Eine Stabilisierung der Lage im Irak und in Syrien wird auch durch das Erstarken des »Islamischen Staates« erschwert. Ein Massenausbruch inhaftierter IS-Kämpfer könnte das Problem weiter verschärfen. Dem sollte Deutschland durch eine Rücknahme seiner Staatsbürger auch im eigenen Interesse vorbeugen, meint Guido Steinberg.
Im März 2019 verlor der »Islamische Staat« (IS) die letzte von ihm gehaltene Ortschaft in Ostsyrien, im Oktober starb sein Anführer Abu Bakr al-Baghdadi bei einem Angriff US-amerikanischer Spezialkräfte in Nordwestsyrien. Trotz dieser Rückschläge zeigt sich seit Frühjahr 2020 immer deutlicher, dass der IS an Stärke gewinnt. Nicht nur die Zahl der Anschläge nahm in den ersten Monaten des Jahres deutlich zu, sondern auch deren Qualität.
Nach dem Verlust des von ihm als Hauptstadt beanspruchten Mossul im Oktober 2017 zog der »Islamische Staat« sich in ländliche Gebiete im Norden und Westen des Irak zurück. Schnell wurde deutlich, dass der IS auch als Untergrundorganisation eine Gefahr darstellt. Schon seit 2018 machte er vor allem mit Mordanschlägen auf regierungstreue Einzelpersonen in entlegenen Dörfern und Angriffen auf isolierte Checkpoints auf sich aufmerksam. In Syrien konnte er sich aufgrund der Uneinigkeit seiner Gegner länger in größeren Orten halten, doch nach der Niederlage im ostsyrischen Baghuz verlegten geflohene Kämpfer den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten in die syrische Wüste. Die Zahl der verbliebenen aktiven Kämpfer im Irak und in Syrien liegt schätzungsweise bei 4000 bis 6000.
Seit April 2020 hat die Organisation in beiden Ländern die Frequenz und die Qualität ihrer Aktivitäten gesteigert. Anfang Mai verübte sie zwei aufsehenerregende Anschläge auf Sicherheitskräfte in den irakischen Provinzen Salah ad-Din und Kirkuk, die zeigten, dass der IS sich stark genug fühlt, um besser geschützte, »harte« Ziele anzugreifen. In Syrien ist ein ähnlicher Trend zu beobachten. Der IS operiert vor allem in der Wüste westlich des Euphrat in den Provinzen Deir ez-Zor und Homs, wo das Assad-Regime die Kontrolle hat. Anfang April griffen IS-Kämpfer die kleine Stadt Sukhna an der wichtigen Straße von Deir ez-Zor nach Homs und Damaskus an und töteten mehrere Soldaten. Außerdem wurden bei Kämpfen zwischen dem IS und dem Regime Einrichtungen der Gasindustrie in der Gegend schwer beschädigt.
Der wichtigste Grund für das Erstarken des IS dürfte der Teilrückzug der US-Truppen aus beiden Ländern sein. In Syrien reduzierten sie ihre Präsenz auf nur noch rund 500 Soldaten, die den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) – einem von der syrischen PKK angeführten Bündnis – im Nordosten beim Kampf gegen den IS helfen. Im Irak liegt ihre Zahl zwar noch knapp über 5000, doch haben die USA auch dort ihr Militär reduziert. Außerdem zogen sie sich aufgrund wiederholter Raketen- und Mörserangriffe iranisch kontrollierter Milizen von mehreren Basen auf nur noch zwei zurück. So sind sie nicht mehr in der Lage, den IS gemeinsam mit den Irakern auf breiter Front unter Druck zu setzen.
Ein zweiter wichtiger Grund für das Erstarken des IS ist die Corona-Pandemie. Diese führte zunächst dazu, dass die USA und ihre Verbündeten Trainings für das irakische Militär und die Sicherheitskräfte beendeten oder aussetzten. Außerdem wurden Armee und Polizei für die Kontrolle der Ausgangssperren eingesetzt oder blieben zur Prävention zuhause, so dass sie nicht mehr für den Kampf gegen die Terroristen verfügbar waren. In Syrien änderte sich die Situation bisher noch nicht, weil das Assad-Militär ohnehin seit langem unter Personalnot leidet und die meisten Einheiten im Westen des Landes stationiert sind – so dass der IS in seinen Operationsgebieten in der syrischen Wüste operieren kann.
