Deutschlands Energiesouveränität wird durch die US-Sanktionen gegen die Gaspipeline Nord Stream 2 beschnitten. Damit rücken Fragen der strategischen Handlungsfähigkeit in der Energiepolitik in den Fokus, die bisher in Deutschland kaum diskutiert werden. Die Auseinandersetzung mit strategischen Interessen, Handlungsmaximen und Gestaltungsoptionen wird immer wichtiger angesichts der fundamentalen Umbrüche in der internationalen Politik, insbesondere der strategischen Rivalität zwischen China und den USA. Chinas Industrie- und Konnektivitätspolitik, die Rolle der USA auf den Energiemärkten und die Energietransformation verändern die globale Energielandschaft und die Machtverhältnisse rasant. Die Corona-Pandemie beschleunigt und vertieft die Trends zusätzlich. Deshalb tut es not, Fragen der Energiesouveränität in die politische Debatte darüber zu integrieren, wie eine nachhaltige und resiliente Energieversorgung ausgerichtet werden sollte. Nicht zuletzt gilt es, den Zusammenhalt in der Europäischen Union (EU) zu stärken.
Im strategischen Zieldreieck von Klimaschutz, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit dominierten seit der Jahrtausendwende die ersten beiden Ziele in der deutschen Energiepolitik. Die Energieversorgung wird in Deutschland durch die Linse eines funktionierenden Marktes gesehen, selten vor dem Spiegel strategischer und geopolitischer Entwicklungen. Denn Deutschlands Energieversorgung basiert auf einem Binnen- und Weltmarkt, der nach Wettbewerbskriterien funktioniert. Mit der Auflösung der sogenannten Deutschland AG hat die Bundesrepublik ihre Energieunternehmen zuerst privatisiert, dann entflochten und weiterverkauft. Dagegen blieb in anderen (selbst marktorientierten) EU-Mitgliedstaaten wie den Niederlanden der Staat an Energieunternehmen beteiligt. Die Orientierung auf Markt und Effizienz führt dazu, dass Entscheidungen in Deutschland technisch-kommerziell getrieben sind. Ganz anders etwa in Frankreich, Polen oder dem Baltikum, wo Souveränität in Energiefragen handlungsleitend ist.
Zur Definition von strategischer Energiesouveränität
Strategische Souveränität bei der Energieversorgung ist dann gegeben, wenn hinreichende, verlässliche Energielieferungen zu wirtschaftlichen Preisen auf eine Art erfolgen, die nicht mit den eigenen Werten, Interessen und außenpolitischen Zielen konfligiert oder diese gar gefährdet (Daniel Yergin). Souveränität in Energiefragen ist also nicht einfach mit Versorgungssicherheit gleichzusetzen. Vielmehr bildet ein technisch robustes Energiesystem, das in Krisen und gegen politische Einflussnahme resilient ist, erst die Basis für strategische Handlungsfreiheit.
Politische Handlungsspielräume werden darüber bestimmt, wie Energiesicherheit fortwährend bearbeitet und gewährleistet wird. Dabei geht es um ein möglichst hohes Maß an Flexibilität, Diversifizierung und möglichst viele Optionen. Die bestehende und künftige Energieversorgung muss es erlauben, selbstbestimmt eigene energiepolitische sowie außen- und sicherheitspolitische Prioritäten zu setzen und dementsprechend zu entscheiden. Dabei müssen Staaten über die institutionellen, politischen und materiellen Mittel verfügen, um diese Prioritäten in Zusammenarbeit oder gegebenenfalls im Alleingang umzusetzen (siehe SWP-Studie 2/2019).
Um strategische Handlungsfähigkeit herzustellen, zu erhalten und auszubauen, muss Abhängigkeit da reduziert werden, wo sie zu Vulnerabilität führt. Autonomie ist jedoch keinesfalls zu verwechseln mit Autarkie. Im Gegenteil: Strategische Partnerschaften und wechselseitige Beziehungen müssen dort gepflegt werden, wo sie Gestaltungsräume vergrößern. Die Fähigkeit, strategisch selbstbestimmt zu agieren, erwächst immer im Verhältnis zu anderen und zur Umwelt.
Strategische Souveränität hat aber auch eine Binnendimension, denn Ziele, Interessen und Handlungsmaximen sollten klar umrissen sein. Das setzt einen Grundkonsens des politischen Gemeinwesens voraus.
Nord Stream 2 und die EU‑Energieunion
Die US-Sanktionen gegen die Gaspipeline Nord Stream 2, die den Bau Ende 2019 gestoppt haben, beschneiden Berlins Souveränität. Schon im April 2019 war Berlins Rechtsposition ausgehebelt worden, die sich auf die Anwendung deutschen bzw. internationalen Rechts (siehe SWP-Studie 21/2016) stützte. Denn die EU änderte die Gasrichtlinie und dehnte die Vorschriften des EU-Binnenmarktes aus auf Rohrleitungen, die aus Drittstaaten in die Union führen. Damit wurden auch Kompetenzen in der EU-Außenenergiepolitik nach Brüssel verlagert. Dies ist Teil eines Trends: Die zunehmende Regulierung durch die EU macht eigentlich hochpolitische Fragen zu Verwaltungshandeln. Damit sind sie zwar der Politisierung entzogen, letztlich aber werden auch politische Handlungsräume beschränkt.
Die Entwicklungen um die Nord Stream 2 zeigen darüber hinaus, wie wenig die Bundesregierung in der Kommunikation nach außen auf eigene Interessen abgehoben hat. Dabei ist der Schritt, die Kapazität der direkt von Russland nach Deutschland führenden Pipelines auf 110 Milliarden Kubikmeter zu verdoppeln, mit großen strategischen Gewinnen für Deutschland verbunden. Dazu gehören die Minimierung von Transitrisiken, die Stärkung des Marktplatzes und des Industriestandortes. Dieser strategische Mehrwert hätte abgewogen werden müssen gegen die politischen Verwerfungen in der EU und die Auswirkungen auf die Ukraine. Die Europäische Kommission und mehrere Mitgliedsländer sahen nämlich die Ziele der Energieunion und eigene Bestrebungen für mehr Energiesouveränität unterminiert. Dieser strategische Zielkonflikt ist durch den Rückzug der Bundesregierung auf Markt- und Rechtsprinzipien nicht offen thematisiert worden.
Daran lässt sich eine weitere Überlegung knüpfen: Laut Artikel 122 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) orientiert sich auch das Leitbild der Solidarität an Maßnahmen, die der Wirtschaftslage angemessen sind. Somit hätte eine Betonung wirtschaftlicher Interessen die Gegner der Pipeline zu einem Interessenausgleich gezwungen – oder zumindest zu einer Auseinandersetzung mit der deutschen Position. Schließlich haben andere EU-Staaten Solidarität auf Basis eigener politischer und wirtschaftlicher Interessen eingefordert. Versorgungssicherheit, Solidarität und Vertrauen wiederum bilden die erste Dimension der EU-Energieunion. Gleichzeitig sind »die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung« das Recht jedes Mitgliedstaats (Artikel 194 Absatz 2 AEUV).
Vertrauen und Solidarität fußen letztlich auf einem diffusen Versprechen und auf Annahmen über zukünftiges Verhalten, die auf gemeinsamen Grundideen beruhen. Wenn diese aber nicht vorab geteilt werden oder gar wirtschaftliche Interessen einander entgegenstehen, müssen die Mitgliedstaaten einen Interessenausgleich suchen. Bei den Ostsee-Pipelines ist es nicht gelungen, einen tragenden Konsens in der EU herzustellen. Wegen einer Klage Polens hat das Europäische Gericht die Ausnahmegenehmigung für die Ostsee-Pipeline-Anbindungsleitung an Nord Stream 1 rechtlich bewertet und im Zuge dessen die Anwendung des Solidaritätsprinzips nachjustiert. Seitdem ist es nicht mehr nur politisches Leitbild, sondern als Kriterium für administrativ-regulatorische Entscheidungen etabliert. In der EU wird also der Dreiklang zwischen Energiesicherheit, Solidarität und Souveränität von großen Misstönen überlagert.
Damit fällt ins Gewicht, dass strategische Souveränität eine Binnendimension hat. Denn die Fähigkeit, vorausschauend zu handeln und Gestaltungsmacht auszuüben, setzt ein Leitbild voraus, das in einem Gemeinwesen geteilt wird und / oder auf einem Abgleich der Interessen basiert.
Das strategische Zieldreieck von Klima- und Umweltverträglichkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit bietet zwar den Referenzrahmen und zwischen den Zielen bestehen durchaus Synergien – aber eben auch Spannungsfelder. Diese müssen permanent austariert werden. Hierbei haben sich Bruchstellen und Konfliktlinien in der EU aufgetan: Das Paradigma des Marktes hat sich spürbar hin zum Primat der Politik verschoben, Energiesouveränität und Versorgungssicherheit werden unterschiedlich interpretiert, Klimapolitik ist umstritten. Diese politischen Spannungen scheinen abgekoppelt von der komfortablen Versorgungssituation auf den Öl- und Gasmärkten, von der die EU seit über einer Dekade profitiert und die eigentlich große Handlungsspielräume eröffnet.
Versorgungssicherheit und Souveränität
Versorgungssicherheit ist die Grundlage für strategische Handlungsfähigkeit. Der deutsche Primärenergiebedarf wird immer noch zu rund 60 Prozent von Erdöl und Erdgas dominiert. Die Abhängigkeit vom Import, der beim Erdöl 98 und beim Erdgas 94 Prozent ausmacht, ist numerisch zwar hoch; der seit mehr als zehn Jahren zunehmende Wettbewerb auf den Öl- und Gasmärkten schafft jedoch viele Optionen und flexible Bezugsquellen. Außerdem hat er zu einem sogenannten »Käufermarkt« geführt, der die Machtbalance von den Produzenten- hin zu den Verbraucherländern verschiebt. Die Abnehmer können so in Verhandlungen ihre Vorstellungen etwa bei Preisen durchsetzen.
Deutschlands Erdölimporte sind sehr diversifiziert, allerdings sinkt, wie beim Erdgas, die EU-eigene Förderung. Es bezieht zwar mehr als 50 Prozent seiner Gasimporte aus Russland, ist aber vollständig in den EU-Gasmarkt integriert. Dieser hat sich in den letzten anderthalb Jahren zusehends diversifiziert, weil der Anteil an verflüssigtem Erdgas (LNG) signifikant gestiegen ist; bei den Importen über Pipelines dominieren weiterhin Russland, Norwegen und Algerien.
Im EU-Gasmarkt wurde das Prinzip der Solidarität über die Präventions- und Krisenmechanismen in Sekundärrecht der EU übersetzt. Diese haben sich beim Erdgas in der Kälteperiode 2012 (siehe SWP-Aktuell 24/2012) bewährt. Die Stresstests 2014 und 2017 ergaben eine relativ hohe Resilienz, wenn die EU-Staaten kooperieren. Aus deutscher Sicht ist deswegen auf Markt- und Krisenmechanismen Verlass.
Für die osteuropäischen EU-Mitglieder stand indes Energiesouveränität im Zentrum. Diese bedeutete vor allem eine Diversifizierung weg von Russland, aber auch eine Integration in den Welt-, nicht nur in den EU-Markt. Die Bundesregierung sah Importe aus Russland im Hinblick auf wirtschaftliche Verwundbarkeit nicht als problematisch an, sondern betrachtete sie als Teil wechselseitiger Verflechtungen sowie als Basis gemeinsamer Interessen. In anderen Mitgliedsländern hingegen wurde das Thema zunehmend »versicherheitlicht«, das heißt wirtschaftliche Fragen der Versorgungssicherheit mit breiteren Sicherheitsfragen verknüpft. Die von Deutschland propagierte »Kompartmentalisierung«, also die Eingrenzung des Themas auf reine Wirtschaftsfragen gerade im Verhältnis zu Russland, fand daher keine ausreichende Unterstützung in der EU.
Hinsichtlich der Herstellung von Souveränität ergeben sich innerhalb der EU demnach sehr unterschiedliche Herangehensweisen. Deutschland steht vor dem Dilemma, dass seine Vorstellungen nicht geteilt werden, Berlin aber absehbar den Zusammenhalt in der Union braucht, um weiterhin handlungsfähig zu sein und Energiesicherheit zu erlangen.
Nicht nur in der EU, auch global verstärkt sich nämlich der Trend, dass Fragen von Energie, Außenpolitik und Sicherheit enger miteinander verwoben werden. Machtrivalitäten werden mit ökonomischen Mitteln ausgetragen und wirtschaftlicher Druck eingesetzt, um politische Ziele zu erreichen. Das schafft ein neues Umfeld und bringt Herausforderungen für die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit Berlins (und Brüssels) mit sich.
USA: Kein Partner(verbraucher)-Land mehr
Die USA waren jahrzehntelang Partner der Europäer; diese zwei großen Verbraucherzentren formten den Nukleus einer »Energiesicherheitsgemeinschaft« unter dem Dach der Internationalen Energieagentur (IEA). Europa profitierte sicherheitspolitisch von den USA, die freie See- und Handelswege garantierten, unter anderem aus dem Kaspischen Raum und im Mittleren Osten.
Das politische Leitbild eines freien Handels von (Energie)gütern verliert heute auch deswegen an Strahlkraft, weil die USA ihre zentrale Rolle bei den globalen Finanzströmen sowie die Rolle des Dollars als wichtigstes Zahlungsmittel instrumentalisieren, um außen- und wirtschaftspolitische Ziele durchzusetzen. Ein Beispiel dafür sind Washingtons unilaterale Sanktionen gegen Russland, den Iran und Venezuela. Ihre extraterritorialen Auswirkungen treffen europäische multinationale Öl- und Gaskonzerne, deren Aktionsradius sich zugunsten von Staatskonzernen aus Asien und Mittelost verringert; ein Trend, den die Corona-Pandemie noch verstärken könnte, da Staatskonzerne auf staatliche Mittel zurückgreifen können.
Der Schock für Deutschland, der aus der US-Politik resultiert, ist deshalb so groß, weil er die neue Ausgangslage schonungslos vor Augen führt: Der »energiewirtschaftliche Westen« existiert nicht mehr. Energiepolitische Handlungsfähigkeit und Resilienz in Krisenzeiten wurde jahrzehntelang in Allianz mit den USA hergestellt. Nun kommt nicht nur der wichtigste Partner abhanden, sondern seine Politik offenbart zugleich die eigene mangelnde Handlungsfähigkeit. Berlin und Brüssel fehlt es an wirksamen Hebeln und Instrumenten, um die Wirkung der US-Sanktionen abzufedern oder abzuwenden (siehe SWP-Studie 28/2019 und SWP-Aktuell 1/2019).
Die neue Situation des Energiereichtums in den USA hat der Interessenallianz die wesentliche Grundlage entzogen. Die Frage für die Zukunft ist, inwieweit Washington außen(wirtschafts)politische Handlungsspielräume ausschöpft und ob das liberale Paradigma von Wettbewerb und Freihandel, das die IEA-Mitgliedstaaten in den 1990er Jahren als Regel auf dem internationalen Ölmarkt etabliert hatten, weiter aktiv ausgehöhlt wird.
Die Corona-Pandemie hat im ersten Halbjahr 2020 eine doppelte Krise auf dem Ölmarkt ausgelöst: Die Nachfrage ist um fast ein Viertel eingebrochen, gleichzeitig bestand zeitweise ein massives Überangebot von bis zu 10 Millionen Barrel am Tag (bei einem Vorkrisenverbrauch von circa 100 Millionen Barrel am Tag). Zwar ist dadurch der Ölmarkt erschüttert worden und die US-Fracking-Industrie in eine Krise geraten. Trotzdem wird die komfortable Versorgungssituation für die USA bestehen bleiben. Für die EU dagegen zeichnen sich signifikante Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit ab: Erstens stehen teure Ölförderprojekte etwa in der Nordsee und in Norwegen – und damit in geopolitisch stabilen Regionen – vor schwierigen Zeiten. Noch weitreichender könnten, zweitens, die Auswirkungen für die europäischen Raffinerien sein. Drittens gehen letztlich Know-how, Kompetenzen und somit Handlungsspielräume verloren, deren Basis ein eigener Produktionsstandort ist. Nicht zuletzt könnte die EU zunehmend abhängig werden von vulnerablen und langen Lieferwegen durch die Straße von Hormus. Die Corona-Pandemie nimmt also quasi Effekte der Energietransformation voraus. Die Pandemie könnte eine katalytische Wirkung haben, denn die erwähnten strategischen Gründe untermauern für die EU die Notwendigkeit eines geordneten Ausstiegs aus Öl.
