Die neue globale Gesundheitsstrategie Deutschlands schafft ein solides Fundament für politisches Handeln, doch fehlt es ihr an einer zukunftsorientierten Ausrichtung. Es ist noch Zeit, um vorausschauende Politik zu beweisen, meint Susan Bergner.
Gepriesen von den Regierungsfraktionen als ambitioniert, kritisiert von der Opposition als Tropfen auf dem heißen Stein: Am 7. Oktober hat das Bundeskabinett unter Federführung des Bundesgesundheitsministeriums seine neue globale Gesundheitsstrategie verabschiedet. Diese hat sich im Vergleich zu ihrer Vorgängerin aus dem Jahr 2013 mit dem Titel »Verantwortung – Innovation – Partnerschaft: Globale Gesundheit gemeinsam gestalten« in entscheidenden Punkten weiterentwickelt. Neue Themenbereiche wie der Zusammenhang zwischen Klima und Gesundheit wurden aufgenommen; die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt wird durch den One-Health-Ansatz verknüpft; Arbeitsschutz wird zum ersten Mal als Thema für den Gesundheitsschutz betrachtet – und Koordinierungsmechanismen zwischen den für globale Gesundheit zuständigen Ressorts wurden erweitert. Doch fehlt es in dem Regierungsdokument an politischer Vorausschau.
In Deutschland haben Wissenschaft und Zivilgesellschaft lange auf die Aktualisierung der Strategie gewartet. Und auch international steigen die Erwartungen an Deutschland. Denn zentrale Akteure haben sich weitgehend aus der internationalen Gesundheitspolitik verabschiedet. Die USA treten aus der WHO aus und das Engagement Großbritanniens für globale Gesundheitsthemen lässt im Zuge der Brexit-Debatte und des Covid-19-Ausbruchs im eigenen Land immer mehr nach.
Die vorgelegte globale Gesundheitsstrategie fußt auf der werteorientierten und multilateralen Außenpolitik Deutschlands, wodurch sie ein solides Fundament hat. Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, Partnerschaften insbesondere mit der WHO und afrikanischen Ländern sowie eine menschrechtsbezogene globale Gesundheitspolitik werden als Rahmen für gesundheitspolitisches Handeln bestimmt. Der neuen Strategie zufolge sollen Gesundheitssysteme global gestärkt, die Forschung für globale Gesundheit ausgebaut und Herausforderungen wie Covid-19 begegnet werden. Allerdings wirkt sie dabei wie eine Bestandsaufnahme. Die Aussagen bleiben an vielen Stellen unkonkret und wenig zukunftsorientiert.
Doch um die globale Gesundheitslandschaft weiterzuentwickeln, ist eine zukunftsgerichtete Umsetzung der Strategie erforderlich. Eine solche gesundheitspolitische Zielsetzung würde Deutschland ein klares internationales Profil verleihen und die vielfältigen Gesundheitsthemen leichter bündeln und ausrichten lassen. Aus einer klaren Zielrichtung lassen sich letztlich besser konkrete Handlungsanweisungen ableiten, was wiederum zur Verbindlichkeit und Überprüfbarkeit der Strategie beiträgt. Der Bundestag kann bei einem Mechanismus zur Überprüfung der Strategie federführend sein. Der Unterausschuss für globale Gesundheit im Bundestag könnte die Durchführung der Strategie begleiten und den Fortschritt jährlich prüfen.
Der Gesundheitsstrategie der Bundesregierung ließe sich durch die folgenden drei Elemente eine Zukunftsorientierung geben: Durch eine übergreifende Zielsetzung, durch Perspektiven für die künftigen Rollenbilder und durch die Weiterführung aktueller Impulse. Deutschland zeichnet im internationalen Vergleich aus, dass es sich global für die Stärkung von Gesundheitssystemen einsetzt und nicht – wie die USA – einen Fokus nur auf die Eindämmung von Infektionskrankheiten wie Covid-19 legt. Daher sollte das übergeordnete Ziel in der Umsetzung der Strategie sein, künftigen Krisen durch resiliente Gesundheitssysteme zuvorzukommen. Damit würde Deutschland zukünftige Ereignisse bereits heute berücksichtigen und hätte so die Möglichkeit, über herkömmliche Gesundheitskrisen wie Pandemien hinauszudenken. Kommende Herausforderungen wie globale Krisen der mentalen Gesundheit mit einer steigenden Bedeutung von Depression oder Traumata, ein weltweiter Mangel an Gesundheitsfachkräften mit schwerwiegenden Folgen für die Regelversorgung oder Konflikte in der globalen Gesundheitswirtschaft, bei denen Patentschutz für Heilmittel und die Diversifizierung von Lieferketten zur Diskussion stehen, können so bereits jetzt in der Umsetzung der Strategie mitberücksichtigt werden.
Wo will und sollte Deutschland, die EU oder die WHO in zehn Jahren sein? Auf solche Fragen kann Deutschland in der Umsetzung seiner Strategie Antworten finden, damit Anregungen geben und international Akzente setzen. Denn hieraus ergeben sich konkrete Vorschläge, um die internationale Gesundheitsordnung zu gestalten. Deutschland könnte sich in der globalen Gesundheitslandschaft noch mehr als Baustein der europäischen Ordnung verstehen und die EU langfristig in ihrer globalen Gesundheitspolitik unterstützen. Ein zukünftiges Rollenbild der EU könnte vorsehen, dass die Union eine klare Haltung in globaler Gesundheit hat – durch eine neu aufgelegte Strategie und ein strategisches Referat für globale Gesundheit im Europäischen Auswärtigen Dienst. Sie verbessert ihre Position international durch die Partnerschaft mit der Afrikanischen Union und einen einflussreicheren Status in der WHO, der über die reine Beobachtung hinausgeht. So könnte ein WHO-Büro in Deutschland nicht nur die nationale Gesundheitspolitik unterstützen, sondern auch international zeigen, dass Deutschland sich für den Ausbau der WHO-Strukturen einsetzt. Für all das kann die Weiterführung der deutschen Strategie mit konkreten Maßnahmen Anstöße geben.
Schließlich offenbarte die Pandemie durch nationale Exportstopps oder Grenzschließungen, dass deutsche Gesundheitspolitik mit der internationalen Ebene verwoben ist. Diese Erkenntnis sollte die Bundesregierung in der Umsetzung berücksichtigen und innerhalb eines Aktionsplanes weiterdenken, in dem die Innen- und Außenpolitik auf gesundheitspolitischem Gebiet stärker miteinander verbunden werden.
Es ist noch nicht zu spät, die Umsetzung der vorgelegten Strategie durch Aspekte politischer Vorausschau mit Hilfe eines Aktionsplans zu stärken. Die Bundesregierung und das Parlament sollten das aktuelle Handlungsfenster für eine erfolgreiche Umsetzung der Strategie nutzen, um globale Gesundheit mit Blick in die Zukunft strategisch zu gestalten.
Dieser Text ist auch bei euractiv.de erschienen.
Der Covid-19-Ausbruch ist ein Härtetest für die internationale Ordnung, die bereits vor der Krise enorm unter Druck stand. Laut Susan Berger, Nadine Godehardt und Maike Voss braucht es den politischen Willen, Gesundheitspolitik global zu gestalten, um nachhaltige Erfolge zu erzielen.
Eine Agenda für die deutsche Ratspräsidentschaft
doi:10.18449/2020A15
Herausforderungen einer strategischen Neuausrichtung für Deutschland