Am 23. September 2020 hat die Europäische Kommission ihren lange erwarteten Entwurf eines neuen Migrations- und Asylpakets vorgelegt, das die seit Jahren andauernde Blockade in diesem Politikfeld überwinden soll. Zentrale Elemente sind die geplanten Vorprüfungen von Asylverfahren an den EU-Außengrenzen und eine neue Arbeitsteilung unter den Mitgliedstaaten, die künftig die Wahl haben zwischen der Aufnahme von Schutzsuchenden und der Rückführung abgelehnter Asylbewerber. Die menschenrechtlichen Risiken, die diesen Neuerungen anhaften, sind immens. Da dies aber – wie die Lage auf den griechischen Inseln zeigt – auch für den Status quo gilt, ist das Für und Wider des Reformvorschlags sorgfältig abzuwägen. Eine Unterstützung des Reformpakets lässt sich nur rechtfertigen, wenn die von der Kommission angestrebte Kopplung restriktiver und schutzorientierter Elemente in den zwischenstaatlichen Verhandlungen beibehalten wird.
Seit der großen Flüchtlingszuwanderung im Jahr 2015 sind die Fronten in der EU verhärtet: Die Asylsysteme der Länder an den südlichen EU-Außengrenzen – allen voran Griechenlands – sind chronisch überlastet; die Regierungen fordern daher eine solidarische Verteilung der Neuankömmlinge in der EU. Dagegen lehnen die vier osteuropäischen Visegrád-Staaten ebenso wie Österreich eine verpflichtende Verteilung von Asylsuchenden oder anerkannten Flüchtlingen kategorisch ab. Die Regierungen der übrigen EU-Mitgliedstaaten stehen innenpolitisch unter Druck und beharren daher auf einer gesamteuropäischen Verteilung, um eine langfristig tragfähige Lösung zu erreichen. Die verheerenden Folgen dieser Blockadesituation sind wohlbekannt: Im Jahr 2020 kam es zu einem temporären Aussetzen des griechischen Asylrechts, zu rechtswidrigen Pushbacks auf offener See und einer so drastischen Unterschreitung humanitärer Standards in griechischen Erstaufnahmelagern, dass der Brand in Moria wie eine unvermeidbare Konsequenz wirkte.
Dieser dysfunktionalen Gemengelage versucht die Kommission mit einem »großen Wurf« zu begegnen. Ihr Reformvorschlag umfasst ein umfangreiches, komplexes Bündel an Mitteilungen und Gesetzesvorschlägen, an dem das Bemühen zu erkennen ist, weit auseinanderklaffende Positionen zu berücksichtigen. Die Kommission zeichnet dabei das Bild eines dreistufigen Gebäudes, wobei eine weitergehende Kooperation mit Drittstaaten und eine verstärkte EU-Außengrenzsicherung das Volumen an Asylgesuchen verringern und damit eine Lösung der bislang schwierigsten Frage erleichtern soll: der Verteilung von Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlingen innerhalb der EU. Politisch zentral ist ein neuer Interessenausgleich, mit dem das vermeintlich Unvereinbare zusammengebracht werden soll: Angestrebt wird eine gemeinschaftliche Verpflichtung aller Mitgliedstaaten, die gleichzeitig die Erstaufnahmeländer physisch entlastet und den Visegrád-Staaten garantiert, dass sie keine Flüchtlinge aus anderen EU-Mitgliedsländern aufnehmen müssen. Schlüssel hierzu ist die Umdeutung der Rückführung abgelehnter Asylbewerber und irregulärer Migranten in einen Akt europäischer Solidarität. Alle Details des umfangreichen Reformpakets ordnen sich dem Anliegen unter, die Gesamtlast der Asylgesuche schon an den Außengrenzen zu reduzieren und die Beteiligung an der Bewältigung des Restaufkommens so zu gestalten, dass jede Regierung innerhalb der EU ihren Beitrag mit ihren politischen Grundüberzeugungen vereinbaren kann.
