Das Ergebnis der für April 2019 angesetzten Parlamentswahlen in Israel könnte den Charakter des Staates nachhaltig prägen. Das gilt für sein demokratisches Selbstverständnis ebenso wie für die Politik gegenüber den Palästinensern. Die Parteien am rechten Rand sind erstarkt, und im rechten Lager werden Positionen vertreten, die lange als randständig galten. Zentrale Wahlkampfthemen der Rechten sind nun die (Teil-)Annexion des Westjordanlandes und eine weitgehende Einschränkung der Arbeit des Obersten Gerichtshofs. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu steht diesen Entwicklungen nicht unkritisch gegenüber. Weil ihm aber eine Anklage wegen Korruption droht, ist er politisch nur eingeschränkt manövrierfähig. Er könnte einem Strafprozess entgehen, wenn ihm das Parlament Immunität gewährt. Dafür ist der Premier auf die Stimmen der rechten Parteien angewiesen. Sein Herausforderer Benny Gantz wirbt hingegen für eine Regierung, die Rechtsstaatlichkeit und nationale Einheit in den Mittelpunkt stellt. Drei Szenarien für die Zeit nach der Wahl sind denkbar. Eher unwahrscheinlich wäre dabei ein Sieg des Mitte-Links-Lagers. Ein Mitte-Rechts-Bündnis wäre durch die mögliche Anklage gegen Netanyahu belastet. Bildet sich eine reine Rechtskoalition, könnten eine Annexion des Westjordanlandes und eine gravierende Schwächung der Prinzipien liberaler Demokratie die Folge sein.
Vier Jahre Koalition der Rechtsparteien in Israel haben ein ambivalentes Bild in der Gesellschaft des Landes hinterlassen: Einerseits bekommt der amtierende Premier Benjamin Netanyahu von einer Mehrheit der Israelis gute Noten für seine Wirtschafts- sowie seine Außen- und Sicherheitspolitik, zumindest was Syrien und den Iran betrifft. Selbst die linksliberale Zeitung Haaretz attestiert ihm eine weitsichtige und richtige Syrienpolitik. Eine Ausnahme ist seine Politik gegenüber dem Gazastreifen, mit der 74 Prozent unzufrieden waren. Weiterhin glaubt eine knappe Mehrheit israelischer Bürger (53 Prozent) zum ersten Mal seit Beginn der Datenerhebung zu dieser Frage 2003, dass die Gesamtsituation Israels gut oder sehr gut ist. Andererseits ist die politische Polarisierung innerhalb der Gesellschaft stärker denn je. Erstmalig wird die Konfrontation zwischen dem linken und dem rechten politischen Lager als größte gesellschaftliche Spannungslage angesehen und hat damit die Auseinandersetzung zwischen Arabern und Juden von diesem Platz verdrängt. Gespalten sind die beiden Lager auch in der Frage, ob die israelische Demokratie in ernster Gefahr oder auf einem guten Weg ist. Diese Polarisierung nimmt durch den Wahlkampf weiter zu. Aus dem Mitte-Links-Lager wird der rechten Regierung vorgeworfen, sie wolle die Prinzipien liberaler Demokratie unterminieren. Aus dem rechten Lager wird beklagt, alte linke Seilschaften hätten einen »tiefen Staat« geschaffen, der auf undemokratischem Wege einen Machtwechsel herbeiführen wolle. Zutreffend heißt es im Israeli Democracy Index, Israel ordne sich damit in eine Reihe westlicher Staaten ein, deren Gesellschaft eine Polarisierung erfahre, die oft unter dem Sammelbegriff »Krise der liberalen Demokratie« firmiere.