Insgesamt verstärkt die Pandemie in beiden Ländern bereits länger absehbare Trends. Trotz der militärischen Niederlagen des IS bestehen die Probleme fort, die zu seinem Aufstieg ab 2012 führten. In Syrien ist dies der Bürgerkrieg, in dem das Regime nicht nur die Aufständischen, sondern auch die Zivilbevölkerung in den Rebellengebieten bekämpft – mit dem Ergebnis, dass der IS dort viel Zustimmung genießt. Ähnliches gilt für den Irak, wo die Regierung die sunnitischen Landesteile so massiv benachteiligt, dass viele Bewohner des Nordens und Nordwestens den IS vorziehen. Je mehr die Auswirkungen der Corona-Pandemie die Regierungen beider Länder schwächen, desto größer dürfte der Handlungsspielraum der Jihadisten werden.
Eine Stabilisierung der Lage rückt so in beiden Ländern in noch weitere Ferne als dies 2019 schon der Fall war. Der IS dürfte weiter erstarken, muss aber anhaltend hohe Verluste ausgleichen. Dies wird die Gefängnisse der syrischen Kurden zu einem Brennpunkt des Geschehens machen. Dort befinden sich insgesamt mehr als 10 000 IS-Angehörige in Haft, unter ihnen rund 2000 ausländische Kämpfer. Sollte es gelingen, auch nur einen Teil von ihnen zu befreien, würde dies die Kampfstärke des IS enorm steigern. Da die Organisation schon 2012 und 2013 mehrere irakische Gefängnisse angriff und dabei Hunderte Jihadisten befreite, ist davon auszugehen, dass sie auch in Syrien ähnliche Aktionen in Betracht zieht. Außerdem unternahmen Häftlinge zuletzt Ende März und Anfang Mai 2020 größere Ausbruchsversuche.
Diese Situation ist auch ein Ergebnis der jahrelangen Weigerung der Herkunftsländer, ihre Staatsbürger wiederaufzunehmen. Diese Politik ist insofern erstaunlich, als die Rechtslage eine Rücknahme vorschreibt und die Zahl der Kämpfer pro Land in den meisten Fällen überschaubar ist – im Falle der Deutschen zwischen 20 und 30 Mann. Außerdem bat die US-Regierung ihre Verbündeten schon früh, Gefangene in ihre Heimatländer zurückzuführen, da es in Syrien keine Kapazitäten für eine sichere Unterbringung gibt. Auch die mit dieser Aufgabe deutlich überforderten syrischen Kurden schlossen sich der Bitte an. Trotzdem gibt es in den meisten europäischen Ländern keine Anzeichen, dass sich an ihrer Haltung etwas ändert.
Die Gefahr eines Massenausbruchs verdeutlicht jedoch, dass dies eine kurzsichtige Politik ist. Sollten größere Gruppen befreit werden, bleibt ihnen kaum eine andere Wahl, als den bewaffneten Kampf wiederaufzunehmen. Dies liefe dem deutschen Interesse an einer Stabilisierung in Syrien und dem Irak diametral entgegen und könnte auch die Türkei und andere Nachbarländer betreffen. Wenn die Grenzen nach Europa nach dem Abebben der Corona-Pandemie wieder durchlässiger werden, könnte sich dies sogar auf die Sicherheitslage in Europa auswirken. Eine Rücknahme der deutschen Kämpfer ist deshalb dringender geboten denn je.
Dieser Text ist auch bei Zeit Online erschienen.
Nach der Liquidierung des IS-Anführers Baghdadi durch US-Spezialkräfte beginnt eine neue Phase der Terrorismus-Bekämpfung, die vor allem vom Rückzug der USA aus Syrien geprägt sein wird. Die Europäer müssen die entstehende Lücke nun schließen, meint Guido Steinberg.
doi:10.18449/2019A04
Die Fragmentierung der jihadistischen Bewegung
Die USA im Kampf gegen den Terrorismus
Die Grenzen kurdischer Politik
Ihren bewaffneten Kampf verstehen Jihadisten nicht nur als Mittel, um ein politisches Ziel zu erreichen, sondern erheben ihn zu einer zentralen Glaubenspflicht des Islam. Das Dossier behandelt das Phänomen in seinen unterschiedlichen regionalen Ausprägungen im Nahen/Mittleren Osten sowie in Afrika, Asien und Eurasien.
IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror