Seit der russischen Invasion der Ukraine erreichen uns täglich Berichte und Bilder von einer humanitären Katastrophe in der Schwarzmeerregion. Gleichzeitig droht eine weitere in vielen afrikanischen Staaten durch den Wegfall von Getreide- und Nahrungsmittelimporten. Wir sprechen mit Agrarökonomin Bettina Rudloff (SWP) darüber, warum die Ernährungssicherheit in Afrika oft an Importe geknüpft ist und welche Handlungsoptionen afrikanische und internationale Akteure jetzt haben. Sie sagt, es fehle der strategische Umgang mit bestehenden Lösungsansätzen und Hilfsmitteln wie Regionalkooperationen und Monitoringsysteme. Auch die Kooperation mit sogenannten nicht-traditionellen humanitären Geberstaaten wie China ist eine Option.
AH: Frau Rudloff, welche kurzfristigen und langfristigen Folgen sind durch das Ausbleiben bzw. die Reduktion von Getreideimporten zu erwarten? Können Sie kurz umreißen, welche Prozesse dadurch ausgelöst werden?
BR: Kurzfristig fallen physische und eingeplante Liefermengen weg. Länder wie Ägypten hatten mit bestimmten Importmengen gerechnet. Das heißt aber nicht, dass es diese Güter nirgendwo gibt. Aber während Ägypten und andere jetzt unmittelbar Ersatz suchen müssen, steigen die Preise für die gesuchten Güter auch für alle anderen.
Langfristig wird der Markt reagieren und sich auf den Anbau der attraktiven Produkte ausdehnen. Aber jetzt können wir nicht einfach wild neu aussähen. Das ist immer das Problem des Agrarsektors. Du kannst nicht auf einen Knopf drücken und hast automatisch mehr Weizen. Es dauert wahrscheinlich ein Jahr bis man hier die Reaktionen auf die aktuelle Situation sieht. Gleichzeitig ist die Anbaufläche letztlich begrenzt und auf Vorrat kann man auch nicht unbegrenzt einlagern, da es sich prinzipiell um verderbliche Produkte handelt.
AH: Also gibt es weltweit genug Güter. Es ist aber eine Frage des Geldes, ob man sich den Import leisten kann?
BR: Das wollen jetzt alle wissen: Reichen die Mengen denn insgesamt? Es ist ganz schwierig einen Überblick über die Gesamtbestände weltweit z.B. von Weizen zu bekommen. Es gibt Schätzungen, aber genau weiß man es eben nicht. Manche gehen davon aus, dass diesjährige Lücken ausgeglichen werden können, aber es ein generelleres Problem danach geben wird – alleine schon durch steigende Preise und damit Importkosten.
Aber das Problem sind ja nicht nur die steigenden Importkosten, sondern die damit steigende Anzahl der Hungernden. Es wird befürchtet, dass Staaten entweder so schnell keinen Ersatz finden oder dieser dann nicht für die Menschen bezahlbar ist. Sie hätten dann weniger zu essen. Die Schätzungen reichen von zusätzlich 10 bis 100 Millionen Hungernden.
Deshalb fokussieren sich alle darauf, was jetzt akut wegbrechen könnte, wenn ukrainischer und eventuell russischer Weizen wegfällt. „Wo kriegt man Ersatz her?“ Aber der Anstieg kommt ja zusätzlich zu einem bereits existierenden Riesenproblem: Wir haben mehr als 800 Millionen Hungernde weltweit. Die akuten zusätzlichen Bedarfe zu befriedigen heißt noch nicht, das Problem grundsätzlich zu lösen.
AH: Welche strukturellen, auch historischen Ursachen haben diese Abhängigkeiten bei Grundnahrungsmitteln wie Weizen?
BR: Für Nordafrika etwa kann man sagen, dass es um das komplexe Zusammenspiel dreier Faktoren geht: wirtschaftlich, politisch-kulturell und klimatisch.
Aus ökonomischer Sicht ist zunächst entscheidend: Warum beziehst du besonders von einem Produzenten, einer Region? Ein Faktor ist natürlich die geografische Nähe. Nordafrika, Schwarzmeer, Mittelmeer. Das liegt alles recht nah beieinander. Es ist unmittelbar einleuchtender von dort zu importieren als zum Beispiel aus Australien.
Wenn Pfadabhängigkeiten und längere Lieferbeziehung bestehen, können wahrscheinlich schneller größere Mengen vertraglich abgesichert werden oder es werden möglicherweise bestimmte weitere Vorzüge im Lieferangebot wie Beratungen oder Lagerunterstützung im Paket angeboten.