Neue Parteien, alte Blöcke
Als Folge der Grabenkämpfe sind im Wahlkampf 2019 Brüche alter Fraktionsgemeinschaften, neue Allianzen und Parteigründungen zu beobachten. Aussichtsreich ist hier vor allem das neue Parteienbündnis Kahol Lavan, das aus Yesh Atid, der Ende 2018 ins Leben gerufenen Hosen L’Israel und der Kleinstpartei Telem besteht. Dieses Bündnis der politischen Mitte ist in den meisten Umfragen stärkste Kraft vor dem Likud. Großen Anteil daran hat ihr Spitzenkandidat Benny Gantz. Als erster Gegenkandidat seit vielen Wahlen verfügt der ehemalige Generalstabschef der israelischen Armee über ähnlich gute Umfragewerte wie Premier Netanyahu. Sicherheit ist in Israel das alles überschattende Thema bei jeder Wahl. Kandidaten, denen es an Glaubwürdigkeit in diesem Bereich mangelt, haben de facto keine Chance. Die Premierminister, die gegen den Likud seit Anfang der 1990er Jahre eine Wahl gewannen – Yitzhak Rabin, Ehud Barak und Ariel Sharon –, waren ausnahmslos hochrangige Militärs. Von daher spielt Gantz’ militärische Karriere nicht die einzig ausschlaggebende, aber eine zentrale Rolle bei Umfragen zur Befähigung für das Amt des Premiers. Gestärkt wird seine Position noch dadurch, dass er für das Parteienbündnis zwei weitere ehemalige Generalstabschefs gewinnen konnte, Gabi Ashkenazi und Moshe Ya’alon.
Auf der anderen Seite verlieren etablierte Parteien wie die Arbeitspartei dramatisch an Rückhalt. Andere wie Hatnua unter der einstigen Justiz- und Außenministerin Tzipi Livni ziehen sich zurück. Dagegen haben Parteien wie Zehut, die vorher eine Randexistenz fristeten, plötzlich Aussichten, die 3,25-Prozent-Hürde zu überwinden.
Daher ist die bevorstehende Wahl alles andere als übersichtlich: Insgesamt treten 14 Parteien oder gemeinsame Listen an, die laut Umfragen realistische Chancen auf den Einzug in die Knesset haben. Fünf davon (Gesher, Zehut, Yisrael Beitenu, Kulanu, Ram-Balad) liegen in den Umfragen mal über, mal unter der 3,25-Prozent-Hürde, wenigstens zwei weitere (Meretz und Shas) sind zwar stabil, aber nur knapp darüber. Die Koalitionsmöglichkeiten nach der Wahl und die Balance zwischen den Blöcken werden wesentlich davon abhängen, welche dieser Parteien ins Parlament gelangen.
Grundsätzlich bleibt Israel jedoch auch parteipolitisch in einen Mitte-Links-arabischen Block und einen rechts-ultraorthodoxen Block gespalten.
Zu ersterem zählen die Parteien Hadash-Ta’al, Ram-Balad, Meretz, die Arbeitspartei, Kahol Lavan, Gesher und Kulanu (obwohl diese als Mitte-Rechts-Partei Teil der aktuellen Regierungskoalition ist). Zu letzterem gehören die ultraorthodoxen Parteien Vereinigtes Thorajudentum und Shas sowie der Likud, Yisrael Beitenu, die Neue Rechte, Zehut und die Vereinigung der Rechten Parteien.
Themen der Wahl
Die Opposition setzt ihren Schwerpunkt im Wahlkampf vor allem darauf, Netanyahu abzuwählen. Das ist auch das einigende Band des ansonsten recht heterogenen Bündnisses Kahol Lavan. Inhaltlich konzentriert die Opposition sich im Wahlkampf in erster Linie auf Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, moralische Integrität und die Frage, in welchem Stil das Land regiert werden soll. Benny Gantz hat dies auf die Formel »Memshala Mamlachtit« gegenüber »Memshala Malchutit« gebracht. Sinngemäß bedeutet das die Wahl zwischen einer staatstragenden, inklusiven Regierung und einer Regierung, die den Staat wie ein »Königreich« führt sowie persönliche und partikulare Interessen über Allgemeinwohl und Rechtsstaat stellt. Damit nimmt Gantz Bezug auf die polarisierende Haltung der Regierung, verbale Angriffe auf staatliche Einrichtungen und den Obersten Gerichtshof sowie die Anklage, die Netanyahu wegen Bestechlichkeit droht.
