Am 3. Februar 2021 haben die USA und Russland die Gültigkeit des New-Start-Vertrags über die Verminderung strategischer Waffen um fünf Jahre verlängert. Zwei Tage später wäre er außer Kraft getreten. Der Vertrag begrenzt Atomwaffen und strategische Trägersysteme globaler Reichweite. Wollte der damalige Präsident Donald Trump zuerst China einbinden und neue russische Waffen einbeziehen, änderte sein Nachfolger Joe Biden prompt den Kurs. Damit wurde ein quantitativer atomarer Rüstungswettlauf vorläufig abgewendet. Um strategische Stabilität aber auch künftig zu sichern, muss binnen fünf Jahren ein Nachfolgevertrag geschlossen werden. Es wird darum gehen, die Zahl strategischer Atomwaffen zu senken, auch neue Waffentechnologien und substrategische Kernwaffen zu begrenzen sowie die Fähigkeiten anderer Atommächte zu berücksichtigen. Dies wird sich auch auf regionale Abschreckungskonzepte auswirken. Deutschland und die Verbündeten sollten diesen Prozess nachdrücklich unterstützen und bei der Überprüfung des strategischen Konzepts der Nato die Bedeutung von Kernwaffen reduzieren.
Der New-Start-Vertrag war unter den Präsidenten Barack Obama und Dmitri Medwedew am 8. April 2010 in Prag unterzeichnet worden und am 5. Februar 2011 in Kraft getreten. Präsident Biden hat per Dekret eine Verlängerung um fünf Jahre ohne Vorbedingungen angeordnet. Weil der Vertrag dies erlaubt, war keine weitere Ratifizierung durch den US-Senat notwendig.
In Russland dagegen mussten die Duma und der Föderationsrat die Verlängerung erneut billigen. Sie hatten 2010 dem Vertrag unter der Bedingung zugestimmt, dass Raketenabwehr und konventionelle Angriffsoptionen der USA das Gleichgewicht nicht gefährden dürfen. Beide Kammern aber ratifizierten die Vertragsverlängerung wie erwartet in wenigen Tagen, zumal Präsident Putin dies seit langem gefordert hatte.
Ohne die Verlängerung hätte es keine völkerrechtliche Barriere mehr gegen ein neues quantitatives Wettrüsten gegeben. Russland und die USA verfügen gemeinsam über mehr als 90% aller Kernwaffen weltweit. Etwa zwei Drittel ihrer rund 12 000 Atomsprengköpfe, also jeweils etwa 4 000, befinden sich im aktiven Bestand der Streitkräfte. Sie sind entweder zusammen mit den Einsatzsystemen stationiert oder werden in Lagern bereitgehalten. Der Rest ist zur Konversion oder Verschrottung in der Industrie vorgesehen.
Bedeutung des New-Start-Vertrags
Nicht alle Trägersysteme besitzen eine interkontinentale Reichweite, die es ermöglicht, Industriezentren, strategische atomare Waffenpotentiale und militärische Einrichtungen auf dem Territorium der Gegenseite zu bedrohen. Nur Systeme mit dieser Fähigkeit werden vom New-Start-Vertrag als »strategische Waffen« begrenzt. Andere Trägersysteme und etwa 60% der aktiven Atomwaffenbestände beider Seiten sind keinen rechtsgültigen Begrenzungen unterworfen.
Der New-Start-Vertrag limitiert die Zahl strategischer Trägersysteme mit globaler Reichweite auf je 700 stationierte Träger, nämlich landgestützte ballistische Interkontinentalraketen (ICBM), U-Boot-gestützte ballistische Raketen (SLBM) und schwere Bomber. Insgesamt dürfen sie nicht mehr als 1 550 Atomsprengköpfe tragen. Indes wird für schwere Bomber nur eine einzige Kernwaffe angerechnet, obwohl sie bis zu 20 Bomben oder Marschflugkörper mitführen können. Für stationierte und nicht stationierte strategische Trägerwaffen gilt eine Gesamtbegrenzung von 800 Systemen.
