Die nationalkonservative Fidesz-Partei hat die Parlamentswahl in Ungarn erneut deutlich gewonnen. Regierungschef Viktor Orbán hat sich gegen eine geeinte Opposition behauptet. Deutschland sollte nun dazu beitragen, dass das Land innerhalb der EU nicht auf Abwehrkurs geht, meint Kai-Olaf Lang.
Die ungarische Parlamentswahl am 3. April 2022 brachte einen deutlichen Wahlsieg des bisherigen Regierungsbündnisses von Ministerpräsident Viktor Orbán. Seine nationalkonservative Partei Fidesz und die mit dieser liierte christdemokratische KDNP bestimmen für weitere vier Jahre die Politik des Landes. Dass Fidesz siegen würde, war keine Überraschung. Eher schon, dass das Regierungslager zum vierten Mal in Folge eine Zwei-Drittel-Mehrheit erreichte. Es ist nicht zuletzt das Zusammenwirken von drei Faktoren, die den abermaligen Triumph ermöglichten.
Erstens haben Viktor Orbán und seine Partei einmal mehr ihre inhaltliche Setzungs- und Interpretationsdominanz unter Beweis gestellt. Noch vor wenigen Monaten hatte sich stellenweise das Gefühl aufgedrängt, das Regierungslager sei auf der Suche nach Themen mit elektoraler Durchschlagskraft, da traditionelle Mobilisierungsfragen wie Migration vorübergehend an Brisanz verloren hatten. Dies änderte sich einerseits durch die seitens der Regierung lancierten sozialen, steuerlichen und auf Preisbegrenzung abzielenden Entlastungsmaßnahmen. Andererseits griff Viktor Orbán gekonnt den Krieg in der benachbarten Ukraine auf. Flankiert durch eine professionelle Wahlkampfapparatur und offensive Medienkampagnen präsentierte sich Fidesz als Partei der Stabilität und des Friedens.
Zweitens war die Opposition nicht in der Lage, mit ihrer breiten Anti-Fidesz-Allianz eine Dynamik des Aufbruchs zu erzeugen. Und der eine oder andere Schnitzer des Spitzenkandidaten Márki-Zay machten diesen vom Hoffnungsträger zu einem Politiker mit Schwächen und Fehltritten. Zwar ist es als Erfolg zu werten, dass das Oppositionsbündnis stets zusammenhielt, der mühsame Spagat zwischen linken, liberalen und (post-)nationalistischen Gruppierungen ging aber mit Kosten einher. So ist der Erfolg der rechtsradikalen Mi-Hazánk-Partei auch darauf zurückzuführen, dass Wähler der in die Mitte gerückten Gruppierung Jobbik zu dieser Partei wechselten.
Drittens trugen die »Integrationsfähigkeiten« von Viktor Orbán und Fidesz dazu bei, unterschiedliche Wählergruppen an die Regierungspolitik zu binden. Sie vermochten diejenigen zu überzeugen, die in einer prowestlichen Tradition und der des Erbes von 1956 stehen, aber auch diejenigen, die mit Blick auf die Ukraine Äquidistanz vorziehen oder gar prorussische Sympathien hegen. Auch umfasst die Wirtschaftspolitik der Partei marktorientiert-bürgerliche und soziale Elemente, womit sie für Teile der erfolgreichen Mittelschichten wie auch für sozialräumliche Peripherien attraktiv wurde. Vor allem aber konnte Fidesz sowohl utilitaristische Wählergruppen, denen es vorrangig um sozialökonomische Sachverhalte ging, als auch werteorientierte traditionalistische Milieus erreichen.