Grafik Quelle: <https://en.wikipedia.org/wiki/Opinion_polling_for_the_2019_Israeli_legislative_election>, Daten vom 1.3.–2.4.2019. |
Darüber hinaus bleibt die inhaltliche Auseinandersetzung zwischen Gantz und Netanyahu relativ vage. Im Hinblick auf Iran und Syrien divergieren ihre Positionen kaum. Was die Politik gegenüber dem Gazastreifen betrifft, wirft Gantz Netanyahu zwar Versagen vor, lässt aber im Unklaren, wie er selbst vorgehen würde. In einem der ersten Wahlwerbespots wurde Gantz sogar als Hardliner porträtiert: Gezeigt wurde ein zerstörtes Gaza nach den kriegerischen Auseinandersetzungen 2014. Als einer der Erfolge wurde »1364 getötete Terroristen« genannt. Marginal sind die Differenzen –zu Netanyahu selbst, weniger zum Rest des rechten Lagers – auch in Bezug auf den Friedensprozess. Anders als der Premier verlangt Gantz, man solle sich wieder um einen Friedensprozess bemühen, spricht aber nicht von einem palästinensischen Staat oder der Zweistaatenlösung. Stattdessen bekräftigt er, Israel werde sich nicht aus den Siedlungsblöcken, dem Golan oder Ostjerusalem zurückziehen, und beklagt, es gebe keinen Partner auf der anderen Seite. Diese Unklarheit ist generell ein Problem des politischen Zentrums: Laut einer Umfrage des Israel Democracy Institute sagen sogar Wähler, die sich selbst im Zentrum verorten, es sei nicht eindeutig, wofür Parteien der politischen Mitte genau stehen.
Die Arbeitspartei sucht eine neue Rolle, nachdem sich die Zahl ihrer Mandate wahrscheinlich halbieren wird. Im Wahlkampf positioniert sie sich links und behauptet, ohne eine starke Arbeitspartei werde Gantz ein Bündnis mit dem Likud eingehen. Zusammen mit Meretz und Hadash-Ta’al bildet die Arbeitspartei den kleinen Rest der Parteien, die noch explizit für eine Zweistaatenlösung eintreten.
In den Reihen der arabischen Parteien hat sich die Vereinte Liste in zwei neue Listen aufgespalten, da sie sich über die Mandatsverteilung und grundsätzlichere Punkte nicht einig war: Während Ram-Balad eine Kooperation mit zionistischen Parteien weiterhin kategorisch ablehnt, will Hadash-Ta’al einen pragmatischeren Weg gehen und unter bestimmten Umständen eine Mitte-Links-Koalition unterstützen.
Die Rechte im Wahlkampf
Netanyahu präsentiert sich im Wahlkampf als kompetenter Außenpolitiker, der mit den Führern der Großmächte dieser Welt auf Augenhöhe diskutiert. Die Anerkennung der israelischen Annexion der Golanhöhen durch die USA zwei Wochen vor der Wahl kommt ihm dabei zupass und kann durchaus als Wahlkampfgeschenk an ihn verstanden werden. Ansonsten setzt er stark auf die Botschaft, nur eine von ihm geführte rechte Regierung könne die physische Sicherheit und den jüdischen Charakter Israels garantieren. Dies wird ständig in kurzen, einprägsamen Wahlkampfslogans verbreitet, in denen vor der militärisch »schwachen« Linken und einem Erstarken der arabischen Parteien gewarnt wird. »Bibi oder Tibi« (Ahmad Tibi ist Ko-Vorsitzender der arabischen Partei Hadash-Ta’al) und »Gantz ist links. Die Linke ist schwach« lauten die bekanntesten Parolen. Diese Ausdrucksweise ist tonangebend in der israelischen Rechten geworden, seit Netanyahu im Wahlkampf 2015 eine populistische Wende vollzogen hat. Im Angesicht einer drohenden Wahlniederlage mobilisierte er damals noch am Wahltag seine Unterstützer, als er behauptete, die Araber würden in Scharen wählen und von den Linken mit Bussen zu den Wahlurnen gebracht. Mit dieser Äußerung und weiteren im Verlauf des damaligen Wahlkampfes bezichtigte er die arabische Minderheit implizit, als »fünfte Kolonne« zu agieren, und brachte sie unmittelbar in Zusammenhang mit dem israelisch-arabischen Konflikt nach dem Motto: Eine Stimme für die Linke ist eine Stimme für die Feinde des Staates.