Vereinbart wurden auch ein stetiger Datenaustausch, die Verifikation durch Satelliten und pro Jahr jeweils 18 Inspektionen vor Ort. Sie sollen gewährleisten, dass die Vertragsnormen eingehalten werden.
Russland und die USA halten das vom Vertrag erlaubte Arsenal für hinlänglich, um vor einem nuklearen (»strategischen«) Erstschlag der anderen Seite gegen das eigene Hoheitsgebiet und eigene strategische Atomwaffen abzuschrecken. Das überlebensfähige Potential würde für einen vernichtenden Gegenschlag ausreichen.
Die gesicherte gegenseitige Vernichtungsfähigkeit ist die »Geschäftsgrundlage« für die Wahrung strategischer Stabilität. Nukleare Rüstungskontrolle soll diese Fähigkeit gewährleisten, auch wenn die strategischen Arsenale weiter reduziert werden. Moderne Waffenentwicklungen und der Einfluss anderer nuklearer Akteure auf die Stabilität in einzelnen Weltregionen stellen jedoch den bisherigen Regelungsrahmen des New-Start-Vertrags in Frage.
Abrüstung und Nichtverbreitung
Bei Verhandlungen über einen New-Start-Folgevertrag wird es zuerst darum gehen, die strategischen Arsenale zu verkleinern, ohne die Zweitschlagfähigkeit zu gefährden. Abrüstungsbemühungen glaubwürdig zu halten ist auch für den Nichtverbreitungsprozess wichtig. Schon Präsident Obama hat diesen Zusammenhang anerkannt und so international Erwartungen geweckt. Seinen Vorschlag, die Zahl strategischer Kernwaffen auf je 1 000 zu senken, unterstützte auch der damalige Vizepräsident Biden.
Bei vielen Staaten des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) ist die Enttäuschung darüber gewachsen, dass die Rüstungskontrolle erodiert. Seit 2017 haben auch deshalb 86 Staaten den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen (AVV) unterzeichnet. Am 22. Januar 2021 trat er in Kraft. Er verbietet den Kernwaffenbesitz, den der NVV fünf Atommächten erlaubt. Zudem untersagt der AVV die nukleare Kooperation mit Atommächten, doch verlassen sich rund 40 Staaten auf US-Sicherheitsgarantien. Das birgt die Gefahr, die NVV-Staatengemeinschaft zu spalten.
Verknüpft war die Legitimierung des Kernwaffenbesitzes für die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien indes mit der Verpflichtung, abzurüsten. Die NVV-Staaten definierten zahlreiche Maßnahmen, um alle Atomwaffen schrittweise zu eliminieren. Es sollten die mit ihnen verbundenen Risiken reduziert, das umfassende Testverbotsabkommen (CTBT) in Kraft gesetzt, Verhandlungen über ein Verbot der Produktion von Spaltmaterial (FMCT) aufgenommen und im Nahen Osten eine Zone ohne Massenvernichtungswaffen eingerichtet werden. Zudem sollten die Nuklearmächte den Nichtkernwaffenstaaten weitreichende Sicherheitsgarantien geben, sie nicht mit Atomwaffen anzugreifen.
Seit über zwanzig Jahren aber stagniert dieser Prozess. Fortschritte bei der Reduzierung der Atomwaffen könnten helfen, die Atmosphäre im NVV-Prozess zu verbessern und zu verhindern, dass die Gräben zwischen den NVV-Staaten noch tiefer werden.
Strategische Stabilität in Zukunft
Neue Waffenentwicklungen könnten das strategische Gleichgewicht gefährden. Ein New-Start-Nachfolgevertrag muss dem entgegenwirken. Es müssen Regeln für offensive Technologien wie Hyperschallwaffen, Wiedereintrittskörper mit unsteter Flugbahn, Antisatellitenwaffen und Marschflugkörper mit globaler Reichweite formuliert werden. Dabei sind Raketenabwehrsysteme mitzuberücksichtigen.
Russland ist vor allem darüber besorgt, dass Präzision und Geschwindigkeit globaler Angriffsoptionen der USA zunehmen könnten. Es befürchtet, bei einem kombinierten nuklearen und konventionellen Erstschlag der USA einen Großteil seines eigenen strategischen Arsenals zu verlieren.
