Die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine über ein Ende des Krieges kommen nicht voran. Zu weit scheinen die Positionen voneinander entfernt. André Härtel stellt die wichtigsten Streitpunkte vor.
Seit den Gesprächen im März in der Türkei sind die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland ins Stocken geraten. Dies liegt am Taktikwechsel Russlands von Anfang April, mit dem es seine Ziele einer »De-Militarisierung« und »Entnazifizierung« der Ukraine auf anderem Wege zu erreichen versucht. Das Kalkül der russischen Militärführung, die gescheiterte Vierfronten-Strategie zu Gunsten eines konzentrierten Vorgehens in der Ostukraine aufzugeben, ist aber bisher nicht aufgegangen. Das sich andeutende militärische Patt bei hohen Kosten für beide Seiten könnte ernsthafte Friedensverhandlungen wahrscheinlicher machen. Welches sind die wichtigsten Fragen der Verhandlungen? Wie weit sind die Gespräche hier jeweils schon gediehen? Welches Szenario ist nach heutigem Stand das wahrscheinlichste?
Die in der ukrainischen Verfassung festgehaltene Absicht Nato-Mitglied zu werden, war einer der vorgebrachten Hauptgründe für Russlands Invasion. Hier hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bereits Beweglichkeit bewiesen. Für eine zukünftige außenpolitische Neutralität verlangt die Ukraine aber starke Sicherheitsgarantien vergleichbar mit der Nato-Beistandsverpflichtung. Diese will ihr bisher keiner der ins Spiel gebrachten Staaten wie etwa die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, die Türkei und Deutschland geben. Eine mögliche Lösung wäre, dass Garantiestaaten der Ukraine für einen zukünftigen Angriff Russlands Unterstützung wie im aktuellen Fall zusichern, also mit harten wirtschaftlichen Sanktionen, Energieembargos und Waffenlieferungen. Nur bei glaubwürdigen Garantien ist zu erwarten, dass sich Selenskyj auf die von Russland geforderten Truppenreduzierungen einlässt. Eine weitere Möglichkeit ist eine Neutralität der Ukraine unter bestimmten Voraussetzungen. Eine Verletzung der territorialen Integrität durch Russland würde dem Land dann die umgehende Aufgabe aller mit dem neutralen Status eingegangen Verpflichtungen gestatten. Erschwert wird dieser Weg durch die Ankündigung Selenskyjs, über die Neutralisierung des Landes ein Referendum abzuhalten. Derzeit ist der Zuspruch der ukrainischen Bevölkerung für einen Nato-Beitritt rückläufig. Allerdings wäre mit einer knappen Entscheidung zu rechnen.
Die russische Führung wertet das in der Ukraine nach 2014 begonnene, erfolgreiche Reformprojekt als Bedrohung des eigenen autoritären Modells. Die Festschreibung eines Sonderstatus für die sogenannten Donezker und Luhansker Volksrepubliken in den Minsker Vereinbarungen von 2015 sollte das innerukrainische Reformprojekt unterminieren. Auch jetzt ist es unwahrscheinlich, dass sich der russische Präsident Wladimir Putin mit einer »freien Restukraine« arrangiert, die sich aus seiner Sicht immer weiter zu einem »Anti-Russland« entwickeln kann. Daher will der Kreml Einfluss auf die ukrainische Verfassung nehmen und dort Regelungen zu Sprachen und Minderheiten verankern – oder sogar eine Föderalisierung. Eine weitere Möglichkeit für Russland, Einfluss auf die ukrainische Innenpolitik zu nehmen, wäre, in den jetzt eroberten Gebieten neue De-facto-Staaten zu gründen und diese dann analog zu 2015 mit einer Art »Minsk-3-Abkommen« dafür zu nutzen. Allerdings sind im eroberten ukrainischen Süden heute kaum kollaborationswillige Eliten zu finden und die dortige Bevölkerung aktiv pro-ukrainisch eingestellt.
Ein letztes großes Streitobjekt in den Verhandlungen ist die Territorialfrage. Russland hat zuletzt angedeutet, dass die Eroberung der gesamten Donezker und Luhansker Gebiete sowie die Besetzung des südlichen Landkorridors neues strategisches Ziel ist. Dies entspricht der Annahme, dass Putin bei Beendigung des Krieges symbolische und geopolitische Erfolge benötigt, die er innenpolitisch verkaufen kann. Ansonsten droht ihm die Destabilisierung seines Regimes. In dem genannten Szenario wäre dies die Einnahme Odessas, verbunden mit einer Abtrennung der Ukraine vom Seezugang. Die Ukraine wiederum beharrt auf die Rückgabe aller seit dem 24. Februar besetzten Territorien. Sie würde einer Abtrennung von Gebieten wohl nur zustimmen, wenn ihr der militärische Zusammenbruch droht. Lediglich bei der Krim und für den 2014/15 besetzten Donbass haben ukrainische Verhandler Ende März in Istanbul Flexibilität angedeutet. Die Option eines Gebietstausches – etwa russischer Eroberungen im Chersoner Gebiet gegen unbesetzte Teile des Donbass – erscheint damit nicht realistisch.
Aktuell scheinen beide Parteien die mit einer Weiterführung des Krieges verbundenen möglichen Gewinne noch höher zu gewichten als die zu erwartenden Kosten. Dies könnte sich aber im Fall des sich abzeichnenden militärischen Patts schnell ändern. Trotzdem wiegen die bei allen Verhandlungspunkten existierenden Gegensätze schwer. Ein wahrscheinlicher Ausgang ist daher Stand heute ein Abkommen, das einen vorübergehenden Waffenstillstand mit »Einfrierung« der militärischen Lage zur Folge hat. Analog zu »Minsk 2« könnten andere Punkte aufgenommen werden, hätten aber kaum Chancen auf langfristige Umsetzung. Vielmehr würden beide Parteien in einer jahrelang andauernden Atempause die Gelegenheit sehen, sich besser auf die nächste Eskalation vorzubereiten als der Gegner.
Deutschland sollte ernsthafte Bemühungen der Kriegsparteien zu einer Verständigung zu kommen unterstützen, wobei das deutsche Interesse an einer souveränen und freien Ukraine sowie an der regelgeleiteten internationalen Ordnung Grundbedingungen darstellen. Für eine beginnende Rücknahme der Sanktionen sollte der Abzug Russlands auf die Grenzen von vor dem 24. Februar Grundlage sein. Alles andere würde den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg legitimieren. Danach steht die Frage der zukünftigen ukrainischen Sicherheit im Vordergrund. Deutschland sollte sich als Garantiestaat anbieten und für den Fall einer Verletzung der ukrainischen Neutralität auch ein umfängliches Energieembargo ins Spiel bringen. Bei der Ausgestaltung eines Abkommens sollte Berlin auch darauf drängen, Fehler von »Minsk 2« zu vermeiden, darunter die unklare Abfolge der einzelnen Umsetzungsschritte und die internationale Sanktionierung von De-facto-Staaten in der Ukraine, die eine Wiederherstellung der Souveränität des Landes und dessen langfristige Stabilisierung verhinderten.
doi:10.18449/2022C33
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