Damit hat er aber auch eine Dynamik in Gang gesetzt (siehe SWP-Aktuell 60/2016), die nach rechts offen ist: Seit der letzten Legislaturperiode hat sich eine Debatte innerhalb der Koalition und besonders zwischen Likud und Jüdischem Heim entwickelt, wer »authentischer« rechte Positionen vertritt. Diese Dynamik hat den Diskurs innerhalb des rechten politischen Lagers noch mehr vom Zentrum entfernt. Das heißt, die eigentlichen Neuerungen im Zuge dieser Wahlen finden im rechten politischen Lager statt, das immer weiter nach rechts rückt.
Parteipolitischer Rechtsruck
Festzuhalten ist, dass im Parteienspektrum der rechte Rand auf Kosten der moderaten Rechten gestärkt wurde. Das ging vor allem zu Lasten der Mitte-Rechts-Partei Kulanu. Verfügt sie in der derzeitigen Knesset noch über zehn Sitze, ist mittlerweile ungewiss, ob sie wieder ins Parlament einziehen wird. Zu beobachten ist eine parteipolitische Differenzierung und ein Erstarken der Parteien am rechten Rand. Wurde dieser vorher allein durch die Partei Jüdisches Heim vertreten, sind es jetzt drei Parteien mit guten Aussichten auf Einzug in die Knesset: die Neue Rechte, die Vereinigung der Rechten Parteien und Zehut.
Die Neue Rechte ist eine Ausgründung aus dem Jüdischen Heim. Mit diesem Schritt hatten sich die Parteispitzen Naftali Bennett und Ayelet Shaked erhofft, ihre Wählerbasis über das nationalreligiöse Lager hinaus auf die säkulare Rechte auszudehnen. Daraufhin schlossen sich die verbliebenen Knessetmitglieder des Jüdischen Heims mit Otzma Yehudit zur Vereinigung der Rechten Parteien zusammen. Bemerkenswert daran ist, dass Otzma Yehudit eine Nachfolgepartei der 1988 wegen Rassismus aus der Knesset ausgeschlossenen Partei Kach ist. Sie vertritt einen jüdischen Suprematismus und offenen Rassismus. Otzma Yehudit verlangt, das gesamte Westjordanland zu annektieren, alle dem Staat gegenüber illoyalen Palästinenser bzw. Araber (nach ihrer Aussage 99 Prozent) auszuweisen, den Dritten Tempel auf dem Tempelberg wiederaufzubauen und die Moscheen dort abzureißen. Ferner kündigt sie in ihrem Wahlprogramm einen »totalen Krieg« gegen die Feinde Israels an.
Die dritte Partei am rechten Rand, die sich Hoffnungen auf einen Einzug in die Knesset machen kann, ist Moshe Feiglins Zehut. Sie ist eine Partei der Extreme: Einerseits vertritt sie einen äußerst libertären Standpunkt, nach dem der Staat das Leben der Bürger so wenig wie möglich reglementieren soll. Unter anderem verspricht sie im Wahlkampf, Marihuana zu legalisieren, womit sie anscheinend auch für die Mitte-Links-Wählerschaft attraktiv ist. Andererseits steht Feiglin weit rechts, wenn es um den Konflikt mit den Palästinensern geht: Laut Parteiprogramm soll das ganze Westjordanland annektiert und eine »jüdische Synagoge« (eine Metapher für den Tempel) auf dem Tempelberg wiedererrichtet werden; außerdem sollen die in Gaza und im Westjordanland lebenden Palästinenser in arabische Nachbarländer ziehen. Nach Feiglin selbst steht die Partei den Positionen von Otzma Yehudit sehr nahe, mit dem Unterschied, dass Zehut auf freiwillige Übersiedlung und nicht auf Ausweisung der Palästinenser setzt. Damit zeichnet sich innerhalb des rechten Lagers eine mehr oder weniger deutliche parteipolitische Verschiebung ab – je nachdem, ob Zehut den Einzug in die Knesset schafft. Aber auch im rechten Mainstream, also besonders in den Parteien Likud und Yisrael Beitenu, haben sich die Positionen weiter nach rechts verschoben.
