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Ukraine-Krieg und Ernährungssicherheit: Umsichtige »Food First«–Strategie für den Herbst entwickeln

Kurz gesagt, 09.03.2022 Forschungsgebiete

Die akuten Nahrungsengpässe durch den Ukraine-Krieg lassen sich auffangen, wenn auch zu höheren Preisen. Größere Risiken für Ernteausfälle wirken möglicherweise erst im Herbst. Politische Maßnahmen sollten jetzt umsichtig vorbereitet werden, meinen Bettina Rudloff und Linde Götz.

Der Krieg gegen die Ukraine wirkt unmittelbar auf die Agrarmärkte: Er erschwert die Auslieferungen aus den Beständen ebenso wie die dort anstehende Aussaat vieler Getreidearten. Durch die Besetzung und Zerstörung von Schlüsselhäfen wird der Export weiter einbrechen. Aus Russland sind Agrarexporte auf dem Haupttransportweg über einige Häfen am Schwarzen Meer derzeit noch möglich. Allerdings berichten Reedereien, diese wegen der allgemeinen Gefährdungslage und der Sorge vor Geschäftsausfall einzuschränken.

Die Ukraine und Russland haben sich in der Post-Sowjetzeit zu dominanten Exportakteuren sowohl für Getreide als auch Sonnenblumen(öl) entwickelt. Ihre Ernteerträge beeinflussen daher schon länger internationale Mengen und Preise. Die Ukraine stellte zehn Prozent des weltweiten Weizenexportangebots, Russland sogar 24 Prozent. Bei Mais lieferte die Ukraine 15 Prozent der wichtigen Futtergrundlage. Der internationale Düngemittelmarkt ist noch stärker konzentriert: Mit Handelsanteilen einzelner Düngerkomponenten von fast 50 Prozent dominiert Russland etwa bei Ammoniumnitrat und Belarus mit 16 Prozent bei Kalidünger.

Mittelbar wirken die Finanzsanktionen zahlreicher Staaten und der EU gegen Russland auf Agrarexporte durch eine generelle Geschäftsunsicherheit, während spezifische Düngemittelsanktionen direkt auf Exporte abzielen: Aufgrund des Umgangs mit der Opposition in Belarus hatte die EU diese bereits im Sommer 2021 gegen den marktdominierenden belarussischen Kaliproduzenten »Belaruskali« verhängt und in der vergangenen Woche erweitert.

Der Krieg belastet eine ohnehin angespannte Marktlage für Agrar- und Düngeprodukte

Aktuell übersteigen die von der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) ermittelten Preise für viele Agrarprodukte bereits die historischen Hochs während der Nahrungsmittelpreiskrisen 2007 und 2011. Auch die Düngemittelpreise steigen seit Monaten auf ein Rekordniveau. Engpässe durch verringerte oder ausfallende Lieferungen von Getreide und Dünger aus Russland, der Ukraine und Belarus wirken zusätzlich preistreibend. Wie viele Länder nutzt auch Russland seit Pandemiebeginn zur Sicherung seiner eigenen Versorgung Exportrestriktionen für Agrarprodukte – trotz internationaler Warnungen vor diesen preistreibenden Maßnahmen. Erst diese Woche empfahl die russische Regierung, dass russische Unternehmen auch Düngerexporte begrenzen sollen.

Neben der Ukraine betreffen Ernte- und Lieferausfälle zunächst Länder, die aus der vom Krieg betroffenen Region landwirtschaftliche Erzeugnisse importieren und derzeit nach schnell verfügbaren alternativen Quellen suchen. Dies treibt die Preise auf den globalen Märkten und belastet dann alle Importeure, trifft jedoch einkommensschwache Länder und Menschen schwerer. Ägypten hat einen Importanteil von 60 Prozent russischem und 20 Prozent ukrainischem Getreide. Aber auch andere ohnehin versorgungsgefährdete Länder wie Libanon, Libyen, Jemen, Bangladesch und die Türkei kauften bislang den Großteil aus dieser Region. Die afrikanischen Länder Tschad und Niger importierten bis zu 80 Prozent ihrer Düngemittel sowie deren Rohstoffe aus Russland und Belarus, aber auch Europa und viele Länder Lateinamerikas bezogen große Anteile.

