Seitdem Nicolás Maduro im Jahr 2013 die Präsidentschaft Venezuelas übernahm, sind das Bruttoinlandsprodukt und die Erdölproduktion um mehr als 50 Prozent zurückgegangen. Verdoppelt haben sich dagegen die Institutionen: Es gibt zwei Legislativorgane, zwei Oberste Gerichtshöfe und seit Anfang 2019 mit der Selbsternennung von Juan Guaidó zwei konkurrierende Präsidenten. Die internationale Gemeinschaft ist gespalten, denn viele Staaten stellen sich hinter das Regime, etliche andere wiederum hinter die Opposition. In verschiedenen Initiativen behandeln Staatengruppen die Venezuela-Frage ohne Beteiligung der Konfliktparteien. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten von allen Handlungen absehen, die die Gefahr einer Militärintervention und eines Blutvergießens verschärfen könnten. Stattdessen sollten sie diplomatischen Druck ausüben, um die Bevölkerung vor Repression, Hunger und Krankheiten zu schützen und die Opposition zu stärken. Darüber hinaus sollten sie einen Konfliktlösungsprozess unterstützen, der von nationalen Akteuren getragen wird, lateinamerikanisch eingebettet ist und Demokratie zum längerfristigen Ziel hat.
Mit Beginn des Jahres 2019 setzte im venezolanischen Konflikt um einen Machtwechsel eine neue Dynamik ein. Nachdem sich Präsident Nicolás Maduro im Mai 2018 in einem vorgezogenen, weder freien noch fairen Votum hatte wiederwählen lassen, trat er am 10. Januar 2019 eine weitere Präsidentschaft an, diesmal für den Zeitraum bis 2025. Allerdings wurde sie ihm von der oppositionellen Nationalversammlung (NV) aberkannt. Daraufhin weigerten sich auch zahlreiche Akteure der internationalen Gemeinschaft, Maduro als Staatspräsidenten anzuerkennen. Zudem wählte die NV den Abgeordneten Juan Guaidó zu ihrem Vorsitzenden. Am 23. Januar ernannte er sich auf einer Großkundgebung in Caracas zum Interimspräsidenten des Landes. Oppositionsparteien und Bevölkerung versammeln sich hinter dem bisher weitgehend unbekannten, charismatischen jungen Politiker der Partei Voluntad Popular (Volkswille), die zur Sozialistischen Internationale gehört. Hinter ihn stellen sich auch zahlreiche Staaten, die ihn in seiner Übergangsaufgabe offiziell anerkennen, humanitäre Hilfe anbieten und Präsidentschaftswahlen verlangen. Von diesen Entwicklungen herausgefordert, hat die Regierung Maduro die Repression und den Ton des Diskurses verschärft.
Verstärkte Repression
Seitdem Juan Guaidó sich zum Interimspräsidenten erklärte und die Bevölkerung immer wieder massiv demonstriert, geht die Maduro-Regierung besonders repressiv gegen Bürgerinnen und Bürger vor. Laut einem Bericht der venezolanischen Menschenrechtsorganisation Foro Penal wurden zwischen dem 21. und dem 31. Januar 2019 in Venezuela 988 Personen willkürlich festgenommen. Im selben Zeitraum wurden zudem 35 Personen durch Schusswaffen getötet; es wird von mindestens acht außergerichtlichen Exekutionen ausgegangen. Dabei fällt auf, dass diesmal die Betroffenen überwiegend aus ärmeren Gesellschaftsschichten stammen und manche von ihnen minderjährig sind. Viele beteiligten sich zum ersten Mal an Protestaktionen, nicht wenige hielten sich nur in deren Nähe auf. Die meisten Verhaftungen (77%) fanden am 23. Januar selbst statt, aber nicht während der Demonstrationen, sondern im Anschluss daran, als die Bürgerinnen und Bürger sich auf dem Heimweg oder wieder zu Hause befanden. Bis zum 20. Januar 2019 gab es in Venezuela 273 politische Gefangene; bis zum 31. Januar stieg diese Zahl dramatisch auf 942 an. Unter ihnen sind 58 Militärs und 11 Minderjährige.