Forderung nach (Teil-)Annexion des Westjordanlandes
Die Forderung nach Annexion oder Teilannexion gehört im rechten Lager mittlerweile zum Standardrepertoire. Yuli Edelstein, Sprecher der Knesset und Kandidat auf Platz 2 der Likud-Liste, brachte diese Diskursverschiebung in einem Interview im Januar 2019 auf den Punkt: »Wir haben in der nächsten Knesset die große Aufgabe, die Souveränität über die Siedlungen in Jehuda und Samaria zu erklären. Noch vor einigen Jahren wurde jeder, der darüber sprach, als vollkommen verrückt angesehen. Wir haben das in den letzten Jahren in ein Mainstreamthema verwandelt.« Ein Blick auf die parteipolitische Landschaft bestätigt das: Die drei Parteien vom rechten Rand, also Neue Rechte, Vereinigung der Rechten Parteien und Zehut, haben in ihren Programmen die (Teil-)Annexion des Westjordanlandes fest verankert. Auch der Likud spricht sich dafür aus, obwohl sich Netanyahu selbst aus diplomatischen Gründen dagegen wendet. Diese Streitfrage ist der Grund dafür, dass es seit 2009 kein aktuelles Parteiprogramm des Likud mehr gibt. Allerdings befürworten 28 der 30 Knessetabgeordneten des Likud (bis auf Tzachi Hanegbi und Netanyahu) eine Annexion von Teilen oder des ganzen Westjordanlandes. Erst kürzlich hat die Lobbygruppe Ribonut (Souveränität) ein Video veröffentlicht, in dem zahlreiche Knessetabgeordnete vor allem der Parteien Likud, Jüdisches Heim und Neue Rechte ihre Unterstützung für Annexionen aussprechen. Die ultraorthodoxen Parteien Vereinigtes Thorajudentum und Shas geben sich in diesem Punkt zögerlicher, da sie Koalitionspartner des Likud sind.
Transformation zu einer majoritären Demokratie
Ein weiteres Thema im rechten Lager ist der weithin geteilte Wunsch, Israel in eine majoritäre Demokratie zu verwandeln. In liberalen Demokratien sollen Verfassungsprinzipien und ein System gegenseitiger Kontrollen (Checks and Balances) Individual- und Minderheitenrechte schützen. Befürworter eines majoritären Systems behaupten nun, diese Prinzipien schränkten die Demokratie ein und verzerrten den Willen der Mehrheit. Deshalb versprechen Parteien des rechten Lagers, das System gegenseitiger Kontrollen zwischen den Gewalten, vor allem die Kontrollfunktion der Justiz, weitgehend abzuschwächen oder gar abzuschaffen und die Stellung des Parlaments deutlich zu stärken. Gleichzeitig sollen Individual- und Minderheitenrechte hinter jüdischen Kollektivrechten zurückstehen. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war das im Juli 2018 verabschiedete Nationalstaatsgesetz (siehe SWP-Aktuell 50/2018). Die Vorreiter des Gesetzes in der Regierungskoalition artikulieren offen den aus ihrer Sicht notwendigen Primat jüdischer Kollektivrechte. Justizministerin Shaked betonte, der jüdische Charakter des Staates müsse auch auf Kosten von Menschenrechten geschützt werden. Tourismusminister Yariv Levin erklärte, das Judentum solle immer Vorrang vor anderen politischen Prinzipien haben. Bildungsminister Bennett verlangte, eine Trennmauer zwischen den drei Gewalten zu bauen: »Eine Gewalt darf nicht in die Bereiche einer anderen intervenieren.«
In diesem Kontext haben rechte Parteien den Obersten Gerichtshof zum Hauptgegner gewählt. Justizministerin Shaked hat einen Hundert-Tage-Plan vorgelegt, mit dem das Grundgesetz »Menschenwürde und Freiheit« von 1992, als »konstitutionelle Revolution« bekannt, endgültig zurückgenommen werden soll. In dem Gesetz waren erstmals liberale Prinzipien im Verfassungsrang verankert worden, aus denen der Oberste Gerichtshof ein Normenkontrollrecht ableitete. So wurden Normenkontrollklagen gegen Knesset-Beschlüsse möglich. Shaked will Richter nur noch mit Zustimmung von Knesset und Regierung ernennen lassen und eine Überstimmungsklausel (Piskat HaHitgabrut) verabschieden, die dem Parlament erlauben würde, Urteile des Obersten Gerichts zu revidieren. Hinter diesem Plan steckt die Vorstellung, die Demokratie von Fesseln zu befreien, indem dafür gesorgt wird, dass den Mehrheiten im Parlament kaum mehr Beschränkungen durch das Oberste Gericht auferlegt werden können.
