Drei Monate vor den umstrittenen Parlamentswahlen hat Venezuelas Staatschef Nicolás Maduro Oppositionelle freigelassen und begnadigt sowie internationale Wahlbeobachtungsmissionen eingeladen. Die Zugeständnisse der Regierung ändern aber wenig an den unfairen Wettbewerbsbedingungen, meint Claudia Zilla.
Ob sich die Opposition in einem autoritären Regime an unfairen Wahlen beteiligen sollte oder nicht, ist ein althergebrachtes demokratisches Dilemma. Soll sie um jede noch so winzige Partizipations- und Repräsentationschance kämpfen und in Kauf nehmen, die Wahl durch ihre Teilnahme zu legitimieren? Oder soll sie zum Wahlboykott aufrufen und somit von vornherein auf institutionellen Einfluss verzichten? Auf diese Fragen gibt es keine allgemeingültige Antwort, die demokratischen Erfolg garantiert. In Venezuela hatte die Opposition bereits unter der Präsidentschaft von Hugo Chávez beide Möglichkeiten ausprobiert. Dass sie sich nun mit Blick auf die Wahlen für die Nationalversammlung (NV), das Einkammerparlament, am 6. Dezember 2020 vor diesem Dilemma spaltet und ihre Konflikte in der Öffentlichkeit austrägt, ist die schlechteste aller Optionen.
In einem politischen System gleichgeschalteter Gewalten ist die NV die einzig übrig gebliebene politische Institution mit pluralistischer Zusammensetzung. Diese diente der NV als demokratische Legitimation, ihren Vorsitzenden, Juan Guaidó, Anfang 2019 zum Interimspräsidenten Venezuelas zu erklären. Ansonsten war die NV aber machtlos, da die Exekutive und Judikative ihre Beschlüsse aberkannten. Ab 2017 übernahm dann eine durch die Regierungskräfte dominierte Verfassungsgebende Versammlung die gesetzgeberischen Aufgaben. Nun streiten sich drei Führungsfiguren der heterogenen Opposition über die politische Frage, während die humanitäre und sozioökonomische Agenda in den Hintergrund rückt: Herique Capriles, Mitglied der Partei Primero Justicia, befürwortet eine Wahlbeteiligung und unterstützt das Wahlbündnis »Die Kraft des Wandels«. Juan Guaidó, Abgeordneter der Partei Voluntad Popular, suchte in den vergangenen anderthalb Jahren hin und wieder den Dialog mit Regierungsmitgliedern. Er plädiert mit seinem »Einheitspakt für die Freiheit und freie Wahlen«, dem sich zahlreiche politische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen angeschlossen haben, für einen Wahlboykott, eine Volksbefragung und die Mobilisierung der Bevölkerung. Die Vorsitzende von Vente Venezuela, María Corina Machado, ist ebenfalls gegen eine Wahlbeteiligung. Gespräche mit der Maduro-Regierung lehnt sie ab. Den einzig möglichen Weg für einen Regimewechsel sieht sie in einer internationalen Militärintervention.
Auf der anderen Seite bemüht sich die Maduro-Regierung um eine innen- wie außenpolitische Legitimierung der Parlamentswahlen. Mehrere politische Gefangene wurden freigelassen, im Exil lebende politisch Verfolgte erhielten eine »Begnadigung« und internationale Regierungsorganisationen wurden eingeladen, Wahlbeobachtungsmissionen zu entsenden. Diese Konzessionen ändern jedoch wenig an der strukturellen Schieflage. Der Oberste Gerichtshof und die Wahlbehörde, die zentralen Institutionen im Wahlprozess, handeln als verlängerter Arm der Exekutive. Sie haben den Vorstand einiger Oppositionsparteien mit dem Vorwand einer »verfassungsmäßigen Vormundschaft« gegen regierungsnahe Politiker ausgetauscht und gravierende Eingriffe in das Wahlrecht vorgenommen, die unter anderem die Partizipationsrechte der Indigenen beschneiden. Der im September veröffentlichte UN-Menschenrechtsbericht dokumentiert zudem detailliert Staatsterror unter direkter Verantwortung der Regierungsspitze.
Mit ihrer Wahlstrategie riskiert die Regierung eine hohe Wahlenthaltung. Zwar ist unter den unfairen Bedingungen ein Wahlerfolg der teilnehmenden Oppositionskräfte auszuschließen; sie könnten aber einige Mandate erlangen. Wenn Guaidó, wie erwartet, die Wahlergebnisse nicht anerkennt, wird es sicherlich in seinem Interesse sein, unter Berufung auf »administrative Kontinuität« auf seiner Interimspräsidentschaft zu beharren. Nachdem diese ihre anziehende Symbolkraft im politischen Kampf eingebüßt hat, würde sie nun auch ihren institutionellen Charakter verlieren und in Konkurrenz mit den oppositionellen gewählten Abgeordneten geraten. Diesen Kandidatinnen und Kandidaten fehlt heute ein starker Rückhalt aus dem Ausland, da die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die Europäische Union (EU) eine Wahlbeobachtung abgelehnt haben. Seit dem 24. September führt aber eine EU-Delegation in Caracas Gespräche mit verschiedenen politischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen und bemüht sich um wahlrechtliche Mindeststandards. Doch ab kommendem Jahr könnten sich Teile der internationalen Gemeinschaft auch zunehmend schwertun, Guaidó mit Rückgriff auf konstitutionelle beziehungsweise juristische Argumente weiter zu unterstützen.
Eine Militärintervention aus dem Ausland ist nicht zu empfehlen und es wird auch nicht dazu kommen: Selbst der US-Sonderbeauftragte für Venezuela hat die Hoffnungen von Machado als »magischen Realismus« abgetan. Eine US-Regierung von Joe Biden dürfte sich von dieser Option noch weiter entfernen. Genauso wenig wird ein Wahlboykott oder eine Wahlbeteiligung im Dezember – und noch weniger die Kombination aus beiden – Maduro zum Sturz bringen. Inmitten einer humanitären Katastrophe in Pandemie-Zeiten kann auch der Druck der Straße nicht aufgebaut werden. Ein Macht- oder zumindest ein Regierungswechsel wird sich viel wahrscheinlicher aus Rissen in den regimetragenden Reihen ergeben – und vielleicht zu Beginn nicht mal eine nennenswerte Demokratisierung bedeuten. Und wenn eines Tages die Stunde der Opposition schlägt, was wird ihr Verdienst in den Augen der Bevölkerung sein? Wie stark wird sie sich für humanitäre Hilfe eingesetzt haben? Die Konzentration auf die politische Machtfrage hat sie von anderen, vielleicht sogar wichtigeren Aufgaben abgelenkt und jetzt noch einmal gespalten. Deutschland und Europa sollten zusammen mit lateinamerikanischen Staaten Geschlossenheit innerhalb der Opposition und ihre Verbindungen zur venezolanischen Diaspora fördern sowie Dialogkanäle mit der Maduro-Regierung offen halten. Während längerfristig Pläne für einen Übergang und Aufbau benötigt werden, sollte man den Fokus jetzt auf den Schutz der Zivilgesellschaft vor Not und Gewalt lenken.
Humanitäre Notlage und politische Blockaden – die EU steht in der Verantwortung
doi:10.18449/2020A66
Stationen für einen möglichen Ausweg aus der Krise
doi:10.18449/2019A14
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