Kurzfristige Engpässe zu höheren Kosten und bei offenem Handel auffangen

Die betroffenen Länder haben unterschiedliche Anpassungsmöglichkeiten: Ägypten verfügt trotz starker Lieferabhängigkeit gegenüber der Region über zunächst noch ausreichende eigene Getreidelager. Im Libanon hingegen zerstörte die Hafenexplosion 2020 die Weizenlager und verringerte dadurch Lagerkapazitäten von sechs auf einen Monat, sodass ein kontinuierlicher Zulieferungsstrom nötig ist.

Verbleibende Versorgungslücken, die in Importländern nicht durch Umschichtung wie etwa durch mehr Nahrungs- statt Energieverwertung gelöst werden können, bedürfen Nahrungs- und auch Düngemittelhilfen. Diese werden infolge steigender Bezugs- und Lieferpreise allerdings teurer. Transport und die Auslieferung müssen bei Bezug aus der Region entlang der gefährdeten Route geschützt werden.

Der Handel muss offenbleiben, auf als gefährdet wahrgenommenen Routen eventuell geschützt werden und krisentypische, aber preistreibende Exportrestriktionen vermieden werden, sowohl innerhalb der EU als auch international.

Umsichtige »Food First« -Strategie für mittelfristige Risiken nötig

Erst in der Erntezeit im Herbst werden ausfallende Lieferungen der großen Agrarregion volle Wirkungen zeigen, die nur zu einem kleinen Teil durch Ernten anderer großer Produzenten wie Australien, die USA und die EU ausgeglichen werden können.

Große Agrarländer könnten eine vorausschauend koordinierte Marktentspannung verfolgen, um Potenziale für die Nahrungsversorgung schnell zu identifizieren. Damit daraus keine Symbolpolitik oder ein Protektionsreflex für die heimische Produktion entsteht, sollten aber Mengen- und Preiseffekte möglicher Ansätze wie Aussetzung von Flächenstilllegungsprogrammen, verringerter Agrarkraftstoffeinsatz oder Flächenumwidmung von Futter- zu Nahrungsmittelerzeugung genau abgeschätzt werden. Ist ein Beitrag zur Marktentspannung zu erwarten, sollten entsprechende Maßnahmen für das anstehende Erntejahr als befristete Krisenmaßnahme schnell auf den Weg gebracht werden. Auf preistreibende Sanktionen hinsichtlich Düngemittel und Agrargüter sollte weitgehend verzichtet werden, zumindest aber sollten sie von Hilfskonzepten begleitet werden, um Versorgungsrisiken aufzufangen.

Das in den vergangenen Agrarpreiskrisen von der G20 entwickelte Monitoringsystem »Agricultural Market Information System« (AMIS) sollte, wie zu Beginn der Corona-Krise, für eine groß angelegte internationale Aufklärungskampagne genutzt werden, um preistreibende Exportrestriktionen mittels Appellen zu verhindern. Wichtiger als diese Appelle wäre es aber, auf WTO-Ebene durchsetzbare strenge Kriterien und Fristen für diese der Versorgungssicherung dienenden Maßnahmen zu beschließen.

Perspektivisch sollte AMIS neben Agrarprodukten, Düngemitteln und Energieträgern den Zustand und Zugang zu Handelsinfrastruktur erfassen. Hier haben Einschränkungen großen Einfluss auf Angebot und Preis. Daher sollte sie in ein umfassendes Warnsystem für internationale Lieferpotenziale Eingang finden.

Für die Zukunft braucht es auch eine internationale politische Offensive für Düngemittel und ihre Rohstoffe: nicht nur die Marktsituation muss erfasst und bei Knappheit durch Hilfen begleitet werden. Es bedarf auch Technologien, um ihren Einsatz effizienter zu gestalten und die Düngemittelproduktion zu steigern. Ansätze zur Substitution – ob technologischer Art oder im Anbau – sind ebenso gefragt.


Dr. agr. Bettina Rudloff ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe EU / Europa der SWP.
PD Dr. habil. Linde Götz ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Agrarmärkte, Agrarvermarktung und Weltagrarhandel am Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO).