Im Streit zwischen Präsident Erdoğan und seinem Amtskollegen Macron geht es um mehr als den Islam. Ankara wehrt sich gegen Frankreichs Bestrebungen, den Einfluss der Türkei auf die türkische Diaspora einzuschränken, und strebt die Führung in der sunnitischen Welt an. Europa sollte jetzt umsichtig vorgehen, meint Sinem Adar.
Seit 2019 verschlechtern sich die Beziehungen zwischen der Türkei und Frankreich. Derzeit stehen sich beide Länder in den Konflikten in Syrien, Libyen, im östlichen Mittelmeer und um Bergkarabach gegenüber. In der EU spricht sich vor allem Frankreich für einen Konfrontationskurs gegenüber der Türkei aus. Die aktuelle Kontroverse zwischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Präsident Emmanuel Macron fügt dem Zerwürfnis eine kulturelle Dimension hinzu. Am 25. Oktober erklärte Erdoğan, Macron brauche wegen seiner Islamfeindlichkeit eine »psychologische Behandlung«. Gleichzeitig rief er zum Boykott französischer Produkte auf. Daraufhin zog Frankreich seinen Botschafter aus Ankara zurück. Während sich die EU-Staats- und -Regierungschefs mit Frankreich solidarisierten, beschuldigte Pakistans Premier Imran Khan Macron, den Islam anzugreifen. Auch in Kuwait, Jordanien und Katar wurden Rufe laut, sich einem Boykott anzuschließen. Zu großen Demonstrationen kam es in Bangladesch, Libyen, Syrien und im Irak. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) hingegen unterstützten Macrons Aufruf, »die Ghettoisierung von Muslimen im Westen« zu verhindern, und warfen Erdoğan vor, religiösen Unfrieden zu stiften.
Hintergrund von Erdoğans Kampagne gegen Macron ist der französische Gesetzentwurf zur Verhinderung eines »islamischen Separatismus«. Dieser sieht unter anderem vor, dass Imame in Frankreich ausgebildet werden und dass der ausländische Einfluss auf Frankreichs muslimische Bevölkerung verringert wird. Am 17. Februar kündigte Macron an, die 1977 eingerichteten Austauschprogramme, die neben der Türkei acht weiteren Ländern ermöglichten, Imame und Lehrer nach Frankreich zu entsenden, durch bilaterale Abkommen zu ersetzen. Er signalisierte seine Bereitschaft, ein solches Abkommen mit der Türkei zu schließen, erklärte aber, dass die Türkei das einzige Land sei, mit dem Frankreich noch keine Übereinkunft in Bezug auf eine höhere Transparenz bei Finanzhilfen für Moscheen habe erzielen können.
Die Ursprünge des Konflikts gehen aber weiter zurück. Das Interesse des türkischen Staates am Leben seiner im Ausland lebenden Staatsangehörigen bestand schon vor der Gründung der Regierungspartei AKP und wurde von den europäischen Ländern weitgehend toleriert. Seit den frühen 2010er-Jahren verfolgt Ankara jedoch einen aktiveren Ansatz gegenüber der türkischen Diaspora. So können sich türkische Staatsangehörige durch Stimmabgabe im Ausland an Wahlen in der Türkei beteiligen. Darüber hinaus richtet sich Ankara mit speziellen Angeboten in den Bereichen Bildung, Familie und Jugend an sie. Vermutlich hätte nichts davon zu ernsthaften Einwänden geführt, wenn es nicht gleichzeitig zwei weitere Entwicklungen gegeben hätte: die dramatische Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Türkei und Europa seit dem Putschversuch 2016 und den damit verbundenen Bemühungen Ankaras, die Opposition innerhalb der Diaspora zu unterdrücken, unter anderem mit Hilfe der Geheimdienste. Diese Bestrebungen wurden und werden in mehreren europäischen Ländern mit Argusaugen beobachtet.
Frankreichs Aktionen, Ankaras Diaspora-Politik einzuschränken, können die Reaktion der Türkei aber nur zum Teil erklären. Eine zentrale Rolle spielt Erdoğans Bestreben, die Türkei zum Führer der sunnitischen Welt zu machen. Diesem Zweck dienen Initiativen wie die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee, die er als Vorbote für die Befreiung der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem darstellt; seine Rhetorik bezüglich Islamophobie in Europa; die Schaffung eines transnationalen muslimischen Raumes unter Einbeziehung von bekannten Intellektuellen, Meinungsmachern und Gelehrten sowie nicht zuletzt auch eine kulturelle Beeinflussung mit Hilfe türkischer Fernsehserien. Triebfeder dieser Bemühungen, die in der muslimischen Welt mit gemischten Gefühlen gesehen werden, ist neben dem regionalen Führungsanspruch Ankaras die Rivalität mit den VAE (und Saudi-Arabien).
Die türkische Unterstützung für die Muslimbruderschaft während und nach dem Arabischen Frühling bewerten einige unter anderem aus ideologischen und pragmatischen Gründen positiv. Andere meinen, dass die Türkei damit einen politischen Islam verfechte und Radikalisierung riskiere. Die Rolle der Türkei als Hauptaufnahmeland syrischer Flüchtlinge ist weithin anerkannt. Ihre unverhohlenen Fehden mit europäischen Staats- und Regierungschefs sowie kritischen Anmerkungen zur kolonialen und imperialistischen Vergangenheit Europas finden Zuspruch bei Muslimen in aller Welt, weil sie die hier vorherrschenden Meinungen widerspiegeln. Das Streben der Türkei nach einer sunnitischen Führungsrolle geht mit ihren Behauptungen einher, der westlichen Vormachtstellung entgegenzuwirken und die Rechte derjenigen zu verteidigen, die davon ausgegrenzt und unterdrückt werden.
Damit begründet Ankara auch den Streit mit Frankreich über den Islam. Die mehrfache und detaillierte Berichterstattung über Macrons Kommentare zum Islam in den türkischen Medien steht in bezeichnendem Gegensatz dazu, dass dort kaum etwas über die Enthauptung des französischen Lehrers Samuel Paty zu lesen ist. Die zunehmende Militarisierung der türkischen Außenpolitik, die Eingriffe der Türkei in die türkische Diaspora und ihre identitäre Logik fallen mit ihrer zunehmenden Isolation auf der internationalen Bühne zusammen. In diesem Zusammenhang sollte der Streit mit Frankreich auch als ein opportunistischer Schritt verstanden werden, um das Ansehen der Türkei unter den Muslimen zu stärken und gleichzeitig die gegnerischen arabischen Regierungen wie die der VAE zu schwächen.
Der Kulturkrieg zwischen der Türkei und Frankreich ist nur die Spitze des Eisbergs. Darunter verbergen sich die geopolitische Rivalität mit Frankreich und den VAE sowie die Instrumentalisierung des Islam, um die eigenen Ziele zu erreichen. Die Türkei zögert nicht, in diesem komplexen Wettstreit mit mehreren Akteuren zu destabilisierenden Taktiken zu greifen – sei es in Form von »Hard Power«, was in der zunehmenden Militarisierung ihrer Außenpolitik sichtbar wird, oder rhetorisch wie im Streit mit Paris.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssen Ankaras Rhetorik über die Bekämpfung der Islamophobie etwas entgegensetzen. Als Erstes sollten sie deutlich machen, dass sie die Motive hinter der türkischen Rhetorik verstehen. Und zum Zweiten sollten sie auf die Forderungen ihrer muslimischen Bevölkerungen reagieren. Angesichts der Tatsache, dass sowohl Islamophobie als auch islamistischer Extremismus in europäischen Ländern Realität sind, müssen die führenden Politikerinnen und Politiker Abstand nehmen von moralisierenden Diskursen. Stattdessen sollten sie integrative Gespräche darüber fördern, wie man den Islam integrieren und gleichzeitig den sozioökonomischen Ursachen der Radikalisierung entgegenwirken kann.
With his announcement that the Hagia Sophia will be reconverted into a mosque, Turkish President Tayyip Erdoğan is seeking to foment identity conflict for political gain. Thus far, the opposition has avoided the trap and declined to enter this fight. Salim Çevik argues that Europe should do the same.
doi:10.18449/2020WP05
A crucial aspect of Turkish State Islam in Germany
doi:10.18449/2020WP04
Analyse des Wahlverhaltens jenseits von »Loyalität gegenüber der Türkei« und »Mangel an demokratischer Kultur«
doi:10.18449/2020S06
Ihre Ziele, ihre Grenzen und ihre Herausforderungen für die türkeistämmigen Verbände und die Entscheidungsträger in Deutschland