Die Opfer des Staatsapparates werden bereits bei der Festnahme misshandelt und im Gefängnis (auch sexuell) gefoltert. Ihnen wird rechtlicher Beistand, medizinische Versorgung und nicht selten der Zugang zu Nahrung und Wasser verweigert. Ähnliche Praktiken wurden bereits 2018 im Bericht der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte belegt.
Neben Milizen sind Einheiten der Streitkräfte und der Polizei für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Der venezolanische Sicherheitsapparat kann bei Aufklärung und Spionageabwehr auf Unterstützung aus Kuba zählen, die sogenannte G2 (Grupo Dos). Darüber hinaus spielen Militärgerichte besonders seit 2014 eine wichtige Rolle – nicht nur in Prozessen gegen Mitglieder der Streitkräfte, sondern auch gegen Zivilisten, die der Rebellion oder des Verrats beschuldigt werden, wie die Internationale Kommission der Juristen 2018 in einem Bericht aufdeckte.
Mittlerweile hat der regimetreue Oberste Gerichtshof in Venezuela der Aufforderung der Generalstaatsanwaltschaft Folge geleistet und Guaidós Konten eingefroren sowie ihm verboten, das Land zu verlassen. Nun droht ihm die Festnahme, nachdem er am 23. Februar die venezolanisch-kolumbianische Grenze überquerte, Südamerika bereiste und am 4. März nach Venezuela zurückkehrte.
Parallele Institutionen
Dem Machtkampf an der Staatsspitze zwischen Maduro und Guaidó, ausgelöst durch dessen selbsterklärte Interimspräsidentschaft, war bereits die Verdopplung der Legislative (2016) und Judikative (2017) vorausgegangen.
Zu Grabe getragen wurde die venezolanische Demokratie spätestens kurz nach den in der Wahlfreiheit bereits eingeschränkten Parlamentswahlen vom Dezember 2015, bei denen die Opposition einen Erdrutschsieg erzielt hatte. In der Folge haben die regimetreue Exekutive und Judikative die Kompetenzen und Ressourcen der Legislative systematisch und massiv beschnitten. Im Jahr 2016 ließ Maduro unter unfreien und unfairen Bedingungen eine verfassungsgebende Versammlung wählen, die aber keinen Verfassungstext erarbeitet, sondern gesetzgeberisch tätig ist. Seitdem gibt es zwei Parlamente, die sich gegenseitig nicht anerkennen. Im selben Jahr weigerte sich die Regierung, das Referendum über eine Abberufung Maduros abzuhalten, für das die Opposition die nötigen Unterschriften gesammelt hatte. Viele Staatsbedienstete, die unterzeichnet hatten, wurden entlassen.
Das Kräftemessen, das Regierung und Nationalversammlung 2016 im Hinblick auf die Ernennung von Richterinnen und Richtern vollführten, endete mit der Kooptation der Judikative durch die Regierung. Unabhängige und oppositionelle Juristen wurden verhaftet oder verließen das Land. Dies hinderte die von der Opposition dominierte NV nicht daran, im Juli 2017 33 Richterinnen und Richter zu ernennen, die im Exil ihr Amt auszuüben versuchen, hauptsächlich in Chile, Kolumbien, Panama und den USA. Der sogenannte Oberste Gerichtshof im Exil bzw. im Ausland arbeitet virtuell: Die Mitglieder der verschiedenen Fachkammern kommunizieren wöchentlich per Konferenzschaltung über das Internet und bearbeiten Klagen, die via E-Mail und eigene Webseite eingehen. Der Öffentlichkeitsarbeit dienen zudem ein Twitter- und ein Instagram-Account. Die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes im Ausland werden von der Regierung Maduro weder anerkannt noch befolgt. Dies betraf etwa ein Urteil vom 29. Oktober 2018, in dem das Exil-Gericht Maduro zu einer Haftstrafe verurteilte und ihn für abgesetzt erklärte.
Um die Parallelwelten zusammenzuführen und die wiederkehrenden Krisen zu überwinden, wurden in den Jahren 2016 und 2017/18 zwei Verhandlungsversuche zwischen Regierung und Opposition gestartet, begleitet von international geachteten Persönlichkeiten anderer Staaten. Die Verhandlungen wurden aber nach wenigen Monaten ergebnislos abgebrochen.