Öl ist mit über 30 Prozent immer noch größter Energieträger im deutschen Energiemix. Fossile Energieträger sind auf absehbare Zeit günstig und bezahlbare Energie wird für die wirtschaftliche Erholung Deutschlands und in der EU wichtig sein. Hier zeichnen sich schwierige Abwägungsfragen ab: Auf der einen Seite stehen kurzfristige, schnelle Gewinne zu dem Preis, dass das bestehende Energiesystem beibehalten wird; auf der anderen Seite relativ höhere Vorlaufkosten eines Strukturwandels, aber mit der Aussicht auf langfristigere Vorteile einer nachhaltigen resilienten Entwicklung. Der Umbau wäre mit Strukturbrüchen verbunden, die nicht unbedingt deckungsgleich sind mit den Einschnitten durch die Corona-Pandemie.
Energiewende und Handlungsspielräume
Die Energiewende beinhaltet einen zweifachen Systemwandel: den Ausstieg aus dem konventionellen Energiesystem und den Aufbau eines neuen Energiesystems. Die Herausforderungen für die Steuerungsleistung des Staates (und der Union) sind beträchtlich. Gleichzeitig muss die Versorgungssicherheit gewährleistet werden, wobei sich trefflich über das richtige Maß zwischen Effizienz und Sicherheit streiten lässt.
Die Energiewende ist aus Klima- und Umweltsicht dringend geboten. Einmal umgesetzt, bedeutet sie größere politische Handlungsspielräume, weil erneuerbare Quellen, die überall verfügbar sind, Energie dezentraler und lokaler bereitstellen.
Allerdings trägt der Prozess des Umbaus zu mehr Unwägbarkeiten bei (siehe SWP-Aktuell 51/2018). Der Ausstieg aus fossilen Importen bringt vielleicht mehr Autonomie mit sich, aber nicht gleich mehr Gestaltungsmöglichkeiten, da relevante Kanäle des internationalen Interessenausgleichs, der Kooperation und des Dialogs wegfallen. Zudem drohen in der Abwicklungsphase Konflikte.
In Zukunft sind Fragen der Vernetzung weit mehr durch politische Entscheidungen getrieben als in der Vergangenheit, als die geologische Verfügbarkeit von Öl und Gas strukturbildend gewirkt hat. Ein Beispiel dafür sind Stromnetze; die Entscheidung, sich zu vernetzen, basiert auf einem gemeinsamen politischen Beschluss. »Stromnetzgemeinschaften« teilen Risiken und Vorteile.
Schon heute ist das hohe Maß an Versorgungssicherheit bei Strom der EU-Marktintegration zu verdanken, die es Deutschland im Strombereich erst ermöglicht, die Netze zu stabilisieren und Strom über die Grenzen hinweg zu handeln. In Zukunft wird Deutschland noch mehr auf ein eng vermaschtes europäisches Netz angewiesen sein. Angesichts der weiteren Elektrifizierung und Sektorkopplung wird von einem wachsenden Strombedarf in Deutschland ausgegangen. Gleichzeitig werden bis 2022 die sechs verbleibenden Kernkraftwerke mit einer Nennleistung von 8,5 GW sowie Braunkohlekraftwerke mit 15 GW vom Netz gehen. Um diesen Ausstiegspfad zu realisieren, werden auch Stabilisierungsmaßnahmen über Grenzkuppelstellen notwendig, der grenzüberschreitende Stromhandel wird wachsen (müssen). Dies ist ganz im Sinne der europäischen Marktintegration und Resilienz des Stromsystems.