Damit entstehen dann aber nicht-diversifizierte Lieferketten. Dabei ist Diversifizierung eigentlich ein ur-ökonomisches Prinzip: Wenn es nämlich genau bei dieser einen dominanten Lieferbeziehung zu Problemen kommt, kann es schwierig werden. Das sehen wir ja gerade. Noch wichtiger als reine numerische Diversifizierung hin zu mehr Zulieferquellen ist es, dass man bei Schwierigkeiten flexibel und schnell reagieren kann.
AH: Welche grundlegenden Gegebenheiten führen dazu, dass afrikanische Länder Getreide meist importieren müssen?
BR: Manche afrikanische Staaten brauchen bestimmte Güteklassen im Sinne von Feuchtigkeit des Getreides. Wegen der Einlagerungsbedingungen bezog Ägypten etwa solche Güteklassen aus Ukraine und Russland und weicht nun aber erstmals Richtung französischen Weizen anderer Güteklasse aus.
Ein Problem sind die klimatischen Bedingungen. Sich in Nordafrika auf Getreide als Nahrungsgrundlage zu stützen, heißt von Importen abhängig zu sein. Die afrikanische Produktion leidet aber auch darunter, dass die eigene politische Priorität für den Agrarsektor nie hoch war. Seit Jahrzehnten gibt es eine Vereinbarung der Afrikanischen Union (AU), sich zu 10 Prozent der öffentlichen Ausgaben für den Agrarbereich zu verpflichten. Das sogenannte Maputo-Ziel. Doch das halten nur einzelne Länder ein.
AH: Wie wirkt sich die unsichere Versorgung auf das Verhältnis zwischen Zivilbevölkerung und Staat aus?
BR: Die Brotpreise haben eine wahnsinnige Symbolkraft. Das haben wir auch im arabischen Frühling gesehen. Es ging auch um Energiekosten, es ging auch um Wohnkosten und eine generelle Unzufriedenheit mit dem politischen System. Aber das Brot ist eine Art Leitsymbol. Politische Akteure haben daher den Reflex, den Brotpreis stabil zu halten. Aus dem Grund haben nordafrikanische Staaten Brotsubventionen eingeführt. Niedrige Preise wirken sich dann positiv auf Verbraucher aus, sind aber bei auch sonst fehlender Erzeugerförderung schlecht für Produzenten. Es geht meistens um die städtische Bevölkerung. Man sorgt sich vor möglichen Unruhen.
AH: Aus Somalia erreichen uns derzeit erste Bilder von diesjährigen Hungersnöten. Die aktuelle Krise kommt hier noch zusätzlich hinzu. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes hat Anfang April vor einer Hungerkrise gewarnt, die in diesem Jahr vielen afrikanischen Staaten drohe. Gewaltsame Konflikte treffen auf Dürreperioden in Ostafrika, während westafrikanische Staaten von schwachen Niederschlägen, einer steigenden Anzahl Vertriebener und Preisinflation betroffen sind. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen der Pandemie. Ist das „Zero Hunger“-Ziel in unerreichbarer Ferne?
BR: Ja, genau. Ich finde es ist wichtig zu betonen, das ist jetzt etwas Akutes. Krisen neigen dazu, dass man sich nur auf das Akute konzentriert. Das ist natürlich auch richtig. Aber der Rest wird gerne dabei vergessen.
Die FAO, also die UN-Organisation für Ernährung, sagt mittlerweile, dass Konfliktursachen zunehmend relevant oder die entscheidende Ursache für Hunger sind. Der Krieg gegen die Ukraine ist ein besonders dramatisches kriegsausgelöstes Versorgungsrisiko, da es hier um einen riesigen Agrarexporteur geht. Damit geht es neben dem eigenen Versorgungsrisiko auch um eines für Drittstaaten. Aber im Prinzip sind alle Konflikte ein dominanter Faktor für Hunger
Was kann man jetzt tun? Naja, es muss jetzt einfach schnell Geld in die Hand genommen und etwa der humanitäre Sektor unterstützt werden. Auch Hilfsorganisationen müssen höhere Preise für Getreide bezahlen - sie beziffern diese auf USD 70 Millionen pro Monat mehr Ausgaben.
Vor allem muss man dort in die Produktion investieren, wo es Kapazitäten des entscheidenden knappen Faktors gibt – Fläche. Da gibt es in Afrika Potenzial. Wenn es global mehr an versorgungsessenziellen Produkten gibt, dann ist der Markt nicht so angespannt und reagiert bei Krisen nicht so schnell mit hohen Preisausschlägen – es gäbe mehr Puffer und auch mehr Versorgungsmenge.