Verfassungsakrobatik
Repression, Gleichschaltung der Gewalten und Verdopplung der Institutionen belegen, dass die Verfassung von 1999, ausgearbeitet unter der Regierung von Hugo Chávez, heute nicht mehr Grundlage des Regierungshandelns ist. Im Unterschied zu den lateinamerikanischen Militärdiktaturen der 1960er bis 1980er Jahre versucht Maduro, seine Politik, seine repressiven Maßnahmen und seine Manöver mit staatlichen Institutionen dadurch zu untermauern, dass er sich auf den Verfassungstext und Wahlen beruft. Diese demokratische Fassade dürfte ein idealtypisches Merkmal moderner autoritärer Regime bilden, das sie nicht unbedingt harmloser macht, jedoch länger tolerierbar: sowohl für die Einheimischen als auch für die internationale Gemeinschaft.
Auch Guaidó unternimmt legalistische Bemühungen, um seine Selbsternennung als Interimspräsident zu legitimieren. Nachdem die NV weder die Präsidentschaftswahlen vom Mai 2018 als demokratisch noch Maduros Amtsantritt vom Januar 2019 als legitim anerkannt hatte, erklärte sie am 15. Januar durch einen legislativen Akt die Präsidentschaft des Landes als vakant und Maduro zum Usurpator. Diese Situation gab ihr den Anlass, drei Verfassungsartikel anzuwenden: Artikel 333 berechtigt Bürgerinnen und Bürger (mit oder ohne Amt bzw. Mandat), der Verfassung wieder Geltung zu verschaffen, wenn sie verletzt oder missachtet wurde. Artikel 350 gewährt dem Volk das Recht, sich gegen Regime, Gesetze und Autoritäten aufzulehnen, die die demokratischen Werte und Prinzipien untergraben sowie die Menschenrechte verletzen.
Während diese beiden Artikel sich auf den Bruch der Verfassung und das daraus folgende Widerstandsrecht beziehen, regelt Artikel 233 den Ausfall der Präsidentin oder des Präsidenten. Dort werden mehrere Fälle beschrieben, nämlich Tod, Rücktritt, Absetzung durch den Obersten Gerichthof, physische oder geistige Unfähigkeit, Abberufung per Referendum sowie Amtsvernachlässigung. Der aktuelle Verfassungskonflikt wird darunter erwartungsgemäß nicht erfasst. Da eine konstitutionelle Norm fehle, die die gegenwärtige Situation regle, spricht die NV von einem analogen Fall, auf den sich Artikel 233 beziehen ließe. Bei einem Ausfall des Staatsoberhaupts vor dem Amtsantritt, so Artikel 233 weiter, sollen binnen 30 Tagen Präsidentschaftswahlen stattfinden. Während dieser Zeit übernimmt der Präsident oder die Präsidentin der NV die Regierungsgeschäfte. In diese Rolle versetzte sich Guaidó mit dem Rückhalt der NV durch die öffentlichkeitswirksame Vereidigung im Januar 2019. Laut Beschluss der NV kommt ihm nun die dreifache Aufgabe zu, die Usurpation der Präsidentschaft durch Maduro zu beenden, eine Übergangsregierung zu bilden sowie freie und transparente Wahlen zu organisieren.
Am 5. Februar verabschiedete die NV das Statut, das den demokratischen Übergang und die Wiederherstellung der Verfassung regelt. Darin wird unter anderem die 30-tägige Frist des Artikels 233 der Verfassung flexibilisiert und nun auf jene Periode bezogen, die mit dem (nicht näher spezifizierten) Ende der Usurpation beginnt und mit der Bildung einer Übergangsregierung endet. Demnach sollen Wahlen so bald wie möglich und spätestens innerhalb eines Jahres abgehalten werden.