In den Wirtschaftsbereichen, in denen direkte Elektrifizierung nicht möglich ist, spielen klimaneutrale gasförmige oder flüssige Energieträger auf Wasserstoffbasis (siehe SWP-Aktuell 37/2020) künftig eine bedeutende Rolle. Auch hier gilt in der Zukunft, dass mehr Diversifizierung denkbar ist, weil klimaneutraler Wasserstoff auf Basis unterschiedlicher Verfahren und deswegen an vielen Orten weltweit erzeugt werden kann. Das schafft für Deutschland und die EU Flexibilität und Gestaltungsoptionen, bedarf aber auch internationaler Kooperation.
Schließlich setzt die Transformation des Energiesystems Zugang zu und Verfügbarkeit von Metallen und seltenen Erden voraus, ebenso wie deren weitere Veredelung und Verarbeitung. Diese Wertschöpfungsketten bringen neue Vulnerabilitäten mit sich, denn sie werden mitunter von wenigen Unternehmen dominiert, unter anderem aus China.
China: Die Systemische Herausforderung
Der Umbau des Energiesystems ist verbunden mit neuen Herausforderungen, da die Bedeutung von Industrie- und Technologiepolitik steigen wird. Der ökonomische Wert wird nämlich nicht mehr mit der Energieressource generiert, sondern verlagert sich auf die Stufe der Umwandlung in Nutzenergie und ist damit technologiebasiert (siehe SWP-Aktuell 51/2018).
Innovationen bei Energietechnologien (CleanTech) werden zunehmend Bestandteil industriepolitischer und geoökonomischer Auseinandersetzungen. Für Deutschland stellt sich die Frage von Energietechnologie-Souveränität akut mit Blick auf Kontrolle und Verfügbarkeit von kritischen Rohstoffen, Schlüsseltechnologien und ‑fertigkeiten. Dabei gibt es keine einfachen Antworten auf die Frage, welche Technologien und welches Know-how strategisch so wichtig sind, dass sie geschützt werden sollen. Letztlich spielen auch Überlegungen zu Industriestandorten, Produktionsclustern, Arbeitsplätzen, Bezahlbarkeit und Effizienz eine Rolle.
Klar ist aber, dass sich China in der letzten Dekade sehr gezielt bei Energietechnologien wie Photovoltaik, Batterien, Elektromobilität und CSP-Turmkraftwerken in eine Schlüsselposition gebracht hat. Chinesische Unternehmen bieten Plattformen und Systemlösungen, sie bündeln smarte Anwendungen durch ihre Vormachtstellung im mobilen Internet (5G), überdies bei Übertragungsnetzen und Umspannung. Das Land der Mitte dominiert zum Beispiel die Wertschöpfungsketten bei Solarpanelen vom Abbau über die Veredelung der dafür benötigten Rohstoffe bis hin zur Fertigung der Anlagen. China produziert über 70 Prozent der Solarmodule. Eine Bertelsmann-Studie zu Weltklassepatenten zeigt, wie rasant China in innovationsgetriebenen Energiesektoren seine Position ausbaut. Deutschland hat seinen Spitzenplatz in der Photovoltaik an China verloren. Bei Batterien hält China knapp 11 Prozent der weltweiten Patente hinter Japan und Korea, während Deutschland – mit fallendem Trend – bei 7,5 Prozent liegt.
Beim Ausrollen von Strategie, Infrastrukturen und Technologien wirft Peking die Größe des Marktes in die Waagschale. Im Ausland setzt China einen staatlich orchestrierten Instrumentenkasten ein, der auf der engmaschigen bzw. direkten Kontrolle der Unternehmen beruht. Er kann Pakete aus Krediten, Planung, Organisation und Umsetzung sowie technischen Systemlösungen als »one-stop-shop« gezielt hebeln.
Nach der Finanzkrise 2008/2009 hat Peking in der EU in (kritische) Infrastrukturen und Schlüsseltechnologien investiert. Das sollte sich nach der Corona-Pandemie nicht wiederholen.
Pekings Strategien »Made in China 2025« und »China Standards 2035« sind klar formuliert. China setzt mit seinem Innovationshunger weiter auf eine Lokalisierung von High Tech und auf Technologieführerschaft. Das Land möchte in Zukunftstechnologien die Standards setzen. Mittlerweile kann Peking auf vorteilhafte Pfadabhängigkeiten bei Informationstechnologien bauen, wobei sich mit den Energienetzen zwei kritische Infrastrukturen derzeit zunehmend verschränken.
