Während die Neuwahlen in Israel mitunter als gelebte Demokratie gefeiert werden, sind sie tatsächlich das Gegenteil: Ein Ausdruck der Instabilität des politischen Systems. Dahinter steht ein Abwehrkampf gegen eine fundamentale Transformation des Landes, meint Peter Lintl.
Rund ein Jahr nach der historischen Bildung einer Acht-Parteien-Koalition hat sich das Parlament in Israel aufgelöst und Neuwahlen eingeleitet. Es sind die fünften Neuwahlen seit April 2019 – und ein Zeugnis der politischen Instabilität. Der Grund für diese sind zwei Blöcke, die sich konfrontativ gegenüberstehen: Einerseits das religiös-rechte und oftmals populistische Netanyahu-Lager und andererseits die heterogene Regierungskoalition, die das politische Spektrum von links bis rechts abdeckte und erstmalig sogar eine unabhängige arabische Partei einschloss.
Die Koalition des scheidenden Ministerpräsidenten Naftali Bennetts wurde zusammengehalten durch eine gemeinsame Ablehnung von Ex-Ministerpräsident Benjamin Netanyahu: Das hatte mit persönlichen Konflikten zu tun, aber auch mit Netanyahus Bestrebungen, eine parlamentarische Lösung für seine Korruptionsanklage zu finden. Diesem Ziel hatte er letztlich alles untergeordnet: Er schien unter allen Umständen eine reine Rechtsregierung etablieren zu wollen. Nur eine solche wäre willens gewesen, einen Ausweg für Netanyahu aus der Anklage zu ermöglichen, etwa durch ein Gesetz, das Ministerpräsidenten Immunität verleiht. Kombiniert hatte das Netanyahu mit populistischen Angriffen auf Medien und Justiz – insinuierend, dass in Israel nicht die Regierung, sondern ein »tiefer Staat« die Geschicke des Landes lenke. Nach drei Wahlen gelang es ihm am Ende nicht, die nötige Mehrheit zu organisieren. Damit hat er auch Teile des rechten politischen Lagers verprellt, das eine parlamentarische Mehrheit in der Knesset stellt.
Dies bereitete den Weg für die Bennett-Regierung, die die politisch heterogenste Regierung der Geschichte Israels war. Diese »Regierung des Wandels«, wie sie sich selbst nannte, hatte unter anderen zum Ziel, das politische System wieder zu stabilisieren: die demokratische Erosion und die Angriffe auf rechtsstaatliche Einrichtungen aufzuhalten sowie der gesellschaftliche Spaltung durch inklusive Kommunikation und Politik entgegenzuwirken. Das ist ihr teilweise gelungen, auch wenn sich die durch die Opposition geschürte gesellschaftliche Spannung nur moderat verringert hat.
Im Konflikt mit den Palästinensern war allerdings von vornherein klar, dass diese Koalition keine großen Fortschritte machen würde: Die rechten Parteien der Regierung, insbesondere Jamina und Neue Hoffnung, lehnen die Idee eines palästinensischen Staates kategorisch ab. Es blieb ein Spannungsfeld innerhalb der Regierung und führte zu einem politischen Nullsummenspiel.
Letztlich ist die Koalition jetzt an einem alle fünf Jahre zu verlängernden Gesetz gescheitert, das israelische Siedler unter israelisches Zivilrecht stellt und nicht wie die Palästinenser unter Militärrecht. Das haben einzelne Abgeordnete auf der Linken nicht mitgetragen, während es für die rechten Parteien eine unerlässliche Bedingung war. Gleichwohl steht auch das Ende dieser Regierung für eine veränderte politische Kultur, die über reine Machtpolitik hinausgeht: Mit Bennetts Rücktritt übernimmt laut Koalitionsvertrag automatisch Außenminister Yair Lapid übergangsweise das Amt. In einem ähnlichen Fall hatte Netanyahu dem Verteidigungsminister Benny Gantz 2021 die im Koalitionsvertrag vereinbarte Rotation noch verwehrt.
Die nun im Herbst anstehende Wahl werden erneut richtungsweisend für die israelische Demokratie werden: Eines der zentralen Ziele der Opposition ist es, dem Parlament per Gesetzesänderung die Möglichkeit zu geben, Urteile des Obersten Gerichtshofs zu überstimmen. Ein anderes Gesetzesvorhaben zielt darauf ab, die Besetzung der Richter am Obersten Gerichtshof von politischen Mehrheiten im Parlament bestimmen zu lassen. Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Parlament ließen sich so leichter Richter aus dem rechten Lager einsetzen. Zudem würde mit einer Rechtsregierung wohl auch das Thema der Teilannexionen des palästinensischen Westjordanlandes wieder auf die Tagesordnung kommen.
In den Umfragen hat der rechtsreligiöse Netanyahu-Block derzeit zwar keine Mehrheit, aber deutlich an Stimmen dazu gewonnen. Insbesondere der Likud, aber auch die religiös-rechtsextreme Partei »religiöse Zionisten« unter der Führung von Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich sehen derzeit massive Zugewinne. Umgekehrt kämpfen vier der aktuellen Regierungsparteien mit der 3,25 Prozent Hürde um den Einzug in die Knesset. Schafft es eine der Parteien nicht, würden die Oppositionspartien nach derzeitigem Stand eine Mehrheit zusammenbekommen. Zum fünften Mal in dreieinhalb Jahren entscheiden die Israelis, in welche Richtung das Land steuern soll: in ein populistisch-majoritäres System oder an eine Demokratie, die sich zumindest innerhalb der Grenzen von 1967 an Grundlagen liberal-demokratischer Prinzipien orientieren will.
doi:10.18449/2021A85v02
In der kommenden Woche entscheidet sich, ob Israels Premier Benjamin Netanyahu sich an der Macht halten kann. Je nach Wahlausgang sind sehr unterschiedliche Szenarien möglich. Peter Lintl stellt die drei wahrscheinlichsten vor.
Eine neue Rechtsregierung könnte den Staat grundlegend verändern
doi:10.18449/2019A18
Wie das Scheitern des Friedensprozesses innenpolitischen Populismus in Israel fördert