Auch könnte sich die Effektivität der strategischen US-Raketenabwehr so erhöhen und geographisch verdichten, dass diese das nach einem US-Erstschlag verbleibende Gegenschlagpotential Russlands abfangen könnte. Dann wäre das strategische Gleichgewicht unterminiert. Russische Experten erkennen zwar an, dass die USA noch nicht über diese Fähigkeiten verfügen, trauen ihnen das aber offenbar für die Zukunft zu.
Jüngste Waffenentwicklungen sollen Russlands Fähigkeit gewährleisten, die US-Raketenabwehr auch künftig zu überwinden. Dazu gehören der nukleargetriebene Marschflugkörper Burevestnik mit globaler Reichweite, der manövrierfähige Hyperschall-Gleitflugkörper Avangard und der Langstreckentorpedo Poseidon. Die USA warnen vor den Risiken dieser russischen Waffenprojekte. Sie seien nicht oder nicht eindeutig vom New-Start-Vertrag erfasst, da er Marschflugkörper nicht begrenzt und Avangard keiner ballistischen Flugbahn folgt. Russland hat zwar zugesichert, dass Avangard in den Vertragsrahmen falle, da er von einer ICBM in seine Flugbahn gebracht werde. Für andere Träger hingegen bedarf es einer Regelung.
Zudem verkürzen strategische Marschflugkörper und Hyperschall-Gleitflugkörper die Warnzeit. Ihre Flugbahn ist kaum berechenbar, und sie sind erst spät über dem Horizont sichtbar. Radargeräte können sie daher nur wenige Minuten vor dem Einschlag erfassen. Das schränkt zwar die Zweitschlagfähigkeit überlebensfähiger Atompotentiale nicht prinzipiell ein. Experten argwöhnen aber, dies könne einen Anreiz schaffen, schon dann einen nuklearen Gegenschlag auszulösen, wenn eine automatisierte Berechnung der Zielorte anfliegender Raketen vorliegt (launch on warning). Wird das Warnsystem elektronisch massiv gestört, könnte die Lage außer Kontrolle geraten. Verhandlungen über den New-Start-Folgevertrag werden das berücksichtigen müssen.
Substrategische Waffen und China
Lagerbestände an Kernwaffen und Trägersysteme mit mittlerer und kurzer Reichweite sind nicht durch Verträge geregelt. Solche substrategischen oder »taktischen« Kernwaffen wirken sich auf regionale Kräftebalancen aus. Bei günstiger geographischer Dislozierung können sie sogar strategische Wirkung entfalten, wenn sie das Territorium von Nuklearmächten bedrohen. Sie sind wesentliche Komponenten der »erweiterten Abschreckung«, also der Sicherheitsgarantien der USA zugunsten verbündeter Nichtkernwaffenstaaten in Europa und Ostasien. Diese Fähigkeit zur nuklearen Eskalation soll nicht nur vor atomaren, sondern auch vor konventionellen Aggressionen abschrecken. Sie schließt also die Option zum nuklearen Ersteinsatz ein.
Auch Jagdbomber der Verbündeten können nach Freigabe durch den Präsidenten der USA Atomwaffen einsetzen (»nukleare Teilhabe«). Dazu sind in Europa etwa 150 atomare Schwerkraftbomben in fünf Nato-Staaten stationiert, auch in Deutschland.
Einige Verbündete befürchten, Russland könnte einen Überraschungsangriff gegen Nato-Staaten führen und taktische Atomwaffen einsetzen, um nach Gebietsgewinnen die Deeskalation zu erzwingen. Moskau weist dies zurück und erklärt, nur dann nuklear zu eskalieren, wenn die Existenz der Nation bedroht ist. Russland besitzt rund 1 800 »taktische« Kernwaffen, die nicht bei den Einsatzverbänden, sondern in Europa und Asien zentral gelagert sind. Sie sind für Raketenabwehr, maritime Systeme, Jagdbomber und Marschflugkörper vorgesehen.
