Die unverhohlenen Repressionen in Russland zeigen, dass die politische Führung den Glauben an ihre Legitimität verliert, meint Janis Kluge. Gleichzeitig sind sie Ursache einer weiteren Entfremdung gerade junger Russinnen und Russen vom Kreml.
Am 2. Februar 2021 wurde Alexei Nawalny von einem Moskauer Gericht zu zwei Jahren und acht Monaten Gefängnishaft verurteilt. Als Vorwand für das Urteil dienten Verstöße gegen Bewährungsauflagen, die Nawalny begangen haben soll, als er sich in Deutschland von einer Vergiftung durch russische Geheimdienste erholte. Schon im Vorfeld der Verurteilung war es an zwei Wochenenden zu großen, nicht genehmigten Protesten in vielen russischen Städten gekommen. Auslöser waren die Verhaftung Nawalnys kurz nach seiner Ankunft in Moskau sowie sein wenig später erschienener Film »Palast für Putin«, in dem er dem russischen Präsidenten maßlose Korruption attestiert. Zur Unterdrückung der Proteste ließ die russische Führung ein beispielloses Aufgebot schwer gerüsteter Sicherheitskräfte aufmarschieren und landesweit bereits über 10 000 Menschen festnehmen.
In der Vergiftung Nawalnys und den Repressionen der letzten Wochen spiegelt sich eine langjährige Entwicklung des russischen Regimes wider, das spätestens seit Putins Rückkehr in den Kreml im Jahr 2012 immer autoritärer regiert. Zwar ist es auch in den letzten Jahren zu Massenverhaftungen bei Protesten und Verfolgung von Oppositionellen gekommen. Allerdings war der Kreml dabei bemüht, den Anschein eines angemessenen Vorgehens aufrechtzuerhalten. Moskaus gewiefte »Polit-Technologen« erfanden zudem immer neue Taktiken, um Unzufriedenheit und Proteststimmungen in der Bevölkerung einzufangen und zumindest teilweise in kontrollierbare Bahnen zu lenken. Dazu gehörten auch Experimente, bei denen gezielt ein gewisses Maß an Opposition zugelassen wurde. So wurde es Nawalny noch im Jahr 2013 ermöglicht, bei der Moskauer Oberbürgermeisterwahl anzutreten, wo er über 27 Prozent der Stimmen erhielt.
Gegenüber den Russinnen und Russen, die das Nawalny widerfahrene Unrecht auf die Straße treibt, hat die russische Führung ihre weicheren politischen Taktiken zugunsten von Einschüchterung und Abschreckung aufgegeben. Dabei werden auch die Erfahrungen im benachbarten Belarus eine Rolle gespielt haben, wo sich im vergangenen Sommer innerhalb kürzester Zeit eine gewaltige Protestwelle entfaltete. Die neue Härte des Kremls ist aber auch Ergebnis der Arbeit Nawalnys, dessen Widerstand sich jeglicher Eingliederungsversuche entzieht. Indem er die Korruption der herrschenden Elite und insbesondere Wladimir Putins anprangert, greift er die durch wirtschaftliche Schwierigkeiten ohnehin angeschlagene Legitimität des Regimes fundamental an.
Im Kreml scheint man überzeugt zu sein, die Menschen, die Nawalny mit seinen Videos erreicht, nicht mehr für sich gewinnen zu können. Ihre Zahl ist nach dessen Vergiftung im letzten Jahr noch einmal deutlich gewachsen. In einer repräsentativen Umfrage des Lewada-Instituts äußerten im September 20 Prozent der Befragten, dass sie Nawalnys Arbeit gutheißen. In den großen Städten dürfte der Anteil noch darüber liegen. Diese Russinnen und Russen bekommen nun auf der Straße und in den sozialen Medien das harte Durchgreifen des Staates ungeschönt zu sehen, der zur Sicherung seiner Macht unverhohlener denn je auf seine Sicherheitsorgane setzt. Seit Tagen kursieren unzählige Videos, die exzessive Gewalt russischer Polizeikräfte gegen friedliche Demonstranten und Journalisten bezeugen.
Die Stabilität des Regimes ist von dieser Entwicklung kurzfristig nicht bedroht: Das Niederschlagen neuer Proteste ist für die russische Nationalgarde eine lösbare Aufgabe. Die Zahl der Protestierenden ist zu klein, um den russischen Polizeiapparat in Verlegenheit zu bringen. Außerdem sind die Proteste bislang friedlich und gewaltfrei; zu Gegenwehr von Demonstrantinnen und Demonstranten kam es bislang nur in Einzelfällen. Auch eine Spaltung innerhalb der Eilte, die eine wesentliche Voraussetzung für Instabilität wäre, ist bislang nicht erkennbar.
Allerdings wird die Legitimität der politischen Führung in den Augen gerade vieler junger Russinnen und Russen irreparabel beschädigt. Durch seine massiven Repressionen bricht der Kreml mit diesem Teil der Gesellschaft. Damit lädt er sich für die kommenden Jahre eine schwere politische Hypothek auf. Die massiven Repressionen könnten bislang unpolitische Teile der Bevölkerung mobilisieren. Bereits nach Nawalnys Vergiftung im Sommer 2020 äußerten sich einige Prominente kritisch, die sich zuvor aus der Politik herausgehalten hatten. Auch die Wahlen werden für den Kreml unter diesen Bedingungen risikoreicher. Um zu gewinnen, muss er zu umfassenderen und offensichtlicheren Wahlfälschungen greifen, die aber in der Vergangenheit selbst häufig zum Auslöser von Protesten wurden. Mit den Dumawahlen im Herbst 2021 steht die nächste Herausforderung für den Kreml unmittelbar bevor.
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