Kurz vor der Verabschiedung des Übergangsstatuts hatte die NV am 15. Januar das sogenannte Amnestiegesetz erlassen. Damit vollzog die Opposition einen Strategiewechsel in der Frage der Strafverfolgung des Chavismus und Madurismus. Straffreiheit stellt sie jenen regimetreuen Zivilisten und Militärs in Aussicht, die bereit sind, die Seiten zu wechseln und zum demokratischen Übergang beizutragen. Nachdem Guaidó vereidigt worden war, wurde der Gesetzestext vor laufenden Kameras internationaler Medien in Polizei- und Militärdienststellen verteilt. Guaidó hat sogar Maduro nicht aus der Gruppe der möglichen Begünstigten ausgeschlossen. Die USA unterstützen das so großzügige wie vage gehaltene Angebot der Opposition, während Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch kritisieren, dass es weder die zu berücksichtigenden Straftaten noch den Umsetzungsprozess spezifiziert. In dieser Mehrdeutigkeit stehe das Amnestiegesetz im Widerspruch zur Verfassung und zu den internationalen Verpflichtungen des venezolanischen Staates. Die Anzahl der in Frage kommenden Deserteure und Deserteurinnen bleibt bisher auf etwa 700 begrenzt – in einem Staat mit allein rund 2000 Generälen und zahlreichen Militärs an der Spitze der Ministerien, staatlichen Unternehmen und Regionalexekutiven. Hinzu kommt eine Reihe von Diplomaten und Diplomatinnen aus den venezolanischen Botschaften, die sich für Guaidó aussprachen.
Internationaler Übereifer
Obwohl in Venezuela Rechtmäßigkeit längst zur politischen Kosmetik verkommen ist und Artikel 233 der Verfassung die wackligste Stütze von Guaidós Ermächtigung darstellt, folgten viele Regierungen weltweit mit Nachdruck der daraus abgeleiteten legalistischen Argumentation: Sie waren entweder sofort oder nach einem Ultimatum von acht Tagen, in denen freie Wahlen angekündigt werden sollten, bereit, Guaidós Interimspräsidentschaft offiziell anzuerkennen und die Abhaltung von Präsidentschaftswahlen zu fordern. Darüber hinaus empfingen die USA und andere lateinamerikanische Staaten die von Guaidó entsandten Botschafterinnen und Botschafter. Guaidó besuchte zudem Ende Februar und Anfang März 2019 Kolumbien, Brasilien, Paraguay, Argentinien und Ecuador.
Indem diese Staaten das politische Bekenntnis zur Legitimität der Interimsregierung Guaidós zu einer offiziellen Anerkennung ausdehnten, gaben sie faktisch dem venezolanischen Verfassungsrecht den Vorrang gegenüber dem Völkerrecht. Zum einen gehört es zur völkerrechtlichen Tradition und Anerkennungspraxis der meisten Staaten, nicht Personen oder Regierungen, sondern Staaten anzuerkennen. Zum anderen richtet sich gemäß dem Völkerrecht die Anerkennung nach der tatsächlichen Ausübung der Macht in einem Staat, das heißt der effektiven Kontrolle über Streitkräfte, Verwaltung und Territorium. Die völkerrechtliche Anerkennung einer Regierung geht mit einer Reihe von Privilegien und Verpflichtungen einher, deren Nutzung und Erfüllung Regierungseffektivität voraussetzt. Die verfrühte Anerkennung einer revolutionären Regierung kann als Verletzung des Interventionsverbots gelten und sich konfliktverschärfend auswirken. Das trifft besonders auf das heutige Venezuela zu, da Guaidó als von Staaten anerkannter Präsident nun das Ausland um militärischen Beistand bitten könnte. Zwar erhöht die internationale Rückendeckung Guaidós politisches Gewicht, aber der diplomatische Schritt einer offiziellen Anerkennung seiner Interimspräsidentschaft facht den Konflikt weiter an. Dabei schränken die anerkennenden Staaten durch ihre ausdrückliche Parteilichkeit ihren Handlungsspielraum, etwa für Vermittlung, unnötig ein.
Politisierung humanitärer Hilfe
Die völkerrechtlichen Prinzipien staatliche Souveränität und Nichteinmischung stehen in einem Spannungsverhältnis mit dem humanitären Prinzip Schutz des Menschen, das durch das Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) seit 2005 aufgewertet wurde. Dieses legitimiert unter strengen Bedingungen militärische Maßnahmen zum Zwecke der humanitären Intervention.
In diesem Spannungsverhältnis bewegt sich zurzeit das politische Ringen um die humanitäre Hilfe in Venezuela und ihre Verknüpfung mit einem Regimewechsel: Während der Präsident die Menschenrechte systematisch verletzt, ist der Interimspräsident nicht in der Lage, Bürgerinnen und Bürger vor diesen Praktiken zu schützen. Während Maduro die humanitäre Krise leugnet, Unterstützung aus dem Ausland ablehnt und die Grenzen schließt, führt Guaidó die »Koalition Hilfe und Freiheit für Venezuela« an. Diese rekrutiert Hilfspersonal aus Bevölkerung und Nichtregierungsorganisationen Venezuelas und sammelt Hilfsgüter aus dem Ausland, vor allem den USA, in benachbarten Regionen jenseits der venezolanischen Grenze.
Die Kraftprobe zwischen Regierung und Opposition auf dem Feld der humanitären Hilfe erreichte am 23. Februar einen öffentlichkeitswirksamen Höhepunkt, als Guaidó sich an die Spitze einer LKW-Karawane mit Hilfsgütern setzte, die im kolumbianischen Cúcuta startete. Weitere Hilfstransporte wurden aus dem brasilianischen Roraima organisiert. Was mit einem internationalen Hilfskonzert und den Reden Guaidós sowie der Präsidenten Chiles, Kolumbiens, Paraguays sowie des Generalsekretärs der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Cúcuta begonnen hatte, endete wenige Kilometer hinter dem Grenzübergang in einem Zusammenstoß der Karawane mit dem Militär und der Polizei Venezuelas. Nach Angaben von Foro Penal wurden rund 60 Personen verletzt und mindestens zwei getötet. Daraufhin stoppte Guaidó die »humanitäre Lawine«. Über Twitter teilte er der internationalen Gemeinschaft offiziell mit, man solle, nachdem Maduro die Einfuhr der Hilfsgüter verhindert habe, nun alle Optionen offenhalten, um Venezuela zu befreien.
Anders als die USA schließen die Staaten Lateinamerikas und Europas, die auf Guaidós Seite stehen, eine Militäroption unmissverständlich aus. Allerdings fordern sie die Regierung Maduro auf, sowohl humanitäre Hilfe zuzulassen als auch Neuwahlen zu organisieren oder zurückzutreten. Bei diesem Zweiklang interpretiert Maduro die ausländische humanitäre Hilfe als Trojanisches Pferd, mit dem die Machtverhältnisse verändert werden sollen, das heißt als Instrument zum Regimewechsel. In diesem Kontext lehnten es die Vereinten Nationen sowie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und die mit ihm assoziierten nationalen Rotkreuz-Gesellschaften ab, sich an Hilfsaktionen zu beteiligen, die von Guaidó organisiert werden. Die Begründung lautet, dass hier die Prinzipien des humanitären Völkerrechts – Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit (etwa von politischen Zielen) – nicht beachtet würden. Immer mehr Nichtregierungsorganisationen erheben ihre Stimme gegen die Politisierung der humanitären Hilfe für Venezuela, für die sie Regierung wie Opposition gleichermaßen verantwortlich machen.
Internationale Sanktionspolitik
Andererseits erhöhen viele lateinamerikanische Staaten, die USA und die EU seit 2017 stetig den Druck auf das Maduro-Regime. Im August desselben Jahres schlossen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay unter Anwendung der Demokratieklausel Venezuela vom Mercosur, dem gemeinsamen Markt des Südens, aus. Im Juni 2018 verabschiedete die OAS eine Resolution, in der sie das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen nicht anerkannte und einen Bruch der Verfassungsordnung in Venezuela feststellte. Der Prozess des Austritts aus der OAS, den Venezuela mit seinem Antrag im Jahr 2017 eingeleitet hatte, wurde nun unterbrochen, nachdem viele OAS-Mitgliedstaaten Guaidó als legitimen Präsidenten anerkannt hatten und dieser einen Sondervertreter an die OAS entsandt hatte. Aus dem Treffen von 14 lateinamerikanischen Staaten, das im August 2017 in der peruanischen Hauptstadt stattfand, ging die Lima-Gruppe hervor, die sich um einen friedlichen Weg aus der Venezuela-Krise bemüht. Im Laufe ihrer Gipfeltreffen hat die Gruppe ihre Forderungen an die Maduro-Regierung verschärft. In ihrer Erklärung vom Februar 2019 in Bogotá bewertete sie Maduros Verbleib an der Macht als Bedrohung für Frieden und Sicherheit in der Region und rief Akteure in Venezuela wie im Ausland dazu auf, die Regierung Guaidó offiziell anzuerkennen. Im September 2018 hatten Argentinien, Chile, Kanada, Kolumbien, Paraguay und Peru gefordert, der Internationale Strafgerichtshof möge die Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuchen, die in Venezuela seit Februar 2014 verübt würden.