AH: Der humanitäre Sektor beklagt seit langem eine Finanzierungslücke. Wo könnte mehr Geld herkommen? Im Zuge des EU-China-Gipfels haben beide Seiten angekündigt, im Bereich Ernährungssicherheit zusammenarbeiten zu wollen. Wären solche Kooperationen eine Option?
BR: Es wäre auf jeden Fall einen Versuch wert. Auch abseits des Geldes und besonders bei China. Man schätzt, dass etwa 50 Prozent der weltweiten Getreidebestände in China liegen. Der andere große Agrar-Akteur ist übrigens Indien. Wir sollten zumindest versuchen, konstruktive Partnerschaften und Kooperationsmechanismen zu entwickeln. Vielleicht nach dem Motto: wir kümmern uns um Transport und Logistik und ihr habt die Bestände. Dieses Thema kommt in der aktuellen Diskussion zu kurz.
AH: Welche Anpassungsmöglichkeiten haben die betroffenen Länder selbst?
BR: Mittelfristig wäre es für die afrikanische Seite zentral, das Maputo-Ziel und ihren eigenen Einsatz für den Agrarsektor wiederzuentdecken. Das andere sind Regionalkooperationen. Es gibt schon vor Ort Ansätze für länderübergreifende Reservehaltung. Etwa das von der EU mitgeförderte Programm RESOGEST in Westafrika. Solche Ansätze geraten leider oft nach Abflauen von Akutkrisen wieder in Vergessenheit und könnten jetzt wieder neu belebt und für andere Regionen überlegt werden. Viele weitere Hilfen gibt es ja bereits seit Jahrzehnten. Die eigenen Prioritäten müssen natürlich die afrikanischen Staaten selber setzen, aber man kann immer wieder fragen, wie man das unterstützen kann und wo warum Umsetzungsprobleme bestehen.
AH: Welche Aspekte erhalten bisher zu wenig Raum in der Diskussion zu diesem Thema?
BR: Das Thema Frühwarnung und Monitoring. Hier gibt es etwa das Agricultural Market Information System (AMIS). Es wurde in der letzten Krise 2011 von der G20 ins Leben gerufen und soll fortlaufend beobachten, wo Knappheiten auftreten bzw. wo die Versorgung ausreicht. Die G20 benutzte das System besonders während der Pandemie quasi als Teil einer Kommunikationskampagne gegen Exportrestriktionen.
Exportrestriktionen sind leider DER Krisenreflex. Man kann immer nur wiederholen, dass es auch im Eigeninteresse liegt, davon abzusehen. Man drückt damit inländisch die Preise. Langfristig schadest du auch den eigenen Erzeugern, weil du ihre Produktivität und Planungssicherheit verringerst. Aber politisch wird es als wichtiges Signal genutzt: „Unsere Bevölkerung ist Top-Priorität“- auch wenn es anderen schadet.
Wir müssen auch davon wegkommen, nur auf die Endprodukte zu schauen, sondern strategischer denken. Was ist mit Düngemitteln, der Stabilität von Lieferketten und Transportwegen, wo sind logistische Flaschenhälse? Es sollte klarer sein, wo die entscheidenden Drehscheiben für bestimmte Produktlieferungen für bestimmte Regionen liegen. Eigentlich ist alles da, um das zu erkennen. Es geht vielleicht eher um eine Änderung der Denkweise hin zu einem strategischeren Zugang zum Thema Versorgungssicherheit auch jenseits von Mengenverfügbarkeit und Preisen.
Interview geführt von Anna Hörter, Forschungsassistentin mit Schwerpunkt Außenkommunikation im Projekt "Megatrends Afrika".
Die akuten Nahrungsengpässe durch den Ukraine-Krieg lassen sich auffangen, wenn auch zu höheren Preisen. Größere Risiken für Ernteausfälle wirken möglicherweise erst im Herbst. Politische Maßnahmen sollten jetzt umsichtig vorbereitet werden, meinen Bettina Rudloff und Linde Götz.
Viele afrikanische Staaten sind abhängig von Nahrungs- und Düngemittelimporten aus Russland und der Ukraine. Doch mit dem Krieg kommt es zu Verknappung und Preisinflation. Das bedroht vielerorts die Ernährungssicherheit der Bevölkerung und koppelt ausreichende Versorgung an die Kaufkraft Einzelner. In unserem neuen Kiel Policy Brief (IfW) entwerfen wir Szenarien, wie sich die Getreideversorgung langfristig entwickeln könnte.