Vor allem die Verabschiedung der Überstimmungsklausel hätte weitreichende Auswirkungen, denn sie zielt auf ein Ende juristischer Kontrolle der Legislative. So hat der Oberste Gerichtshof häufiger Beschlüsse der Knesset oder ihres Wahlausschusses kassiert, Parteien oder Kandidaten von einer Wahl auszuschließen. Laut Gesetz ist dies statthaft, wenn diese Israel nicht als jüdischen und demokratischen Staat anerkennen, bewaffneten Kampf unterstützen oder zum Rassismus anstiften. Solche Beschlüsse trafen in steter Regelmäßigkeit arabische Parteien (wie Ram-Balad) und Kandidaten (etwa der bereits genannte Ahmad Tibi), erfüllten aber gemäß dem Obersten Gerichtshof nicht die gesetzlichen Kriterien. Wird nun die Überstimmungsklausel verabschiedet, gewinnt die politische Perspektive der Knesset die Oberhand über die juristische Sicht des Gerichtshofs. Meistens entspinnen sich diese Differenzen zwischen Oberstem Gerichtshof und Parlament an Fragen von Minderheitenschutz oder Gleichheitsprinzipien.
Der drohende Strafprozess gegen Netanyahu
Verstärkt werden die Ressentiments gegen Justiz als Teil des »tiefen Staates« im Zusammenhang mit der drohenden Anklage gegen Netanyahu wegen Korruption. Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit empfahl am 28. Februar 2019, Netanyahu wegen Korruption in drei Fällen anzuklagen, und legte dazu einen 57-seitigen Bericht vor. So soll der Premier den führenden Kommunikationsunternehmer Shaul Elovitch von staatlichen Regulierungen befreit haben, damit dieser Geschäfte im Wert von umgerechnet rund 250 Millionen Euro tätigen konnte. Im Gegenzug soll Elovitch dafür gesorgt haben, dass auf der zu seinem Konzern gehörenden Nachrichtenwebsite – der zweitgrößten Newswebsite Israels – durchweg positiv über Netanyahu berichtet wurde. In dem Bericht des Generalstaatsanwalts werden über 100 Einzelbelege dafür genannt.
Der nächste Schritt ist eine Anhörung Netanyahus, in der er Einwände gegen die Beschuldigungen vorbringen kann. Danach entscheidet der Generalstaatsanwalt, ob er tatsächlich Anklage erheben wird – wovon allgemein ausgegangen wird.
Netanyahu hat erklärt, er wolle auch bei einer Anklage im Amt bleiben. Er sei in der Lage, in der Anhörung sämtliche Vorwürfe auszuräumen. Allerdings halten dies fast alle Kommentatoren für unwahrscheinlich. Gleichzeitig fahren der Premier und seine Unterstützer eine massive Diskreditierungskampagne gegen die Klageerhebung und deren Hintergründe. Die wichtigste Botschaft aus dem Lager Netanyahus lautet, die drohende Klage sei auf das Bestreben linksliberaler Eliten zurückzuführen, die einen »Staat im Staate« bzw. einen »tiefen Staat« etabliert hätten. Da die Linke es nicht schaffe, Netanyahu auf demokratischen Wege abzulösen, nutzten diese Eliten ihre Kontrolle über die Medien, um Druck auf Polizei und Staatsanwaltschaft auszuüben, dem diese schließlich nachgegeben hätten. Viele Politiker aus dem rechten Spektrum, aber auch rechte Medien teilen diese Sichtweise.
