Das traditionelle Bild Lateinamerikas als Krisenregion scheint sich auch nach der Corona-Krise fortzuschreiben, nunmehr im Zeichen der Folgen des Ukraine-Krieges und der Sanktionsmaßnahmen des Westens. Inflationsdruck, Budgetdefizite und die Gefahr eines Abrutschens breiter Kreise der Bevölkerung in die Armut beflügeln Negativszenarien. Es gibt erste Hinweise, dass bereits einige Länder in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Auf die Tagesordnung gesetzt werden Forderungen lateinamerikanischer Regierungen nach Schuldenerlass oder Neuverhandlung der Auslandsschulden im Zuge einer Neuausrichtung des Entwicklungsmodells an Nachhaltigkeitskriterien und Klimaschutz. Dies erfordert einen tiefgreifenden Strukturwandel, weg von der traditionellen Rohstoffprägung der Ökonomien und hin zu einem umwelt- bzw. sozialverträglichen Entwicklungspfad. Auf diesem Weg müssen auch Deutschland und Europa einen Schwenk vollziehen, indem sie einen Beitrag zum Erhalt der natürlichen Ressourcen leisten und nicht nur zu deren Ausbeutung.
Die komplexe wirtschaftliche Situation in Lateinamerika und der Karibik (LAK) mit Inflation, steigender Schuldenlast und der Tendenz zur Abwertung nationaler Währungen weckt schlimme Erinnerungen in der Region. Ein erneutes Abgleiten in makroökonomische Instabilität soll unbedingt vermieden werden. Mit der Anhebung der Zinsen und hohen Devisenreserven wird versucht, die Gefahren abzuwehren, die der Währungsstabilität infolge der Unsicherheit auf den internationalen Märkten drohen. Damit sollen stabile makroökonomische Rahmenbedingungen hergestellt werden. Zudem sind die Regierungen bestrebt, die Folgen der Wirtschaftskrise abzumildern, und zwar mit Subventionen für Transport sowie Energie- und Lebensmittelpreise, Umsatzsteuersenkungen für sensible Produktpreise sowie selektive Preiskontrollen. Erneut setzen viele Länder auf Exportwachstum, um die Krise zu überwinden. Allerdings bestehen dafür zurzeit nur geringe Chancen. Die globalen Nachfrageindikatoren weisen nicht in diese Richtung. Selbst wenn es einen Nachfrageboom gäbe, könnte aufgrund eingeschränkter Möglichkeiten, schnell die Produktion auszuweiten, nicht der erhoffte Effekt eintreten.
Erneut tritt China als alternativer Partner auf: Die meisten Länder Lateinamerikas und der Karibik können es sich nicht leisten, den chinesischen Markt und die von dort kommenden Investitionen zu verlieren. Auch hat China in der Vergangenheit langfristige Kreditfazilitäten angeboten. Diese ersparten es den LAK-Ländern, bei internationalen Finanzorganisationen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank um Überbrückungskredite zu bitten, die mit hohen Auflagen und Konditionalitäten verbunden sind. Damit gelang es, den Markteintritt chinesischer Unternehmen abzusichern. Traten Zahlungsschwierigkeiten auf, etwa bei den Schuldnerländern Venezuela, Argentinien und Ecuador, gewährte Peking Zahlungsaufschübe und beraumte Gespräche über Restrukturierungsoptionen an. Diese Vorgehensweise wurde in der Region als Langzeitstrategie (»patient capital«) wahrgenommen, obwohl sich die chinesischen Kreditgeber für einen potentiellen Zahlungsausfall vertraglich an die Spitze der Rückzahlungslinie setzen ließen.
Doch der Rückgriff auf andere Finanzquellen ist nicht das einzige Instrument im Krisenmanagement. Die Regierungen versuchen, regionale Ansteckungseffekte zu vermeiden. Diese können entstehen, wenn alle Länder gleichzeitig ihre Ausgaben reduzieren und damit die Nachfrage auch in anderen Ländern zusammenbricht. Zudem bemühen sich die Regierungen, die Anfälligkeit für Finanzkrisen zu minimieren, indem sie ihre Einnahmen aus Exporterlösen steigern. Der einfache Weg zurück in die Rohstoffökonomie ist damit vorgezeichnet. Aber zunehmend regt sich Widerstand in der Region gegen dieses etablierte Muster der Krisenbewältigung.
Eine weitere verlorene Dekade für Lateinamerika?
Aufgrund der Covid-19-Pandemie sowie verschärfter wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen wurde der Subkontinent in seiner Entwicklung um viele Jahre zurückgeworfen. Die ohnehin schwachen demokratischen Institutionen haben weiter Schaden genommen, das Misstrauen in die Institutionen ist gestiegen, und der politische und gesellschaftliche Konsens erodiert. Nicht ohne Grund ist von einer »neuen verlorenen Dekade« in Lateinamerika gesprochen worden. Damit wird auf den langen Schatten der lateinamerikanischen Schuldenkrise in den 1980er Jahren Bezug genommen. Während dieser Zeit erreichten die Länder der Region einen Punkt, an dem ihre Auslandsverschuldung weit höher war als die Wirtschaftskraft ihrer Volkswirtschaften. Weil sie über ihre Verhältnisse gelebt hatten, erlitten sie einen massiven Wohlfahrtsverlust und einen Schub in der Armutsrate, was ihre Entwicklung erheblich beeinträchtigte.
Eine ähnliche Konstellation wird heute wieder befürchtet, angesichts der deutlich abgeflachten Wachstumskurve, des Inflationsdrucks und der Schwierigkeiten einiger Länder wie Argentinien, Suriname und Ecuador, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Das jährliche Wirtschaftswachstum in der Region von 2014 bis 2023 lag im Durchschnitt bei 0,9 Prozent, war also nur halb so hoch wie in der »verlorenen Dekade«. Zwar hat der Schuldendienst in der Gesamtregion noch keine bedrohlichen Dimensionen angenommen, aber für kleine Staaten wie Belize, Jamaika, Barbados, Guyana, Suriname und Panama sind bestehende oder aufkommende finanzielle Klemmen nicht zu übersehen. International unterstützte »Buy-Backs« können ein hilfreiches Gegenmittel sein. Dabei werden öffentliche Gelder eingesetzt, um Schulden von Krisenländern weit unter dem Nominalwert zurückzukaufen und anschließend zu erlassen.
Kurz- bis mittelfristig sind die Perspektiven wirtschaftlicher Entwicklung in Lateinamerika nur verhalten. Die konjunkturelle Erholung nach der Corona-Pandemie hat an Schwung verloren. Nun sind die Wachstumsraten der lateinamerikanischen Volkswirtschaften in den Krisenjahren 2014 bis 2019 mit durchschnittlich 0,3 Prozent pro Jahr auf ein niedriges Niveau zurückgefallen. In der Folge gingen die Pro-Kopf-Einkommen zurück. Projektionen der Weltbank zufolge wird sich das Wirtschaftswachstum in der Region 2023 verlangsamen, auf 1,3 Prozent gegenüber 3,6 Prozent im Jahr zuvor, und erst in den folgenden Jahren wieder an Dynamik gewinnen. Wird aber die Binnennachfrage durch inflationsbedingte Straffung der Geldpolitik gedämpft, kann dies die wirtschaftliche Entwicklung stärker als erwartet drosseln. Sinken die Exportpreise für Rohstoffe deutlich infolge nachlassender globaler Nachfrage und verschlechterter Konditionen auf den internationalen Finanzmärkten, wächst die Gefahr, dass Währungen abgewertet werden und externes Kapital abfließt. Das kann sich negativ auf die Zahlungsbilanzen auswirken. So musste Bolivien bereits auf seine Sonderziehungsrechte beim IWF zurückgreifen, um zusätzliche Liquidität zur Stützung des festen Wechselkurses der Landeswährung Boliviano gegenüber dem US-Dollar zu erhalten.
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Quelle: International Monetary Fund, Global Debt Database, Central Government Debt, Dezember 2022, https://www.imf.org/external/datamapper/CG_DEBT_GDP@GDD/SWE |
Nicht nur in diesem Andenland ist daher ein höheres Maß an Armut und Ungleichheit zu befürchten. Es wird erwartet, dass beides in der Region bis Ende 2023 weiter wachsen wird, vor allem aufgrund der Konjunkturabschwächung und der steigenden Inflation gerade bei den Lebensmittelpreisen, welche die Ärmsten in der Bevölkerung besonders hart trifft. Der Inflationsdruck treibt die sozialen Sicherungssysteme in eine finanzielle Klemme, sodass Auseinandersetzungen über die Abfederung der Krisenfolgen vorhersehbar sind. Bei zunehmenden fiskalischen Budgetbeschränkungen werden Energie- und Nahrungsmittelsubventionen sowie direkte Transferleistungen für die schwächsten Sektoren der lateinamerikanischen Gesellschaften erforderlich, um ein Abrutschen in noch größere Armut zu verhindern. Bei anhaltender politischer Instabilität in Ländern wie Argentinien und Brasilien sowie stagnierendem oder sinkendem Lebensstandard großer Bevölkerungsgruppen drohen erneut soziale Unruhen mit Streiks und Produktionseinschränkungen. Zudem bildet die Wahrnehmung vieler Menschen, nur begrenzte oder keine wirtschaftlichen Chancen zu haben, den Nährboden für fortdauernde Gewalt und endemische Korruption.
Deshalb muss über geeignete Instrumente nachgedacht werden, um diese Missstände zu beheben. Es geht darum, Entschuldungsmechanismen in Gang zu setzen und zugleich die negativen Auswirkungen bestehender Finanzierungslücken mit Hilfe risikoabgesicherter Kreditfazilitäten (beispielsweise gegenüber Wechselkursschwankungen) aufzufangen. Sieht man von Staaten wie Kuba und Venezuela ab, die sich ohnedies außerhalb der internationalen Kapitalmärkte bewegen, sind Anstrengungen gefragt, die für die besonderen Bedürfnisse von Ländern mittleren Einkommens maßgeschneidert sind. Zu diesen gehört die Mehrzahl der lateinamerikanischen Flächenstaaten. Dabei kommt es darauf an, den wiederkehrenden Konjunkturkrisen und der Tendenz, dass alle Maßnahmen prozyklisch wirken und dadurch den Abschwung verstärken, entgegenzuwirken. Den sich abzeichnenden Liquiditätsproblemen gilt es durch Schuldenstundungen und -streckung zuvorzukommen. Die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC/CEPAL) befürchtet, dass erhöhte sozialpolitische Aufwendungen in wichtigen Ländern fiskalische Spielräume weiter verengen könnten. Daher warnt die Kommission nachdrücklich vor vorschnellen fiskalischen Anpassungen, da sie dazu führen könnten, die schwachen Wachstumsimpulse abzuwürgen und die Entwicklungsanstrengungen entgleisen zu lassen. Gerade das Anlegen großer Devisenreserven, um sich gegen externe Schocks zu wappnen und die nationale Währungsstabilität zu sichern, ist letztlich nur auf Kosten des Wirtschaftswachstums ins Werk zu setzen, wie das mexikanische Beispiel zeigt.
Gemeinsames Handeln gegen Inflationsdruck in der Region
Die linksorientierten Regierungen der Region sehen große soziale Sprengkraft in der steigenden oder auf hohem Niveau verharrenden Inflation. Deshalb sind sie bestrebt, gemeinsame Maßnahmen zu ergreifen, um die Geldentwertung zu bremsen und Ernährungssicherheit herzustellen. So bemühen sich die Präsidenten Argentiniens, Brasiliens, Mexikos, Kolumbiens und Kubas darum, eine »Antiinflationsfront in Lateinamerika« zu begründen, um die Preise essentieller Güter in ihren Ländern zu kontrollieren, sei es durch Senkung von Importzöllen oder durch Vorzugsbelieferung der jeweiligen Partnerländer untereinander. Grundlage dafür soll ein Abkommen sein, dem sich auch Bolivien, Chile und Honduras anschließen könnten. Dabei soll der zwischenstaatliche Warenaustausch so organisiert werden, dass überhöhte Preise unter den Ländern durch Zulieferungen ausgeglichen werden. Das würde die aktive Beteiligung von Produzentenorganisationen, Zwischenhändlern sowie Konsumenten und Konsumentinnen verlangen. Allerdings ist ein solches Verfahren wohl nur dann realistisch, wenn es sich nicht um Produkte handelt, bei denen diese Länder untereinander in Konkurrenz stehen. Mit diesem Muster solidarischen Handelns und gegenseitiger Hilfe soll es gelingen, die Inflation zu drücken und für die Verbraucherinnen und Verbraucher, vor allem jene in den Armutssektoren, eine Entlastung zu schaffen. Gerade für Argentinien mit einer Inflationsrate von 95,2 Prozent, Kolumbien mit 13,1 Prozent und Kuba mit 39,7 Prozent (jeweils 2022) ist eine solche Option ein zusätzlicher Rettungsanker angesichts steigender Lebensmittelpreise.
Die mexikanische Regierung hatte bereits im Oktober 2022 mit 15 Produzenten und Supermarktketten eine nationale Regelung für 24 Produkte des Warenkorbs an Grundnahrungsmitteln vereinbart. Dafür setzte sie bürokratische Hindernisse für Importe, Verteilung und Weiterverarbeitung der vorgesehenen Erzeugnisse aus. Gleichzeitig verhängte sie für bestimmte strategische Güter ein Exportverbot, um die nationale Produktion zu sichern. Mit Hilfe dieser Vereinbarung sollen die Kosten der 24 Produkte für die Verbraucherinnen und Verbraucher um 8 Prozent gesenkt werden. Ergänzend soll die Versorgung mit Düngemitteln zu Vorzugspreisen oder sogar kostenlos erfolgen.
Fraglich ist jedoch, wie wirksam die im nationalen wie im regionalen Rahmen angedachten Wege zur Inflationskontrolle sein werden. Zum einen sind die Preisdynamiken in hohem Maße durch internationale Auswirkungen des Krieges in der Ukraine bedingt. Zum anderen drücken die Preiskontrollen auf die öffentlichen Haushalte, wenn etwa in Mexiko die Besteuerung von Treibstoffen ausgesetzt wird oder bestimmte Betriebe kostenlos mit Düngemitteln beliefert werden sollen. Es steht daher zu befürchten, dass der Plan einer gemeinsamen Front gegen die Inflation den Regierungen vor allem dazu dient, Handlungskompetenz zu demonstrieren, ohne dass die erwünschten Effekte dauerhaft eintreten.
Energietransition, Klimawandel und Verschuldung zusammendenken
Nach Jahren weitreichender Krisenerfahrung sehen sich die Länder der Region vor enorme Herausforderungen gestellt. Kurzfristig geht es darum, die Ökonomien dieser Länder wetterfest zu machen, etwa durch Bekämpfung der Inflationstendenzen und Wiederherstellung fiskalischer Handlungsfähigkeit angesichts leerer öffentlicher Kassen. Mittelfristig kommt es darauf an, eine neue Energie- und Produktionsmatrix und die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze im formellen Sektor voranzutreiben. Allerdings gerät die zeitliche Abfolge bei der Verwirklichung dieser Zielgrößen immer wieder ins Wanken, da die Verwerfungen des Ukraine-Krieges und die westliche Sanktionspolitik zusätzliche Belastungen nach sich gezogen haben. Dabei handelt es sich um Preissteigerungen bei strategischen Gütern (Düngemittel) und Lebensmitteln, Produktionsausfälle als Folge unterbrochener Lieferketten und Versorgungsprobleme.
Trotz dieser komplexen Gemengelage wird in Lateinamerika gegenwärtig eine Debatte geführt, wie diese umfassende wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Agenda mit dem Natur- und Energiekapital der Region so verknüpft werden kann, dass daraus innovative industriepolitische Impulse gewonnen werden. Es geht darum, dieses Kapital so in Wert zu setzen, dass damit das Produktivitätswachstum gefördert und die Entwicklung neuer Wirtschaftszweige im Bereich »grüner Wirtschaft« unterstützt werden. Ein solcher Übergang erfordert in einer rohstoffreichen Region besonders hohe politische Entscheidungskraft, denn dafür müssen umfangreiche Finanzmittel mobilisiert werden, die bislang vor allem durch Rohstoffausfuhren erwirtschaftet wurden.
Die Neigung, in der traditionellen Rolle eines Rohstoffexporteurs aus der Krise herauszukommen, ist dabei in der lateinamerikanischen Debatte ebenso präsent wie das Interesse, die Weichen neu zu stellen, das heißt umzusteuern hin zu umfassenderer Wertschöpfung durch Weiterverarbeitung im eigenen Land oder in der Region. Daher sind schwierige und konfliktreiche Prozesse der gesellschaftlichen Verständigung über diese Zielstellungen zu erwarten, erste Auftakte dazu hat es bereits in Chile und Kolumbien gegeben. Da viele Länder weiterhin von Einnahmen aus dem Ölgeschäft leben – Argentinien, Brasilien, Ecuador, Mexiko, Peru, Guyana, Trinidad und Tobago, Venezuela –, besteht eine große Pfadabhängigkeit, deren Überwindung beträchtliche Anstrengungen erfordern wird. Den Abschied von fossilen Brennstoffen und die Dekarbonisierung der nationalen Energiematrix können die Regierungen ohne breite nationale Unterstützung und das entsprechende Investitionskapital kaum bewerkstelligen.
Als Grundlage für diesen Wandel verfügt die Region über eine strategische Position, denn sie kann wichtige Mineralien für die Energiewende nutzen und liefern. Im Jahr 2017 besaßen Lateinamerika und die Karibik 61 Prozent der Lithium-, 39 Prozent der Kupfer- und 32 Prozent der Nickel- und Silberreserven der Welt. Nur die internationale Nachfrage nach diesen Rohstoffen zu bedienen ist heute aus Sicht der Regierungen in Chile, Kolumbien und anderer Länder nicht mehr sinnvoll. Sie wollen das Produktionsprofil grundlegend umgestalten, was nichts weniger bedeutet als eine wirtschaftliche und politische Umkehr: Es gilt, neue industriepolitische Impulse zu setzen, um das alte Muster rohstoffexportierender Ökonomien hinter sich zu lassen. Vor dem Hintergrund einer restriktiven internationalen Geldpolitik und reduzierter Kapitalflüsse in die Region sind daher auch steuerpolitische Maßnahmen gefragt, um den notwendigen Kapitalbedarf zu decken. Zusätzlich sind die nationalen und multilateralen Entwicklungsbanken und der Privatsektor gefordert, Investitionskapital zu günstigen Bedingungen zu mobilisieren.
Zielgröße: Just Transition
Der normative Horizont eines sozialverträglich gestalteten, gerechten Übergangs (Just Transition) zu einer nachhaltigen Wirtschaft ist in der entwicklungspolitischen Debatte fest verankert. Dabei soll es vor allem gelingen, in den jeweiligen Gesellschaften auch soziale Resilienz zu sichern und Verwerfungen zu vermeiden, die der Wechsel des Entwicklungspfades hin zur Nachhaltigkeit mit sich bringen könnte.
Doch das Zusammendenken von Energietransition, Klimawandel und Schuldenpolitik weist auch auf vielfältige Zielkonflikte hin: So gibt es kein Patentrezept für eine Just Transition, die konkrete Ausformung muss den lokalen Bedingungen angepasst werden. Es sind also spezifische Ansätze für den jeweiligen Kontext vonnöten, die oftmals nicht im Einklang mit den allgemeinen Förderprinzipien etwa der Entwicklungszusammenarbeit stehen. Nebenfolgen können sich zu erheblichen Hindernissen auswachsen: In Mexiko und Brasilien sind Windparks auf den Widerstand ländlicher Gemeinden gestoßen, die Konsultationen vor dem Bau der Anlagen einklagen. In Ecuador hat die Nachfrage nach Balsaholz, einem der wichtigsten Materialien für den Bau von Windturbinenflügeln, den Druck auf die Wälder im Amazonasgebiet erhöht. In Argentinien folgen Tausende von Menschen auf der Suche nach Arbeitsplätzen dem Ruf der »fossilen Energie« in die Ölindustrie nach Vaca Muerta. Diese geologische Formation erstreckt sich über mehrere Provinzen und enthält zudem einige der weltweit größten Schiefergasvorkommen.