Raum versus Netz und das Problem diffuser politischer Autorität(en)
Pekings »Belt and Road«-Initiative definiert die globale Verflechtung neu und sichert sich Einflusskanäle. Die Vektoren und die Dynamik der Vernetzung werden auf China ausgerichtet. Diese Konnektivitätsstrategie verschafft Peking einen Zugriff auf zentrale Knotenpunkte von Energie- und Kommunikationsnetzen. Peking nutzt diese neuartigen technopolitischen Einflusssphären jenseits des territorialen Raums zur Projektion politischer Macht und Autorität (siehe SWP-Studie 1/2020, Beitrag Schulze/Voelsen).
Modernisierung und Umbau des Energiesystems führen dazu, dass sich Energienetze ent- und rekoppeln, dass Energiesysteme neue Räume ausprägen, die nicht mehr deckungsgleich sind mit Jurisdiktionen. Regelsetzung erfolgt dann entlang technopolitischer und territorial ungebundener Sphären. Im Kern dieser Auseinandersetzungen stehen Normen und Standards. Die EU hat ihr wichtigstes Instrument – Regulierung – an den eigenen Rechtsraum sowie die ›Rechtsgemeinschaft‹ im Rahmen der Europäischen Energiegemeinschaft geknüpft. Die Souveränität von Nationalstaaten ist ans Territorium gebunden. Allerdings: Wenn Handlungsfähigkeit von der Verfügbarkeit und Kontrolle neuer Schlüsseltechnologien abhängt, kann politische Autorität aufweichen.
Der neuartige Antagonismus von Raum versus Netz bestimmt zunehmend die Dynamik – auch in der Nachbarschaft der EU. Räume, Rollen und die Regelsetzung verändern sich in dem Maße, wie sich klassische Sicherheitspolitik und die Kontrolle über geographische Einflusssphären verschiebt hin zur Beherrschung von Fließprozessen aus Gütern, Wissen, Kapital und Informationen.
Dabei wird die Kohäsion Europas nicht nur durch China, sondern auch durch Russland und die USA herausgefordert. Keiner der drei hat Interesse an einer geeinten EU; bei der Neukartierung der (Energie)welt geht es um relationale Gewinne und nicht um ein kooperatives Miteinander. Im Verhältnis zu Deutschland hat Washington die Sollbruchstellen benannt, etwa was den Beitrag zu kollektiver Sicherheit und die Nord Stream 2 anbelangt, und den Kauf von US-LNG propagiert. Gegenüber anderen EU-Mitgliedern schnürt Washington sehr konkrete Pakete der Solidarität: zum Beispiel politische Unterstützung für die Drei-Meere-Initiative, die auf die Anbindung der osteuropäischen Gasmärkte an den Weltmarkt (und US-LNG) setzt, aber zugleich die Integration des EU-Gasmarktes zumindest verlangsamt.
Handlungsoptionen »Out of the Box« prüfen
Die Energiewende bringt Vorteile für Souveränität und damit Resilienz des Systems mit sich. Wenn strategische Souveränität größeres Gewicht bekommen soll, sind energiepolitische Handlungsoptionen auszuloten und der Instrumentenkasten – der bisher auf ordoliberale Instrumente und Energiediplomatie begrenzt ist – zu prüfen.
Das heißt: Erstens, angesichts des neuen internationalen Umfeldes erweist es sich tatsächlich als Problem, dass der Staat heute über keine direkten Einflusskanäle im Energiesektor verfügt und sich Deutschlands Marktmacht außenpolitisch nur unzureichend hebeln lässt. Was kann man aus dem Modell der Deutschland AG lernen? Nicht zuletzt bot das korporatistische Aushandlungsmodell damals Möglichkeiten, den strategisch bedeutsamen gesellschaftlichen Konsens zu schaffen.