Die USA, Hauptabnehmer venezolanischen Erdöls, verhängen seit 2015 immer härtere Sanktionen gegen Venezuela. Dazu gehören Visabeschränkungen, das Einfrieren von Eigentum und Vermögenswerten sowie das Verbot für US-Staatsangehörige und -Institutionen, Transaktionen mit Personen durchzuführen, die auf der Specially Designated Nationals And Blocked Persons List verzeichnet sind. Kanada folgte den US-Maßnahmen gegen Venezuela im September 2017 sowie deren Verschärfungen im Mai 2018. Ferner stornierten das Außen- und das Finanzministerium der USA am 28. Januar 2019 die Öllieferungen der größten venezolanischen Erdölgesellschaft PDVSA. Zudem gaben sie die Kontrolle über deren in Texas ansässige Tochtergesellschaft CITGO und über die venezolanischen Staatskonten im Hoheitsgebiet der USA an Guaidós Interimsregierung ab.
Von EU-Seite besteht seit November 2017 ein Waffenembargo gegen Venezuela. Außerdem wurden die Vermögenswerte von Personen eingefroren, die als tragende Akteure des repressiven Regimes gelten. Auch wurde diesen Personen verboten, in Länder der EU einzureisen. Diese Maßnahmen wurden im März 2018 erweitert und verlängert. Staaten Europas wie die Schweiz und Norwegen schlossen sich den EU-Sanktionen mit ähnlichen Maßnahmen an.
Domino-Theorie
Über Jahre betrachtete Lateinamerika den Abbau von Demokratie und Rechtsstaat sowie die Verschärfung der humanitären Lage in Venezuela als rein nationale Angelegenheit. Aber erst in der Folge mehrerer Machtwechsel in der Region, des Versiegens venezolanischer Geldflüsse in befreundete Staaten und des Exodus von rund vier Millionen Venezolanerinnen und Venezolanern sind Druck und Bereitschaft in Lateinamerika hoch genug geworden, um das »Problem Venezuela« als ein regionales anzusehen.
Inzwischen ist die Venezuela-Krise jedoch nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch komplexer geworden: Einige Akteure inner- und außerhalb Lateinamerikas argwöhnen, dass sich hinter dem Engagement der USA in Venezuela eine umfassendere Regimewechsel-Strategie verbirgt, die längerfristig auch Kuba und Nicaragua erfassen wird.
Diese sogenannte Domino-Theorie wird nicht nur durch Äußerungen des US-Präsidenten und seines Vizepräsidenten Mike Pence sowie seines nationalen Sicherheitsberaters John Bolton genährt: Im Januar 2019 wurde der Republikaner Elliott Abrams, der bereits unter Ronald Reagan und George W. Bush außenpolitische Positionen bekleidet hatte, zum US-Beauftragten für Venezuela ernannt. Abrams ist eine äußerst umstrittene Figur in den interamerikanischen Beziehungen. An seinem Namen haften gravierende Vorwürfe wie die Verschleierung von Menschenrechtsverletzungen und der Aufrüstung bewaffneter Gruppen in den Konflikten Zentralamerikas der 1980er Jahre. Zudem fungiert Senator Marco Rubio, Sohn kubanischer Auswanderer und Befürworter einer harten Politik gegenüber Havanna, als informeller außenpolitischer Berater (und bisweilen als Regierungssprecher) in Lateinamerika-Fragen. Rubio vertritt den Bundesstaat Florida, wo eine große lateinamerikanische Wählerschaft registriert ist.