Wie Netanyahu einer Anklage entgehen will, ist noch nicht ganz klar. Zwei Szenarien sind denkbar. Erstens kann die Knesset einem Abgeordneten oder Minister Immunität gewähren, falls sie zu der Überzeugung kommt, dass die Anklage nicht in »guter Absicht« vorgebracht wurde. In diese Richtung bewegt sich Netanyahus Medienkampagne. Zweitens gibt es konkrete Pläne, das sogenannte Französische Gesetz zu verabschieden, das einem amtierenden Ministerpräsidenten per se Immunität gewähren würde. Eine solche Gesetzesvorlage wurde schon verschiedentlich von Unterstützern Netanyahus im Likud ins Spiel gebracht, im März 2019 aber auch von Bezalel Smotrich, einem Knessetmitglied des Jüdischen Heims. Netanyahu hat Ende März 2019 kundgetan, er halte es für unwahrscheinlich, dass er ein solches Gesetz unterstützen würde – ausgeschlossen hat er es nicht. Dabei scheint klar, dass ein solches Vorhaben die Unterstützung der Parteien des rechten politischen Spektrums benötigt. Viele Politiker der Rechten – mit der bemerkenswerten Ausnahme Bennetts – haben auch schon verkündet, dass sie dazu bereit wären, während die Parteien des Mitte-Links-Spektrums ihre Ablehnung signalisierten.
Dass Netanyahu auf rechte Parteien angewiesen ist, macht sich auch im Wahlkampf bemerkbar. Der Einschluss von Otzma Yehudit in die Vereinigung der Rechten Parteien erfolgte tatsächlich unter massivem Druck Netanyahus. Er bot den anderen Politikern der Vereinigung zwei Ministerposten und einem sogar einen Listenplatz beim Likud an. Netanyahu betrieb seine Lobbyarbeit vor dem Hintergrund des ungewissen Wahlausgangs und der Furcht, dass der rechte Block zu viele Stimmen verlieren würde, wenn die kleinen Rechtsparteien an der 3,25-Prozent-Klausel scheitern sollten.
Dieser Ansatz Netanyahus hat weitreichende Konsequenzen. Indem der Premier für die Integration einer rechtsextremen Partei warb, vollzog er einen Bruch mit bisherigen Grundlagen des Konsenses in der israelischen politischen Kultur – auch wenn eine Abmachung existiert, laut der die Abgeordneten von Otzma Yehudit in die Opposition gehen werden. Mit seinem Werben um die rechtsextreme Partei setzte Netanyahu eine Diskursverschiebung in Gang. Einige Abgeordnete von Meretz und der Arbeitspartei beantragten im Wahlausschuss der Knesset, Otzma Yehudit nicht zur Wahl zuzulassen. Der Ausschuss musste unter dem Eindruck des Wahlkampfs nicht nur eine Sachentscheidung treffen, sondern auch artikulieren, wo er steht: links oder rechts, für oder gegen Netanyahu. Mit einer Mehrheit von 16 zu 15 (die Partei Kulanu enthielt sich) lehnte der Ausschuss es ab, den Spitzenkandidaten von Otzma Yehudit, Michael Ben-Ari, auszuschließen. Das hat Symbolwirkung, denn das Gremium, stellvertretend für das Parlament, sanktioniert die Positionen der Partei und legitimiert sie damit als einem demokratischen Parlament angemessen. Damit verschieben sich die Grenzen des legitim Sagbaren, da auf diese Weise auch rechtsextreme Positionen nobilitiert werden. Zwar schloss der Oberste Gerichtshof Ben-Ari nachträglich wegen Rassismus von der kommenden Parlamentswahl aus. Die Diskursverschiebung lässt sich aber nicht mehr ohne weiteres rückgängig machen.
