Die Vergiftung des russischen Oppositionellen Nawalny hat die Debatte über den Weiterbau der Erdgaspipeline Nord Stream 2 angeheizt. Der Politik steht eine schwierige Güterabwägung bevor. Kirsten Westphal, Maria Pastukhova und Jacopo Maria Pepe nennen vier Punkte, die Teil des Kalküls sein sollten.
Nach der Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny mit einem chemischen Kampfstoff aus der Gruppe Nowitschok steht die Ostseepipeline Nord Stream 2 als mögliches Druckmittel gegen Russland im Fokus. Ein Baustopp, ein Moratorium oder die Blockade von Gaslieferungen durch die Röhren werden als Reaktion für den Fall diskutiert, dass die russische Führung nicht zur Aufklärung des Verbrechens beiträgt.
Nord Stream 2 ist von hoher Symbolkraft und steht auch für den Willen Deutschlands und anderer europäischer Partner mit Russland zu kooperieren. Das Projekt ist seit seinem Start 2015 – ein Jahr nach der Krim-Annexion – vehement in der Kritik, anfangs vor allem wegen des damals von Moskau erklärten Ziels, die Ukraine zu umgehen. Über nunmehr fünf Jahre hat die Bundesregierung das von fünf europäischen Energiekonzernen mitgetragene Projekt Gazproms innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens und angesichts der wirtschaftlichen Vorteile für Gasmarkt und -konsumenten begleitet. Man war damit dem Paradigma gefolgt, wirtschaftliches Handeln und Politik weitgehend zu trennen. Um Nachteile für die Ukraine abzufedern, hat sich Berlin auch für die russisch-ukrainische Vereinbarung eingesetzt, die der Ukraine für weitere fünf Jahre Einnahmen aus dem Gastransport garantiert. Versuche Brüssels, mehr Kompetenzen für Nord Stream 2 an sich zu ziehen, wurden von Berlin abgeblockt: Man wollte sich einen möglichst großen Handlungsspielraum bewahren, um die Fertigstellung sicherzustellen. Das ist nun Last und Chance zugleich.
In jüngster Zeit wird die Situation allerdings maßgeblich von den USA beeinflusst. So erhöhte Washington sukzessive den Druck, Nord Stream 2 zu stoppen. Der »Protecting Europe’s Energy Security Act« hat dazu geführt, dass die Verlegearbeiten seit Ende 2019 ruhen. Weitere Schritte des US-Kongresses sollen eine Wiederaufnahme der Bauarbeiten unmöglich machen. Auch die US-Administration hat die Durchführungsbestimmungen des »Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act« geändert: Allen Firmen und Personen, die sich ab dem 15. Juli 2020 am Bau von Nord Stream 2 beteiligen, drohen Sanktionen. Das Vorgehen Washingtons zwingt die Bundesregierung zusehends in eine aktivere Rolle, um das Projekt vor den Auswirkungen der Sanktionen zu schützen – falls der Bau denn fortgesetzt wird.
Ein Stopp der Nord Stream2 durch die Bundesregierung käme einem Paukenschlag gleich. Was aber folgt, wenn der Knall verhallt ist? Die Politik steht vor einer schwierigen Güterabwägung. Folgende vier Punkte sollte sie in ihr Kalkül einbeziehen:
Erstens wären die unmittelbaren energiewirtschaftlichen Auswirkungen marginal. Das Projekt ist weder, wie so oft behauptet wird, eine Gefahr für die europäische Energiesicherheit, noch ein Muss. Es gibt das alte Gasleitungssystem durch die Ukraine, dessen Kapazitäten auf 100-120 Milliarden Kubikmeter im Jahr geschätzt werden, die Jamal-Pipeline durch Polen und Belarus mit 33 Milliarden und Nord Stream 1 mit 55 Milliarden Kubikmeter. Hinzukommen Pipelines in die Türkei und nach Finnland. Die Rekordvolumina von mehr als 190 Milliarden Kubikmeter, die Gazprom 2017/2018 nach Europa absetze, konnten darüber geliefert werden. Allerdings würde bei einem Stopp der Nord Stream 2 kein Kubikmeter weniger Gas von Gazprom gekauft. Wohl aber wögen dann Transit- und Ausfallrisiken höher, da eine direkte, moderne und effiziente Leitung fehlen würde. Nord Stream 1 und seinen Anschlussleitungen käme dann eine zentrale Rolle zu.
Zweitens sind die mittelbaren Auswirkungen auf Wirtschaft und Energieversorgung schwer abzuschätzen. Die Investitionsruine in der Ostsee würde Gazprom schmerzen, käme aber auch europäischen Firmen teuer zu stehen. Jenseits der betriebswirtschaftlichen Folgen ist volkswirtschaftlich zu bedenken, dass Nord Stream 2 die Resilienz des europäischen Gassystems verbessern würde, zudem käme ein erhöhtes Gasangebot Industrie und Endkonsumenten zugute. Die Vorkommen aus der sibirischen Jamal-Halbinsel sind erschlossen, das Angebot auf dem globalen Markt für Flüssigerdgas (LNG) kann sich wieder verengen. Freilich: Die Energiewende wird den Erdgasbedarf senken, aber wie schnell das geschieht, hängt auch vom Stromnetzausbau und von einer zügigen und konsequenten Wende auf dem Wärmemarkt und im Industriesektor ab. Hier sind dicke Bretter zu bohren.
Drittens würde Deutschland durch den Stopp eines Infrastruktur- und Wirtschaftsprojekts aus politischen Gründen einen Paradigmenwechsel vollziehen. Sicher, große Infrastrukturprojekte haben (geo-)politische Implikationen, und andere Staaten verknüpfen Politik und Wirtschaft zum eigenen Machtgewinn. Das ist die neue geoökonomische Realität, die Deutschlands strategische Souveränität auch im Energiebereich herausfordert. Doch genau das ist der Punkt: Andere Staaten handeln interessensbasiert. Bei allen politischen Verwerfungen um das Projekt – es bringt einen strategischen Mehrwert, stärkt Handelsplatz und Industriestandort. Deutschland und die europäischen Partner würden den Bau stoppen, um Haltung gegenüber dem Kreml zu beweisen; eine normative Entscheidung, mit der man sich selber ins Fleisch schnitte. Einen Baustopp würde Putin vermutlich auf die US-Sanktionen schieben, unter deren Druck Deutschland eingeknickt sei, und das Signal damit relativieren.
Viertens wirft die normative Begründung kritische Fragen auf: Ist die Situation qualitativ so neu? Hätte es nicht validere Gründe schon früher gegeben? Damit verbunden zeigt sich ein kaum lösbares Dilemma des fossilen Energiesystems. Wir kaufen tagtäglich Öl und Gas von autoritären Regimen. Damit hat die Energiewende auch eine geopolitische Dividende. Allerdings sollten wir uns nicht täuschen: Auch eine erfolgreiche Energiewende wird auf Energieimporte aus diesen Ländern setzen und gemeinsam mit ihnen große Infrastrukturprojekte verlässlich realisieren müssen. Zwar hat die besondere strategische Energiepartnerschaft mit Russland absehbar keine Basis mehr. Ein funktionierender Modus Vivendi für Handel und Austausch mit dem großen Nachbarn und Rohstofflieferanten bleibt aber essentiell. Insofern wäre ein Moratorium denkbar, um allen Seiten Zeit zu verschaffen. Dann aber müssten Bedingungen für den Weiterbau klar kommuniziert, mit Partnern abgestimmt und für Russland umsetzbar sein.
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