Seit dem Ende des INF-Vertrags über das Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen im August 2019 erwägt die Nato, konventionelle landgestützte Marschflugkörper mittlerer Reichweite (GLCM) in Europa zu stationieren. Die Trump-Administration hatte ihre Kündigung des Vertrags mit Vertragsverletzungen Russlands begründet, sich dann aber auf China konzentriert. Nachdem sie Peking vergeblich aufgefordert hatte, dem INF-Vertrag beizutreten, ließ sie neue GLCM testen und Stationierungsorte im Westpazifik erkunden.
Chinas Kernwaffenpotential wird derzeit auf etwa 320 Sprengköpfe geschätzt. Zwar dürfte Peking nur 140 ICBM und SLBM besitzen, hat aber ein Vielfaches an landgestützten, überwiegend konventionellen Kurz- und Mittelstreckenraketen stationiert. Im Konfliktfall sollen diese das Süd- und das Ostchinesische Meer abriegeln, um Interventionen von US-Flotten zugunsten Taiwans und amerikanischer Verbündeter in Ostasien zu unterbinden.
Raketenpotential und Flottenrüstung Chinas haben das regionale Gleichgewicht verändert und die Glaubwürdigkeit der US-Bündnisgarantien in Ostasien geschwächt. Präsident Biden wird daher weiterhin versuchen, China in die nukleare Rüstungskontrolle einzubinden. Bisher hat Peking dies abgelehnt, auf die jeweils zwanzigmal so großen Kernwaffenarsenale der USA und Russlands verwiesen und gefordert, diese sollten zunächst auf das Niveau der kleineren Atommächte abrüsten. Zudem verfügen die USA über umfangreiche Bestände an luft- und seegestützten Marschflugkörpern, die sie in der Region einsetzen können.
Russland wiederum möchte auch Frankreich und Großbritannien mit ihren rund 500 Kernwaffen in ein multilaterales Rüstungskontrollregime einbeziehen, um das strategische Gleichgewicht zu wahren.
Folgerungen
Die Fragen, wie Regeln für neue Technologien aussehen und andere Akteure beteiligt werden können, werden Verhandlungen über einen New-Start-Folgevertrag erschweren. Bisher zeigen sich China, Großbritannien und Frankreich nicht interessiert, daran teilzunehmen. Denn selbst wenn Russland und die USA vereinbarten, ihre strategischen Arsenale auf je 1 000 Sprengköpfe und 500–600 Trägersysteme sowie ihr gesamtes Kernwaffenpotential auf je 2 500 Gefechtsköpfe zu begrenzen, besäßen sie immer noch über 80% der weltweiten Atomwaffenbestände.
Beide Mächte werden China nicht zugestehen, auf ihr Niveau aufzurüsten. China aber wird keinem Vertrag zustimmen, der seinen Status als zweitrangige Macht festschreibt. Pekings Teilnahme an Gesprächen über strategische Stabilität wäre dann vorstellbar, wenn sie seinen Sicherheitsinteressen dienen. Diese betreffen Raketenabwehr und substrategische Potentiale der USA.
Moskau und Washington könnten die anderen drei Atommächte zunächst zu Stabilitätsgesprächen einladen. Ziel wäre es, sie zu veranlassen, ihre Kernwaffenbestände einzufrieren und deren Transparenz zu erhöhen, wenn die USA und Russland ihre Bestände weiter verringern. Zudem könnten die drei Mächte erklären, unter welchen Bedingungen sie sich in Zukunft an Abrüstungsschritten beteiligen würden.
In Verhandlungen über einen New-Start-Folgevertrag werden auch Regeln für substrategische Atomwaffen gefunden werden müssen. Denkbar wären Teilobergrenzen für strategische und substrategische Systeme. Sie müssten flexibel gestaltet werden, um geostrategischen Asymmetrien, regionalen Erfordernissen und erweiterten Abschreckungskonzepten Rechnung zu tragen.
Das künftige strategische Konzept der Nato sollte daher die Rolle der Kernwaffen für die Abschreckung darauf beschränken, ihren Ersteinsatz zu verhindern. Deutschland sollte dies gemeinsam mit anderen nuklearen Teilhabestaaten vorantreiben.
Oberst a.D. Wolfgang Richter ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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doi: 10.18449/2021A17