Drei Szenarien für die Regierungsbildung
Das erste Szenario wäre eine Koalition unter der Führung von Benny Gantz, wobei nach zweieinhalb Jahren ein Wechsel von Gantz auf Lapid im Amt des Premiers vorgesehen ist. Weil Gantz ausgeschlossen hat, Vertreter der arabisch-palästinensischen Listen in eine Regierung zu holen, ist Kahol Lavan auf dreierlei angewiesen, um eine Regierungsmehrheit stellen zu können: Das Bündnis muss bei der Wahl deutlich besser abschneiden als Likud, außerdem benötigt es ein gutes Ergebnis kleinerer Parteien der Mitte (wie Gesher und Kulanu) und die Bereitschaft kleinerer Parteien des rechten Lagers (etwa Yisrael Beitenu), mit Kahol Lavan zu koalieren. Vertreter ultraorthodoxer Parteien würden nur dann in eine Regierung Gantz gelangen, wenn eine Koalition unter Netanyahu unmöglich wäre.
Zwei weitere Regierungskoalitionen sind vorstellbar, jeweils mit Netanyahu als Premier. Beide sind wahrscheinlicher als eine Mitte-Links-Regierung, auch wenn Kahol Lavan in Umfragen derzeit vor dem Likud liegt. Nicht nur die Demoskopie spricht für diese Szenarien, auch Netanyahus Möglichkeiten, sowohl mit rechten Parteien als auch mit Parteien der Mitte zu koalieren.
Das zweite Szenario bestände in einer Mitte-Rechts-Koalition unter Netanyahu. Diese Lösung dürfte er einer reinen Rechtskoalition vorziehen. Zwar hat er die Bedeutung einer rechten Regierung gepriesen, doch in diese müsste er wahrscheinlich die rechtsextremen Parteien Otzma Yehudit oder Zehut einschließen. Stattdessen läge es für Netanyahu nahe, mit Kahol Lavan zu koalieren, weil dieses Bündnis und Likud in sicherheitspolitischen Fragen weitgehend auf einer Linie liegen. Kahol Lavan hat dazu ambivalente Signale gesendet: Hatten Gantz und Lapid eine solche Zusammenarbeit Anfang 2019 durchaus für möglich gehalten, schloss Gantz sie später aus. Eine Koalition mit Kahol Lavan würde Netanyahus Abhängigkeit von den rechtsextremen Parteien verringern. Auch könnte sie in den außenpolitisch schwierigen Entwicklungen moderierend wirken, besonders der Annexionsdebatte.
Im Falle einer Anklage gegen Netanyahu ist eine Koalition mit den Mitte-Links-Parteien unwahrscheinlich. So gut wie ausgeschlossen ist zudem, dass eine Mitte-Rechts-Koalition ein Gesetz verabschiedet, das Netanyahu Immunität gewähren würde. Darüber hinaus ist unklar, ob Netanyahus Partei, der Likud, eine Koalition mit Kahol Lavan mittragen würde: Während der laufenden Legislaturperiode stoppten Abgeordnete des Likud Netanyahu bei seinem Versuch, eine Große Koalition mit der Zionistischen Union anzubahnen.
Diese Argumente sprechen daher für ein drittes Szenario, bei dem Netanyahu eine reine Rechtsregierung formen müsste. Kommt sie zustande, ist erstens damit zu rechnen, dass sie versuchen wird, Israel von einer eingeschränkt liberalen zu einer majoritären Demokratie umzubauen. Zweitens dürfte sich die Rechtsregierung voraussichtlich daran begeben, die weithin geteilten Forderungen nach einer (Teil-)Annexion des Westjordanlandes zu erfüllen.
In beiden Fällen würde sich Israel weiter von der gemeinsamen politischen Wertebasis mit der EU entfernen, wie sie etwa in den Assoziationsverträgen zwischen der Union und Israel festgehalten wurde. Jegliche Annexion würde einen klaren Bruch des Völkerrechts darstellen. Darüber hinaus wäre ein solcher Schritt faktisch das Ende der einzig realistischen Lösungsformel für den israelisch-palästinensischen-Konflikt, nämlich der Zweistaatenlösung.
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doi: 10.18449/2019A18