Zweitens, banal, aber umso gültiger ist die Feststellung, dass es des Zusammen-halts in der EU bedarf, um im Machtkonzert der Großen Gehör zu finden. Deswegen sollte die Herstellung europäischer Souveränität klarer Referenzpunkt deutscher Energiepolitik sein; auch und gerade im Bewusstsein bestehender Dissonanzen. Berlin sollte die Abstimmung mit anderen Mitgliedsländern suchen, zum Beispiel durch eine schnelle europäische Einbettung seiner Wasserstoffstrategie sowie eine aktive Rolle bei Ausbau und Synchronisierung des Stromnetzes mit den baltischen Staaten und der Ukraine.
Drittens, Deutschland und die EU könnten ein »Airbus-Projekt« europäischer Staaten für Lithium-Ionen-Batterien anstoßen, vielleicht auch im Wasserstoffbereich. Eine schnelle Implementierung der Technologie wäre nötig, um die gute Ausgangsposition zu nutzen und diese nicht wieder – wie bei der Photovoltaik – an China zu verspielen. Das bedeutet nichts anderes, als strategisch wichtige Technologien weitgehend in der EU selbst herzustellen, also solche (wie auch Windenergie), die Schlüsselfunktionen im modernen Energiesystem erfüllen. Rohstoff- und Lieferketten sowie Produktionscluster dürfen dann nicht nur nach Effizienz-, sondern müssen auch nach Resilienzkriterien ausgestaltet sein, sprich entlang Substituierbarkeit, Diversifizierung und Nachhaltigkeit. Europäische Kernkompetenzen müssen an entscheidenden Schaltstellen bewahrt werden: bei der hohen Integration von Erneuerbaren Energien durch Übertragungsnetzbetreiber, beim Fast-in-Echtzeit-Lastmanagement im Übertragungsnetz, beim gleichtägigen Handel oder bei virtuellen Kraftwerken. Selbst wenn die große IT-Revolution verschlafen wurde – dort hat die EU strategische Knotenpunkte von Digitalisierung und Stromnetz besetzt.
Viertens, Souveränität sollte nicht als Autarkie definiert werden, sondern dezidiert auf internationale Verflechtung, Diversifizierung und Kooperation setzen. Das heißt dann auch, dass die Realisierung und Finanzierung strategischer Projekte (wie der Erdgasröhrendeal in den 1970er / 1980er Jahren) wieder möglich werden müssen, um Technologie »Made in Germany and the EU« im internationalen Wettbewerb zu unterstützen. Flankierend dazu braucht es einen Produzenten-Konsumenten-Dialog, um den Ausstieg aus dem bisherigen Energiesystem und seinen Umbau krisenfest zu gestalten. Das wird es notwendig machen, Umbaupfade von der Ausgangssituation und nicht vom Ziel her anzugehen. Das offenkundige Auseinanderklaffen zwischen den Klimazielen und den realen Verbrauchspfaden erschwert nämlich den Dialog.
Fünftens, Deutschland und die EU müssen ihre außenwirtschaftlichen Instrumente an das kompetitive internationale Umfeld anpassen. In Deutschland und weiten Teilen der EU dominieren Mittelstand und Start-ups, auch bei neuen Technologien. Für diese Firmen wird das internationale Umfeld schwieriger und Markträume schließen sich. Was immer ein Plus für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit war, ist nun ein Nachteil. Denn Protektionismus, Lokalisierung und Sanktionen erschweren den Markteintritt, ganz abgesehen davon, dass reziproker Marktzugang etwa zum chinesischen Markt nicht gewährt wird.
Vor dem Hintergrund der einschneidenden Corona-Krise sei am Ende betont, dass Energiesouveränität freilich nur ein Leitbild ist, das im strategischen Zieldreieck gegenüber Wettbewerbsfähigkeit / Bezahlbarkeit und Klima- / Umweltschutz austariert werden muss. Diesen Ausführungen liegt die Annahme zugrunde, dass der Green Deal der EU, der Energie- und Klimapolitik mit Technologie- und Industriepolitik verschränkt, ein passendes Leitkonzept ist, um den Energiesektor zu transformieren. Ein Weiter-so lässt sich weder im Hinblick auf Generationengerechtigkeit und Schuldenbedienung vertreten noch aus dem Gesichtspunkt der Energiesouveränität ableiten.
Dr. Kirsten Westphal ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Sie leitet das Projekt »Energiewende und Geopolitik«.
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doi: 10.18449/2020A46