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Zeitenwende: Warum die Türkei ein sicherheitspolitischer Partner Deutschlands werden muss

Kurz gesagt, 25.10.2024 Forschungsgebiete

Die geopolitischen Krisenherde in Osteuropa und dem Nahen Osten lassen Deutschland und die Türkei zusammenrücken. Allen kritischen Einwänden zum Trotz ist ein konsequentes Umdenken im Verhältnis zur Türkei das sicherheitspolitische Gebot der Stunde, meint Yaşar Aydın.

Als Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte Oktober in die Türkei reiste, wurde deutlich: Berlin will die Wogen glätten und sicherheitspolitisch mit Ankara zusammenarbeiten. Die deutsch-türkischen Beziehungen hatten im Jahr 2016 einen historischen Tiefpunkt erreicht. Verantwortlich dafür waren die Armenienresolution des Bundestages, der Putschversuch in der Türkei und die darauffolgenden Repressionen gegen die Opposition sowie der Einmarsch türkischer Bodentruppen in Nordsyrien. Seitdem ist viel passiert: Der russische Angriff auf die Ukraine stellt die NATO vor immense Herausforderungen und wertet die Rolle der Türkei als Regionalmacht im Schwarzen Meer auf. Die Türkei hat in Libyen erfolgreich den russischen Einfluss zurückgedrängt und im Kaukasus Aserbaidschan unterstützt, das von Armenien besetzte Bergkarabach einzunehmen. In Syrien hält sie drei Provinzen militärisch besetzt und kontrolliert de facto die Großregion Idlib.

Angesichts dieser geopolitischen Entwicklungen rückt die Türkei als Partner für Deutschland in ein neues Licht: Der Annäherungskurs der Bundesregierung ist nicht nur richtig, sondern sicherheitspolitisch unabdingbar.

Geteilte Bedrohungen, gemeinsame Interessen 

In Deutschland ist weitgehend unbekannt, dass die bilateralen Beziehungen nicht nur von Differenzen geprägt sind, sondern auch von gemeinsamen Interessen und ähnlichen Bedrohungswahrnehmungen. So stellt der russische Expansionismus sowohl für Berlin als auch für Ankara eine Herausforderung dar. Beide Länder sehen eine Priorität darin, den Ukrainekonflikt zu lösen und Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine zu initiieren. Da Präsident Erdoğan sowohl mit Putin als auch mit Selenskyj im Dialog steht, könnte er erneut als Vermittler auftreten.

Ähnliches gilt für den Nahostkonflikt. Ankara wirft Israel zwar Völkermord vor und sieht in der Hamas eine »Widerstandsbewegung«, während Berlin uneingeschränkt Tel Aviv unterstützt und die Hamas als Terrororganisation betrachtet. Beide Länder streben aber kurzfristig einen Waffenstillstand und langfristig eine Zweistaatenlösung an. Während Deutschland eine Brückenfunktion zu Israel einnehmen könnte, unterhält die Türkei zahlreiche Dialogkanäle in die arabisch-muslimische Welt. Das eröffnet Kooperationsmöglichkeiten bei der Lösung des Palästinakonflikts und der Deeskalation zwischen Iran und Israel.

Auch im Rüstungsbereich bieten sich Synergien: Eine intensivere Einbindung der türkischen Rüstungsindustrie in europäische Lieferketten könnte helfen, die Versorgungsengpässe Europas bei Kriegsmaterial und Munition zu beheben. Gleichzeitig würde eine stärkere wirtschaftliche Verzahnung der türkischen und der europäischen Industrie die Türkei enger an die EU binden. 

Diese Gemeinsamkeiten als politisches Kapital wahrzunehmen, ist der erste Schritt zu einem dringend nötigen, konsequenten politischen Umdenken im Verhältnis zur Türkei: einer deutsch-türkischen Zeitenwende.

Die EU-Beitrittsverhandlungen vorantreiben

Eine Neuausrichtung der Beziehungen braucht zuallererst eine Neudefinition des Verhältnisses zur Türkei – als Partnerin, nicht Wettbewerberin oder Rivalin. 

Die Vorstellung, dass Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte durch ein Verbot von Waffenexporten an die Türkei gefördert werden könnten, ist eine Illusion, die von Teilen der deutschen Opposition verbreitet wird. Eine restriktive Rüstungsexportpolitik seitens Deutschlands und der EU würde Erdoğan in die Hände spielen, der damit antieuropäische Stimmungen in der Türkei mobilisieren könnte. Und die Neuauflage des Flüchtlingsdeals birgt Risiken für die bilateralen Beziehungen: Ein Großteil der türkischen Bevölkerung sieht darin lediglich den Versuch, die Türkei zu einem Grenzwächter für Europa zu machen und das Land auf eine Pufferzone für Flucht- und Migrationsbewegungen zu reduzieren. Damit wären diplomatische Spannungen auch jenseits eines Machtwechsels in der Türkei im Jahr 2028 vorprogrammiert.

Um das Potenzial der deutsch-türkischen Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit, Handel, Investitionen und Diplomatie auszuschöpfen, braucht es den Blick auf Gemeinsamkeiten, gefolgt von einem pragmatischen, lösungsorientierten Ansatz. Dieser muss den realpolitischen Gegebenheiten Rechnung tragen, ohne die normative Bindung an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie aufzugeben.

Effektiv wäre, nicht nur einzelne Kooperationen anzustreben, sondern sogar noch einen Schritt weiterzugehen: Die konsequente Reaktion auf die neue sicherheitspolitische Gefahrenlage wäre, sich für die Eröffnung der Kapitel 23 und 24 (Justiz und Grundrechte, Justiz, Freiheit und Sicherheit) im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen sowie für Verhandlungen zur Modernisierung der Zollunion einzusetzen. Dieser Schritt würde anti-westliche Kräfte in der Türkei schwächen und Ankara stärker an den Westen – und damit auch an Deutschland – binden.