Aber auch Mitglieder der venezolanischen Opposition befeuern die Domino-Idee: Julio Borges, Abgeordneter der NV, bekräftigte während einer Pressekonferenz in den USA, es gehe im aktuellen Kampf nicht nur um Venezuela, sondern auch um Kuba und Nicaragua, um die Freiheit in der ganzen Region. Er bediente sich zudem der Metapher einer Berliner Mauer, die in Lateinamerika noch nicht gefallen sei, womit er wiederum implizit auf einen neuen Kalten Krieg verwies.
Domino-Thesen und Kalter-Krieg-Analogien haben jedoch eine verheerende Wirkung auf die Konfliktregelung, denn sie erweitern den Kreis der Konfliktparteien und fördern die Verhärtung der Positionen und somit die Konfrontation. Zwar sind neben den USA auch andere ausländische Akteure in den Venezuela-Konflikt involviert, allen voran Kuba, China und Russland. Ihre Rolle dürfte jedoch infolge eng definierter Prioritäten begrenzt bleiben. Es ist zu erwarten, dass Havanna seine Sicherheitsexperten aus den venezolanischen Institutionen abzieht, sobald der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« nicht mehr Venezuelas Staatsideologie ist. Für China, Hauptgläubiger Venezuelas, ist Vertragssicherheit, also die Rückzahlung seiner Kredite, wichtigstes Anliegen. Moskau wiederum ist stark daran interessiert, die Einmischung der USA in Venezuela gering zu halten.
Gespräche statt Gewalt
Das internationale Engagement im venezolanischen Konflikt sollte in erster Linie dem humanitären Schutz Vorrang einräumen, zur Deeskalation beitragen, den Blick auf die venezolanischen Akteure richten und für die lateinamerikanische Einbettung eines Dialogprozesses sorgen. Europa käme die Aufgabe zu, den regionalen Rahmen zu unterstützen.
Humanitärer Schutz. Die internationale Gemeinschaft sollte darauf hinwirken, dass das Maduro-Regime von repressiven Maßnahmen absieht, politische Gefangene freilässt und humanitäre Hilfe durch neutrale Akteure zulässt. Von deren Politisierung sollte Guaidó seinerseits Abstand nehmen. Zugleich sind seine körperliche Unversehrtheit und seine Freiheit streng zu schützen. Der Weg zur Abhaltung demokratischer Neuwahlen (unerlässlich ist die Präsidentschaftswahl, aber zugleich könnten auch Parlament oder Regionalexekutive gewählt werden) wäre dann in Gesprächen zwischen Regierung und Opposition zu ebnen. Dies würde bedeuten, zugunsten des unmittelbaren humanitären Schutzes der Bevölkerung von politischen Maximalzielen abzurücken.
Deeskalation. Internationaler Druck auf autoritäre Regime kann zwar zu deren Erosion beitragen und der Opposition gewissen Schutz geben. Die Politik eines Regimewechsels von außen führt jedoch lediglich in Ausnahmefällen zu nachhaltigen Demokratien, selbst wenn der Hilferuf aus dem Inland kommt. Daher sollte dringend vermieden werden, dass das Engagement der USA in der Venezuela-Frage die Rolle der venezolanischen Gesellschaft sowie Lateinamerikas verdrängt und dem gesamten Prozess den Charakter eines von außen aufgezwungenen Regimewechsels verleiht. Gleichermaßen zu verhindern ist, dass die US-Unterstützung für Guaidó im Falle einer Konflikteskalation in eine Militärintervention mündet. Dabei wäre die Gefahr außerordentlich groß, dass ein Gewaltchaos mit einem undurchsichtigen Geflecht zahlreicher staatlicher, parastaatlicher, gesellschaftlicher und krimineller Akteure entsteht.