Kernelemente dieses Ansatzes sind (1) die Vorprüfung von Asylgesuchen an den EU-Außengrenzen, (2) die Einführung eines mehrstufigen Solidaritätsmechanismus, der unterschiedliche Belastungssituationen berücksichtigt, und (3) die Europäisierung von Rückführungen inklusive des Aufbaus einer komplexen institutionellen Infrastruktur.
Vorprüfung und Beschleunigung von Asylanträgen
Die EU-Kommission will Verhältnisse wie im Lager von Moria durch eine massive Beschleunigung aller Verfahren vermeiden. Alle Asylsuchenden und irregulären Migranten sollen laut dem Vorschlag einer sogenannten »Screening«-Verordnung binnen fünf Tagen registriert und medizinisch untersucht werden. Zusätzlich soll durch den Ausbau europäischer Datenbanken (insbesondere von EURODAC) die Identifizierung von Einreisenden verbessert werden. Zugleich ist eine Vorsortierung in aussichtsreiche und wenig aussichtsreiche Asylanträge geplant. Für Asylsuchende aus Herkunftsländern, deren Asylanerkennungsraten unter 20 Prozent liegen, sollen beschleunigte Verfahren verpflichtend sein und in maximal 12 Wochen abgeschlossen werden. Bis dahin wird die Einreise verweigert, was im Falle einer Ablehnung zu einer zeitnahen Rückführung binnen weiterer 12 Wochen führen soll.
Die Kommission überlässt es den Mitgliedstaaten, ob sie Asylsuchende während des Screenings, des beschleunigten Asylverfahrens und vor der Rückführung in geschlossenen Lagern unterbringen. Insgesamt können sich dabei Aufenthaltszeiten von bis zu einem halben Jahr ergeben. Daher ist die Sorge berechtigt, dass – wie derzeit auf den griechischen Inseln – neue große und auf langfristigen Aufenthalt angelegte Lager entstehen könnten, mit allen bekannten Herausforderungen für die Wahrung der Menschenrechte der Betroffenen. Zusätzlich bestehen starke Zweifel, ob rechtsstaatliche Prinzipien in beschleunigten Grenzverfahren gewährleistet werden können, etwa das Recht, gegen Asylbescheide effektive Rechtsmittel einzulegen. Zumindest schlägt die EU-Kommission aber als Element der Screening-Verordnung einen unabhängigen »Monitoring-Mechanismus« in den jeweiligen Mitgliedstaaten vor, mit dem die Einhaltung von Grundrechten bei diesem Verfahren überwacht werden soll. Zudem sollen besonders schutzbedürftige Personen wie unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Regel von dem Verfahren ausgenommen werden.
Neuer Verteilungsmechanismus
Die seit Jahren umstrittene und dysfunktionale Dublin-Verordnung, die die Zuständigkeit für Asylverfahren regelt, soll abgeschafft werden. An ihrer Stelle ist eine umfassende neue Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement geplant, die nicht nur die Zuständigkeit für Asylverfahren regelt, sondern auch einen neuen Solidaritätsmechanismus vorsieht.
Dabei sollen nach wie vor die Staaten an den EU-Außengrenzen primär für die Bearbeitung der Asylgesuche verantwortlich sein, wie schon in der Dublin-Verordnung. Entsprechende Zuständigkeitsfristen will man verlängern, die Definition der Familienzugehörigkeit, nach der schon jetzt ein anderes Land zuständig ist als das Erstankunftsland, soll nun auf Geschwister ausgeweitet werden.
Der neue Kommissionsvorschlag zielt im Kern auf ein komplexes System der Lastenteilung, an der sich je nach Ankunftszahlen die Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Weise beteiligen können oder müssen. Für den »Normalzustand« plant die Kommission auf jährlicher Basis mit einem freiwilligen Kontingent von Plätzen zur innereuropäischen Verteilung, das primär Seenotrettungsfällen vorbehalten werden soll. Stehen einzelne Ankunftsstaaten unter »erhöhtem Druck«, sollen sich alle anderen Mitgliedstaaten nach einem EU-weiten Schlüssel (der die Größe der Bevölkerung und des Bruttoinlandsprodukts der Länder berücksichtigt) mit unterschiedlichen Beiträgen beteiligen, wobei gewisse Unterschreitungen dieser Quote erlaubt werden. Wer keine voraussichtlich Schutzberechtigten oder anerkannten Flüchtlinge aufnimmt, kann Leistungen zur Unterstützung von Rückführungen (»Rückführungspatenschaften«, siehe unten) oder andere Sachhilfen zum Migrationsmanagement beisteuern.
