 auf 72 500 Mann im Jahr 2025 verkleinert werden (vgl. SWP-Aktuell 101/2020). Mit dem Schwenk nach Asien gewinnt London militärisch zwar an globaler Sichtbarkeit, hat aber dort nicht den gleichen strategischen Einfluss, den seine Fähigkeiten in Europas Verteidigung haben, wo sie (noch) eine Schlüsselrolle spielen.
Ablehnung der EU als außenpolitischer Akteur und Partner
Eine Zusammenarbeit mit der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik lehnt die britische Regierung bisher weitgehend ab. Während die Kooperation in diesem Bereich mit einzelnen EU-Staaten, allen voran Frankreich und Deutschland, großteils vom Brexit abgekoppelt wurde, hat die Zusammenarbeit mit der EU an sich deutlich gelitten. Premier Johnson unterschrieb noch im Januar 2020 gemeinsam mit dem Austrittsabkommen die (rechtlich unverbindliche) politische Erklärung über die zukünftigen EU-VK-Beziehungen, die unter anderem das Ziel einer engen »Sicherheitspartnerschaft« beinhaltete. Hierzu sollten ein regelmäßiger Austausch in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehören, eine Abstimmung bei Sanktionen oder die Beteiligung des VK an Operationen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP).
Davon ist bei der Aushandlung des künftigen Verhältnisses 2020 nichts geblieben. Wenige Tage nach Unterschrift der politischen Erklärung veröffentlichte die britische Regierung ihr Verhandlungsmandat, in dem sie keine institutionalisierte Zusammenarbeit mit der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik mehr vorsah. Das Wort »Verteidigung« oder Bezüge zur Kooperation auf diesem Gebiet fehlten. Als Folge sucht man Regelungen zur Kooperation in der Außen- und Sicherheitspolitik im HKA vergeblich. Ein Austausch über diese Themen ist selbst in den mit dem HKA geschaffenen EU-VK-Institutionen nicht geplant. US-Außenminister Antony Blinken nahm jüngst am EU-Außenministerrat als Gast teil – dergleichen wünscht London nicht.
Auch in der IR blendet London die EU als Akteur oder gar Partner in der Außen- und Sicherheitspolitik aus; erwähnt wird sie ausschließlich als Partner in der Klimapolitik. Zudem hat das britische Außenministerium dem EU-Botschafter die diplomatische Anerkennung mit dem Argument verwehrt, damit einen Präzedenzfall für andere internationale Organisationen zu setzen. Dies ist wenig überzeugend, zumal nicht nur alle anderen 140 Drittstaaten mit EU-Delegation deren Botschafter anerkennen, sondern auch das VK bis zu seinem EU-Austritt Personal für den Europäischen Auswärtigen Dienst gestellt und mit diesem zusammengearbeitet hat. In seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2021 skizziert Boris Johnson ein »Global Britain«, das sich für das Erstarken des Westens und die multilaterale Weltordnung einsetzt – in der die EU aber in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht vorkommt.
Ähnlich trüb sind die Aussichten in der Verteidigungspolitik. Die EU hat Großbritannien angeboten, sich unter den regulären Bedingungen für Drittstaaten an GSVP-Operationen oder Projekten der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit zu beteiligen. Letzteres streben mittlerweile selbst die USA an. Die britische Regierung hingegen lehnt alle Möglichkeiten ab.
Die britisch-europäische Kluft
Der britische Positionswechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik lässt sich zum großen Teil mit der innenpolitischen Dynamik im VK erklären. Hier setzten sich 2019 die harten Brexit-Befürworter durch. Boris Johnson holte nach seiner Amtsübernahme ausschließlich Brexiteers in sein Kabinett, die wie Außenminister Dominic Raab teils ihre gesamte politische Karriere für den EU-Austritt gekämpft haben. Während die EU in der Handelspolitik oder der inneren Sicherheit von so zentraler Bedeutung ist, dass sich das VK unausweichlich mit ihr arrangieren muss, bleibt sie in der Außen-, Sicherheits- und vor allem der Verteidigungspolitik schwach.