Auf solche Verwerfungen muss die Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands und Europas eingehen. Die Schwächen der lateinamerikanischen Produktionsketten und ihre laxeren Umwelt- und Arbeitsstandards haben jedoch den Abschluss von Handelsabkommen wie etwa des Mercosur mit der EU erschwert. Immer vernehmlicher ertönen Stimmen aus der Region, die Bedenken hinsichtlich eines möglichen »grünen« Protektionismus und übergriffiger extraterritorialer Regulierung äußern, welche die EU mit ihren Grundsätzen und Standards durchsetzen könnte. Diese Argumentation – die auch mit dem Begriff »regulatorischer Imperialismus« operiert – sollte nicht unterschätzt werden, da sie an den Argwohn in den lateinamerikanischen Ländern gegenüber ihren europäischen Partnern anschließt, diese verteidigten mit Umweltargumenten marktprotektionistische Interessen. Je weiter sich die globale Energiewende durchsetzt, desto mehr neue geopolitische Zuordnungen und Rivalitäten entstehen, die es zu managen gilt.
Um möglichst viele davon zu vermeiden oder zu entschärfen, sollten die Staaten der EU sich gemeinsam mit den Ländern der Region daran machen, geteilte Standards zu erarbeiten. Damit würden sie einen Beitrag dazu leisten, dass etwa Elemente des Escazú-Abkommens (siehe SWP-Aktuell 1/2021) auch Bestandteil der europäischen Regelwerke werden und damit ein Prozess der gegenseitigen Weiterentwicklung von Normen und Verfahren einsetzt. Auf diesem Wege kann es gelingen, aus der Gewinner-Verlierer-Logik herauszukommen, die angesichts der massiven internationalen Umschichtungen im Zuge der Energietransition Platz greifen dürfte. Deutschland und Europa sollten die Formulierung einer gezielten Industriepolitik in den LAK-Staaten unterstützen und die existierenden Finanzierungslücken für die Just Transition schließen helfen. Das bedeutet zum einen, Schulden umzuwandeln und sich dabei an der Zielmarke Just Transition zu orientieren, wohl wissend, dass auch die Länder mittleren Einkommens in Lateinamerika nicht robust genug sind, um den Krisensymptomen trotzen zu können. Die meisten LAK-Länder erfüllen nicht die Voraussetzungen für die bestehenden Schuldenumwandlungsfazilitäten. Zudem sind diese Fazilitäten meist an vorherige Vereinbarungen mit dem Pariser Club gebunden, so dass deren Wirkungen zur Entlastung der Haushalte sehr begrenzt sind.
Schulden-für-Klima-Swaps wären als Weiterentwicklung der am Beispiel Belize 2021 praktizierten Debt-for-Nature-Swaps ein geeignetes Instrument, um den Weg hin zu einer kohlenstoffärmeren Wirtschaft zu erleichtern und gleichzeitig Haushaltsspielraum zu schaffen, damit die LAK-Länder in soziale Resilienz und nachhaltige Entwicklung investieren können. Diese Neuorientierung wird indes nur tragfähig sein, wenn sehr viel mehr Aufwand betrieben wird, die vorhandenen Rohstoffe in der Region zu schützen, statt mit dem Interesse an deren Ausbeutung eine neue Partnerschaft zwischen Europa und Lateinamerika zu begründen.
Literaturhinweis
Günther Maihold / Tania Muscio Blanco / Claudia Zilla, Von gemeinsamen Werten zu komplementären Interessen. Für eine Neukonzeption der Beziehungen Deutschlands und der EU mit Lateinamerika und der Karibik, Berlin: SWP, Dezember 2022 (SWP-Aktuell 78/2022)
Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP. Dieses Papier entstand im Rahmen des Projekts »Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf Lateinamerika/Karibik und die Beziehungen zu Deutschland und Europa«.
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DOI: 10.18449/2023A24