Die Kommission soll sicherstellen, dass länderübergreifend die jeweils erforderliche Mischung an Unterstützungsmaßnahmen gewährleistet ist. Allerdings werden erst in der dritten Stufe einer systemischen Krise wie im Jahr 2015 alle Mitgliedstaaten verpflichtet, an der Umverteilung oder Rückführung mitzuwirken. Letztlich ist es ein politischer Entschluss, eine solche Krise festzustellen, wie das auch die nie genutzte alte »Massenzustromrichtlinie« (2001/55/EG) vorsah, die nun ersetzt werden soll.
Dieses komplexe Modell soll eine sowohl »permanente« als auch »flexible« Solidarität garantieren. Die Annahme, dass sich das praktisch umsetzen lässt und von den Mitgliedstaaten unterstützt wird, beruht bisher aber nur auf der Hypothese, dass alle Beteiligten an einem Kompromiss interessiert sein sollten, weil sämtliche anderen Ansätze zur regelmäßigen Lastenteilung gescheitert sind.
Europäisierung der Rückführung
Seit der Covid-19-Krise und angesichts der jüngsten Ereignisse in Moria hat die Bereitschaft vieler EU-Mitgliedstaaten nochmals nachgelassen, sich für eine Übernahme von Flüchtlingen aus den Außengrenzstaaten zu engagieren. Dies erklärt auch, warum sogenannte »Rückführungspatenschaften« als neues Instrument eingeführt werden sollen. Hierbei sollen sich Mitgliedstaaten verpflichten, die Verantwortung für konkrete Personen zu übernehmen, die in belasteten Erstankunftsstaaten einen rechtsgültigen Ausweisungsbescheid erhalten haben. Entscheiden sich Staaten für diese Art der Beteiligung, übernehmen sie damit Verantwortung für die Koordination mit den Herkunftsstaaten.
In diesem Kontext sind die Mitgliedstaaten aufgefordert, ihre bilateralen Einflussmöglichkeiten zu nutzen, um Drittstaaten zu Vereinbarungen über eine verbesserte Rückübernahmekooperation mit allen EU-Mitgliedstaaten zu bewegen. Das würde auch Maßnahmen ermöglichen, die in nationale Zuständigkeit fallen. Zusätzlich will die EU-Kommission einen »Koordinator für Rückführungen« bestellen. Sollte die Rückführung von Personen ohne Aufenthaltsrecht binnen acht Monaten (in Krisensituationen sechs Monaten) nicht gelingen, ist der Mitgliedstaat verpflichtet, diese Person aufzunehmen – was letztlich einer Umverteilung »durch die Hintertür« gleichkommt.
Unklar ist, wie mit Personen verfahren werden soll, deren Identität sich nicht klären lässt, und welche Methoden einzelne Mitgliedstaaten anwenden werden, um Herkunftsländer zu bewegen, bei der Rückübernahme ihrer Staatsangehörigen zu kooperieren. Ein noch härteres Vorgehen als bisher könnte die Wirksamkeit, Legitimität und Nachhaltigkeit der EU-Migrationsaußenpolitik erheblich beschädigen.