Daher setzt London darauf, die EU in diesem Bereich folgenlos umgehen zu können und sich stattdessen bi- und multilateral namentlich mit Frankreich und Deutschland direkt abzustimmen, zu einem geringeren Grade auch mit Polen oder den nordischen Staaten. Dieser Fokus auf alternative Formate kann durchaus als Versuch gewertet werden, die EU außen- und sicherheitspolitisch zusätzlich zu schwächen. Dies ist nicht nur eine verpasste Chance für eine dringend notwendige positive Kooperation zwischen der EU und dem VK, sondern erhöht ebenfalls das Risiko, dass die Europäer von Dritten wie Russland, China und in Einzelfällen auch den USA gespalten werden. Außerdem verlieren insbesondere zwischen der EU und dem VK nicht abgestimmte Sanktionen an Wirkungskraft und die Gefahr steigt, dass die Briten sich auch in der Außen- und Sicherheitspolitik schrittweise von der EU entfernen.
Die EU tut sich ihrerseits schwer mit der außen- und sicherheitspolitischen Kooperation mit dem VK. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) steht im Widerspruch zu Bilateralisierungen, »cherry-picking« und zur ausschließlichen Nutzung flexibler Formate. Das EU-Mandat für die Aushandlung der zukünftigen Beziehungen zielte zwar auf eine Zusammenarbeit in diesem Politikfeld ab, betonte aber ausdrücklich die Bewahrung der »Entscheidungsautonomie« der EU. Angeboten wurde dem VK lediglich, sich als Unterstützer ohne Mitspracherecht an EU-Entscheidungen zu beteiligen, was mit seinem außen- und sicherheitspolitischen Gewicht sowie seinem Selbstverständnis kaum vereinbar ist.
Mögliche Formate
In der Folge findet die Zusammenarbeit zwischen dem VK und den EU-Staaten in der Außen- und Sicherheitspolitik zurzeit primär in flexiblen Formaten statt. Diese sollten im gegenseitigen Interesse genutzt werden, um – oft in parallelen Prozessen – London in internationalen Fragen im europäischen Rahmen zu halten, externe Spaltungsversuche zu unterbinden und Großbritanniens Beziehung zur EU aufrechtzuerhalten. Folgende Formate bieten sich an:
Das derzeit oft diskutierte E3-Format, bestehend aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland, bezieht seine Reputation vor allem aus den Verhandlungen zum Nuklearabkommen mit dem Iran seit 2003. Seit 2016 ist seine Bedeutung gestiegen: Es gilt als Möglichkeit, trotz des Brexits außenpolitische Koordinierung zwischen den drei großen europäischen Ländern zu gewährleisten, der schwachen GASP Anstöße zu geben und den Umgang mit dem schwierigen US-Präsidenten Donald Trump (2017–2021) abzustimmen. Treffen fanden häufiger statt, die Themenpalette wurde verbreitert (vom Südchinesischen Meer bis zur Vergiftung des Agenten Sergej Skripal), neben den Außenministern trafen sich die Verteidigungsminister, Partner wurden assoziiert. Das E3-Format erlaubt, London auch ohne institutionelles Abkommen in EU-Entscheidungen indirekt einzubeziehen, Positionierungen über EU-Themen hinaus abzusprechen und gemeinsam vorzugehen.
Allerdings befürchten andere EU-Staaten ein exklusives und intransparentes Format, das die europäische Geschlossenheit zu unterminieren droht, Interessen anderer Staaten nicht berücksichtigt oder gar als Direktorat Entscheidungen vorgibt. Die Atomverhandlungen mit dem Iran wurden über eine einflussreiche Rolle des HV an die EU angebunden; dieser war bei der jüngsten Wiederbelebung des Formats jedoch nicht anwesend. Auch gilt es zu verhindern, dass London einen Erfolg der E3 als Misserfolg der EU-Außenpolitik deklariert und die normative Auseinandersetzung vorantreibt.
Erfolgversprechend mit Blick auf Ergebnisse und Akzeptanz scheint eine themenspezifische temporäre Ergänzung: E3 + X. Wenn es um die östliche Nachbarschaft der EU geht, könnte etwa Polen dazukommen. Für die EU-Nato-Kooperation böte sich E3 + Nato-Generalsekretär + EU HV an. Berlin und Paris sollten darauf drängen, den HV einzubinden, um die Legitimität der Union zu stärken. Er könnte ihre Interessen vertreten und als »watchdog« der anderen EU-Staaten deren Positionen einbringen. Perspektivisch könnte auch der lang diskutierte »Europäische Sicherheitsrat« zur Einbettung Londons genutzt werden, zu dem aber noch viele Fragen geklärt werden müssten.
Die Quad, in diesem Fall die E3 und die USA, hat in der Vergangenheit auf Ebene der politischen Direktoren gut funktioniert, was Informationsaustausch und Koordinierung angeht. Seit Blinken US-Außenminister ist, traf sich zudem die Außenminister-Quad mehrfach, etwa zum Iran, zu Myanmar und China.