Nationale Fokussierung. Zu Beginn des Jahres 2019 hat sich der Venezuela-Konflikt stark internationalisiert. Ein konstruktiver Ansatz zur Bewältigung der Krise erfordert, dass nationale Akteure im Mittelpunkt stehen. Die frische und dynamische Ausstrahlung Guaidós war entscheidend dafür, die NV aufzuwerten und überzeugend in der Öffentlichkeit zu vertreten sowie die Bevölkerung neu zu mobilisieren. Es empfiehlt sich, den Kreis der Teilnehmenden für die Anfangsphase eines Dialogs mit dem Regime klein zu halten. Im Verlauf des Übergangsprozesses sollten jedoch weitere nationale Akteure (wie Gewerkschaften, Verbände, Kirchen, Studentenbewegung, Vertreter und Vertreterinnen eines kritischen Chavismus) einbezogen werden, damit rechtzeitig der Grundstein für die gesellschaftliche Verankerung von Demokratie und Wiederaufbau gelegt wird.
Lateinamerikanische Einbettung. Lateinamerika ist heute geteilt zwischen den Regierungen, die sich hinter das Maduro-Regime stellen, und jenen, die auf einen Wandel drängen. In letzterer Gruppe herrscht wiederum keine Einigkeit über die Frage, ob man Guaidó anerkennen solle. Dabei verfolgen Mexiko und Uruguay einen Mittelweg aus der Krise, und zwar mit dem vorgeschlagenen »Mechanismus von Montevideo«, den auch karibische Staaten und Bolivien unterstützen. So nennt sich das Konzept für einen Prozess zur Überwindung der Krise in vier Phasen, der Dialog, Verhandlung, Verpflichtungen und Implementierung umfasst und in dem Neuwahlen keine Voraussetzung für Gespräche sind, sondern ein mögliches Ergebnis. Die Betonung auf Vertrauensbildung und Ergebnisoffenheit gehört zu den Stärken des Konzepts, das aber keine Dynamik entwickelte. Weder die zwei tragenden Länder noch die drei Persönlichkeiten, die eine Annäherung zwischen den Konfliktparteien fördern sollten, konnten die nötige diplomatische Zugkraft entfalten.
EU-Unterstützung für eine lateinamerikanische Staatengruppe. Zwar ist die EU in der Frage der Anerkennung von Guaidós Interimspräsidentschaft gespalten. Dennoch konnte sie eine internationale Kontaktgruppe bilden, die am 7. Februar an einem Treffen mit anderen lateinamerikanischen Staaten in Uruguay teilnahm. Vertreten waren die Regierungen von Bolivien, Costa Rica, Deutschland, Frankreich, Ecuador, Italien, den Niederlanden, Portugal, Großbritannien, Spanien und Schweden.
Aus der Divergenz in den Positionen könnte eine Ressource für die Bildung einer politisch ausgewogenen kleinen Gruppe lateinamerikanischer Staaten erwachsen, deren Engagement für beide Seiten annehmbar ist und die einen ersten Kommunikationskanal zwischen Regierung und Opposition herstellen. Auf diesem Wege sollten Erwartungen und Bedingungen nicht für einen Regimewechsel, sondern für die Aufnahme eines Dialogprozesses zwischen den Konfliktparteien geklärt werden. Eine solche Initiative wäre zwar nicht die erste, doch der Kontext hat sich mittlerweile verändert. Die Gespräche könnten diesmal vertraulicher geführt werden und Kuba als Garanten einbeziehen. Diese Gruppe sollte sich gegenüber der Maduro-Regierung und den sie tragenden Streitkräften als »friedliche Alternative« zur bedrohlichen Option einer US-Intervention präsentieren. Im Zuge von Verhandlungen wären unter anderem die Zugeständnisse an das Regime zu konkretisieren, die sicherlich mehr als das vage Versprechen einer Amnestie enthalten würden. Zu klären wäre, welche Länder die amnestierten Akteure aufnehmen werden. Die EU sollte einen solchen Dialogprozess intensiv begleiten und der lateinamerikanischen Gruppe beratend und mit technischen Mitteln unter die Arme greifen.
Schließlich sollten die Akteure der venezolanischen Opposition wie des Auslands, die sowohl eine Militärintervention als auch Verhandlungen ablehnen, an einen simplen Grundsatz erinnert werden: Wer für Wandel ist und nicht schießen will, muss reden. Das ist die einzig reale Alternative zum Bürgerkrieg.
Dr. Claudia Zilla ist Leiterin der Forschungsgruppe Amerika.
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doi: 10.18449/2019A14