Die Zukunft des Reformpakets
Nach ersten kritischen Stellungnahmen der Visegrád-Staaten ist ein gesamteuropäisches Stimmungsbild zu den geplanten Reformen am 8. Oktober 2020 beim Treffen des Rats der EU-Innen- und Justizminister zu erwarten. Parallel zu den Verhandlungen über das Paket verfolgt die EU-Kommission ein Pilotprojekt, das die Vorzüge des geplanten Ansatzes illustrieren und Zweifel an seiner Machbarkeit zerstreuen soll: Sie hat die Bildung einer Task Force angekündigt, die gemeinsam mit der griechischen Regierung eine stärker gemeinschaftlich geführte Erstaufnahmeeinrichtung auf Lesbos aufbauen soll. Sie soll das abgebrannte Lager in Moria ersetzen und eine adäquate Unterbringung und Registrierung von Asylsuchenden gewährleisten.
Ob dies ausreicht, um die Unterstützung der Mitgliedstaaten für eine umfassende Umsetzung des Reformpakets zu gewinnen, bleibt zweifelhaft: Die Gefahr ist groß, dass sie sich wie in der Vergangenheit ausschließlich auf restriktive Maßnahmen einigen. In diesem Falle würde sich die gemeinsame Politik letztlich auf weitere Verschärfungen der Außengrenzkontrollen und eine zusätzliche Reduzierung der irregulären Migration beschränken. Damit wäre der Status quo zementiert. Bestenfalls würde sich wie zuvor eine kleine Koalition »williger« Mitgliedstaaten im minilateralen oder bilateralen Rahmen darum bemühen, die humanitäre Katastrophe auf den griechischen Inseln, auf dem dortigen Festland und in den zahlreichen anderen Aufnahmelagern entlang der Balkanroute zu lindern und die Erstaufnahmeländer außerhalb der EU, insbesondere die Türkei, angemessen zu unterstützen. Dies dürfte dann Deutschland in besonderer Weise fordern.
Das Potential des Kommissionsvorschlags liegt daher explizit in seinem Charakter als Paketlösung, in der restriktive und schutzorientierte Elemente aneinander gekoppelt sind. Dies führt zwar zu einer ungemein komplexen Gesamtkonstellation, deren Verhandlung ebenso eine politische und institutionelle Mammutaufgabe ist wie die Umsetzung der vorgesehenen Maßnahmen. Letztlich bietet dies derzeit aber die einzige Hoffnung auf einen substanziellen Fortschritt in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik, bei dem sich Pragmatismus und Werteorientierung die Waage halten. Angesichts dessen sollte ein »Aufschnüren« des Pakets unbedingt verhindert werden.
Gleichwohl bleiben zahlreiche Fragen offen: Wie lässt sich gewährleisten, dass die geplanten Asylvorprüfungen, Erstaufnahmeeinrichtungen und Rückführungen menschenrechtskonform gestaltet werden? Welche Instrumente hätte die Kommission nach Annahme der Gesetzesänderungen, Mitgliedstaaten zu sanktionieren, die nicht umsetzungswillig sind? Wie kann sichergestellt werden, dass die für das kommende Jahr angekündigten Vorschläge zur Reform legaler Migration – die für eine Reduzierung der irregulären Migration und für echte Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitländer von überragender Bedeutung wären – nicht in den Hintergrund rücken?
Die dem Kommissionsvorschlag zugrundeliegende Absicht, eine Brücke zwischen den eher migrationsoffenen und den migrationsskeptischen Mitgliedstaaten zu schlagen, ist zu begrüßen. Das gilt allerdings nur dann, wenn die von der Kommission angestrebte Kopplung restriktiver und schutzorientierter Elemente in den anstehenden zwischenstaatlichen Verhandlungen beibehalten wird. Nur so ließe sich eine einseitige Fokussierung auf Abschreckung verhindern, die zweifellos mit weiteren schwerwiegenden Grundrechtsverletzungen einherginge.
Dr. Steffen Angenendt ist Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen, Nadine Biehler und Dr. Anne Koch sind Wissenschaftlerinnen, David Kipp Wissenschaftler dieser Forschungsgruppe. Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler der Forschungsgruppe EU / Europa. Das Aktuell wurde verfasst im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Projekts »Flucht, Migration und Entwicklung – Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für deutsche und europäische Politik«.
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doi: 10.18449/2020A78