Wie bei den E3 liegt die Herausforderung der Quad darin, dass andere EU-Staaten ihre Nichtbeteiligung kritisieren, allen voran Polen, Italien und Spanien. Zu Recht verweisen Letztere darauf, dass sie bei bestimmten Themen genauso viel oder mehr Einfluss oder Fähigkeiten einbringen können wie die E3, etwa mit Blick auf die Südflanke der EU. Die USA haben aus Sorge vor solchen Beschwerden den Begriff »Quad« lange vermieden. Londons Fokus auf die E3 und die Quad deutet auf ein britisches Politikverständnis hin, das auf die USA und große Staaten setzt, anstatt themenbezogen nach relevanten Akteuren zu suchen. Diese Lesart sollte sich Berlin nicht zu eigen machen, sondern wie beim E3-Format auf einer themenspezifischen temporären Erweiterung der Quad insistieren. So könnte Deutschland in seiner Brückenfunktion sicherstellen, dass auch die Interessen der EU-Partner einbezogen werden.
Auf globaler Ebene bietet sich als flexibles Format die G7 auch zur Koordination in der Außen- und Sicherheitspolitik an. London hat während seiner G7-Präsidentschaft das Format für außenpolitische Koordinierung genutzt, begünstigt durch den Machtwechsel in Washington. Vorteil ist hier, dass die EU bereits G7-Mitglied ist und der HV an den Erklärungen der G7-Außenminister beteiligt war. Nach Großbritannien übernimmt 2022 Deutschland die G7-Präsidentschaft, könnte also die außen- und sicherheitspolitische Nutzung des Formats fortführen.
Die Nato bleibt das zentrale militärpolitische Forum für europäische und transatlantische Koordination. Es liegt daher in beiderseitigem Interesse, dass Großbritannien ein starker und verlässlicher Partner bleibt. Aus deutscher Sicht ergänzen EU-Verteidigungsinitiativen die Nato-Verpflichtungen und erhöhen die europäische Handlungsfähigkeit. Deshalb sollte die Nato-EU-Kooperation für eine weitere Anbindung des VK an EU-Initiativen genutzt werden. Versuche, EU und Nato gegeneinander auszuspielen, gilt es indes zu unterbinden.
Überdies sollte Deutschland dort, wo es seinen Interessen entspricht, die bilaterale Koordinierung mit London anstreben und durch regelmäßigen Austausch stärken. Bi‑ und minilaterale Gespräche mit London könnten zum Beispiel dazu dienen, EU-Sanktionsentscheidungen zu flankieren. London hat sich seit dem Brexit-Referendum um engere bilaterale Beziehungen bemüht, nicht zuletzt aufgrund der Annahme, Berlin könne die EU-Verhandlungen (und EU-Politiken allgemein) maßgeblich beeinflussen. Deutschland hingegen hat Wert darauf gelegt, die Zusammenarbeit mit den EU‑27 zu priorisieren und den Eindruck zu vermeiden, eine bilaterale Kooperation könne diejenige innerhalb der EU unterminieren.
Nach dem Vollzug des Brexits besteht Spielraum für Deutschland, diese Balance hin zu etwas mehr bilateraler Kooperation mit dem VK zu verlagern. Denn gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik ist die Entscheidungsautonomie der EU nicht gefährdet; vielmehr ist es sinnvoll und geboten, London parallel einzubinden, solange dies in Ergänzung und nicht anstelle der außen- und sicherheitspolitischen Kooperation innerhalb der EU stattfindet. Die seit langem geplante Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung zur bilateralen Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik könnte hier ein positives Signal senden.
Ad‑hoc-Koordinierung mit der EU: Schließlich sollte sich Deutschland dafür einsetzen, dass trotz des schwierigen Verhältnisses zwischen EU und britischer Regierung alle flexiblen Möglichkeiten zur EU-VK-Koordinierung ausgeschöpft werden. Vorbild hierfür könnte die zunehmende Abstimmung mit den USA sein: In Analogie zu den Besuchen von US-Präsident und US‑Außenminister im Europäischen Rat bzw. Außenministerrat könnte etwa der britische Außenminister eingeladen werden zu Beratungen zum Umgang mit Russland oder zum Vorgehen im Indo-Pazifik. Solche Ad‑hoc-Formate könnten schrittweise Vertrauen aufbauen und in Einzelfragen den Nutzen gegenseitiger Koordinierung unterstreichen, ohne dass die Entscheidungsautonomie der EU oder die britische Souveränität eingeschränkt würden.