Was heißt dies alles für die Außenpolitik Ungarns? Fidesz wird den vierten Wahlsieg mit Verfassungsmehrheit als Machtressource im Verhältnis zur Außenwelt nutzen. Das heißt: Ungarns multidimensionale Außenpolitik wird - innenpolitisch abermals legitimiert - fortgesetzt, allerdings in einem gegenüber den letzten Jahren veränderten internationalen Kontext. Vor allem die Bezugnahme auf Russland wird schwieriger. Ob es Ungarn gelingt, durch seine Kontakte zu Moskau als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine unter Einbeziehung von Deutschland und Frankeich zu agieren, wie Viktor Orbán dies in seiner Pressekonferenz drei Tage nach der Wahl vorschlug, bleibt abzuwarten. Obwohl Ungarn sich gegen ein EU-Embargo bezüglich der Einfuhren von russischem Öl und Gas stellt, wird Budapest den Bogen in der Russlandpolitik der Union nicht überspannen wollen. Angesichts des gewandelten Rahmens bei den Beziehungen zu Russland wird die Regierung versuchen, Kooperationen mit anderen externen Akteuren, wie China oder der Türkei, zu vertiefen, um diese wirtschaftlich, aber auch als Gegengewicht zum Beispiel zu Brüssel zu nutzen.
In der EU sind die Beziehungen zum Schlüsselpartner Polen wegen des Verhältnisses zu Russland belastet. Das konservative polnische Regierungslager, welches aufgrund von Gemeinsamkeiten bei Werte- und Europapolitik traditionell ein enger Verbündeter von Fidesz ist, schaut zunehmend kritisch auf Ungarns Kurs gegenüber Russland und der Ukraine. Das ungarische-polnische Verhältnis wird daher zunächst eher Zweckbündnis als Wertgemeinschaft sein. Und auch in Sachen Rechtsstaatlichkeit ändert sich die Konstellation. So hat die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nun angekündigt, ein Verfahren zur Mittelsperrung im Rahmen des neuen Konditionalitätsmechanismus gegen Budapest zu initiieren – von Warschau war zunächst nicht die Rede. Sollte Polen einen Kompromiss für die Freigabe der Mittel aus dem Wiederaufbaufonds erreichen und Ungarns Wunsch auch Zugang zu den Darlehen aus diesem Finanzinstrument zu bekommen, abgelehnt werden, wären Warschau und Budapest in der Frage der Rechtsstaatlichkeit zumindest vorübergehend in einer anderen Situation. Budapest wird daher versuchen, die Beziehungen zu Warschau zu stabilisieren, was aber nur gelingen kann, wenn Russlands-Krieg gegen die Ukraine nicht mehr Spaltpotential zwischen Ungarn und Polen entwickelt. Ähnliches gilt auch für die Visegrád-Gruppe, deren Vorsitz Ungarn innehat. Hier wird es daran arbeiten, weiterhin an europapolitischen Überlappungsthemen der vier Länder, wie etwa dem Binnenmarkt, zu arbeiten, nachdem gegenwärtig bei sicherheitspolitischen Fragen nur schwer Schwung erzeugt werden kann.
Für Ungarns Politik in der EU wird auch eine Rolle spielen, dass das Land, wie andere auch, vor großen wirtschaftlichen, finanziellen und gesellschaftlichen Herausforderungen steht. Die Fidesz-Partei kann durchregieren, aber die ökonomische Lage wird wirtschaftspolitisch keinen Spaziergang erlauben. Auch deswegen mahnt Ungarn jetzt den Zugang zu EU-Geldern an. Fließen diese nicht und kommen auch noch Kürzungen infolge des Konditionalitätsmechanismus dazu, wird Ungarn sich in einigen Fragen, die Einstimmigkeit erfordern, querlegen. Deutschland sollte bei allem berechtigten Anmahnen von Wertetreue auch darauf achten, dass Ungarn sich in der EU und in Mitteleuropa nicht einigelt, sondern gerade dort, wo Anknüpfungspunkte bestehen, etwa bei der Zukunft der Energie- und Versorgungssicherheit oder in Fragen der europäischen Sicherheitspolitik , den Dialog vorantreiben. Dies könnte neue Chancen in Ostmitteleuropa eröffnen, wo viele Länder den deutschen Kurs etwa in der Energiepolitik kritisch sehen.
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doi:10.18449/2021A49
Folgen des Austritts für das europäische Parteiengefüge und für Ungarns Verhältnis zu Deutschland
doi:10.18449/2021A32
Beitrag zu einer Sammelstudie 2020/S 26, 17.12.2020, 90 Seiten, S. 20–23