Zielkonflikte mit Blick auf die künftige Zusammenarbeit
Die Einbindung Großbritanniens in außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Kooperation(en) stellt gerade Deutschland vor erhebliche Zielkonflikte, muss es doch zwei durch den Brexit gegensätzlich gewordene Interessen abwägen: Einerseits bleibt das Vereinigte Königreich ein wichtiger Partner, mit dem Deutschland viele Interessen, Werte und Herausforderungen teilt. Andererseits erschwert die ideologisch getriebene grundsätzliche Ablehnung Großbritanniens, mit der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik zu kooperieren, die Abstimmung derzeit beträchtlich. Solange die britische Regierung eine Zusammenarbeit mit der EU hier so kategorisch ablehnt, sind Partner wie Deutschland und Frankreich gezwungen zu wählen: zwischen einer Koordination innerhalb der EU und einer bi- bzw. multilateralen Zusammenarbeit mit dem VK. Dieser Zielkonflikt wird sich angesichts der verhärteten Positionen nicht kurzfristig lösen lassen.
Mittelfristig ist daher mit »ad hocism« und Kooperationen in kleineren Formaten (wie den E3) zu rechnen. Informelle Kontakte zwischen dem VK und der EU bzw. einzelnen EU-Staaten werden dominieren, darüber hinaus wird bei gemeinsamen Interessen eine themengebundene Koordination stattfinden, beispielsweise bei Sanktionen. Die belasteten EU-VK-Beziehungen setzen jedoch auch der bilateralen Kooperation Grenzen, denn je weiter sich der Konflikt zwischen der EU und dem VK zuspitzt, etwa was Nordirland oder die Impfstoffverteilung angeht, desto schwieriger wird es für Deutschland und andere EU-Staaten wie Irland, normale Beziehungen zu London zu pflegen. Gleichzeitig kann eine erfolgreiche mittelfristige Kooperation (z. B. in den E3, der G7 oder bilateral) funktionierende Arbeitszusammenhänge wiederherstellen, Vertrauen aufbauen und positive Ergebnisse zeitigen – und somit die Basis für eine langfristige institutionalisierte Kooperation legen. Deutschland sollte sich dafür einsetzen, dass sich die EU-Länder untereinander über ihre bilaterale Zusammenarbeit mit dem VK austauschen, damit sie nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Thematisch ist sich die EU bzw. Deutschland mit Großbritannien bei den meisten außenpolitischen Dossiers einig. Hier ist Kooperation möglich, etwa mit Blick auf die COP26, den Iran oder Russland. Einige wenige Felder bergen Konfliktstoff, vor allem handelspolitische und regulatorische Fragen sowie pandemiebezogene Themen (Impfstoffe). Diese drohen das angespannte Verhältnis zu dominieren, wie der aktuelle Konflikt um das Nordirland-Protokoll zeigt.
Langfristiges Ziel sollte eine Normalisierung und Institutionalisierung der EU-VK-Beziehungen sein. Voraussetzung hierfür wären eine größere Offenheit der EU; eine veränderte politische Position Londons; eine erfolgreichere EU-Außenpolitik, die die Union als Partner attraktiver macht, oder eine Veränderung der internationalen Sicherheitslage, die mehr Kooperation erfordert. Das Superwahljahr 2024, in dem in den USA, in Großbritannien und der EU gewählt wird und sich alle drei Akteure potentiell neu aufstellen, könnte den Weg ebnen für qualitativ neue Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.
Bis dahin sollte das deutsche Interesse darauf ausgerichtet sein, durch regelmäßigen Austausch eine enge Koordination mit London zu gewährleisten, und zwar in bi- und minilateralen Formaten sowie in der Nato. Das übergeordnete Ziel sollte stets sein, die Außen- und Sicherheitspolitik der EU grundsätzlich und nachhaltig zu stärken. Jegliche Versuche Londons, kleinere Formate gegen die EU als Ganzes oder einzelne EU-Staaten gegeneinander auszuspielen und damit die Union zu schwächen oder vorzuführen, müssen abgewehrt werden. Die EU wie ihre Mitgliedstaaten müssen sich darüber im Klaren sein, dass die Zusammenarbeit mit London auf absehbare Zeit schwierig sein wird.
Dr. Claudia Major ist Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors und der Autorin wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
doi: 10.18449/2021A35