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Tunesiens Demokratisierung: Erhebliche Gegenbewegungen

Große Fortschritte, alte Seilschaften, unklare Perspektiven

SWP-Aktuell 2019/A 07, 19.02.2019, 8 Seiten

doi:10.18449/2019A07

Forschungsgebiete

Mitte Januar 2019 jährte sich das Ende der Ben-Ali-Diktatur zum achten Mal – die Feier­lichkeiten wurden jedoch durch massive soziale Proteste getrübt. Im Jahr der zweiten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen seit Verabschiedung der neuen Ver­fassung 2014 gehen die Meinungen zu Tunesiens politischer Entwicklung ausein­an­der – und zwar sowohl in Tunesien selbst als auch im Ausland: Während die einen die Demokratisierung für quasi abgeschlossen halten, befürchten andere einen Rück­fall in die Autokratie. Nüchtern betrachtet zeigt sich, dass Tunesien trotz erheblicher demokratischer Errungenschaften in Gefahr ist, sich zu einem hybriden – teils demo­kratischen, teils autoritären – System zu entwickeln. Dies liegt nicht nur am schwierigen wirtschaftlichen und regionalen Kontext. Vielmehr erschweren politische, wirt­schaftliche und administrative Seilschaften des alten Systems sowie nach wie vor existierende autoritäre Praktiken und eine »alte« Rhetorik in Politik und Gesellschaft die Vertiefung der fragilen Demokratie. Klares Ziel für Tunesiens internationale Partner sollte es sein, diese Gegenbewegungen zu schwächen.

Acht Jahre nach dem Ende der Diktatur gilt Tunesien als einziges Land, das sich infolge des sogenannten »Arabischen Frühlings« demokratisiert hat. Die tunesische Transi­tion ist allein schon deshalb bemerkenswert, weil der regionale Sicherheitskontext und die tiefe Wirtschaftskrise seit 2011 die Demo­kratisierung alles andere als begünstigen.

Zum Jubiläum der »Revolution« im Januar 2019 prägten allerdings nicht die demokratischen Fortschritte die Schlag­zeilen in tunesischen und internationalen Medien. Vielmehr standen massive soziale Proteste, ein Generalstreik sowie Machtkämpfe innerhalb der politischen Eliten im Vordergrund. Nach knapp vier Jahren steckt die Regierungskoalition aufgrund von Kon­flikten zwischen ihren beiden größten Par­teien, der säkularen Nidaa Tounes und der moderat islamistischen Ennahdha-Partei, in einer ernsten Krise. Stein des Anstoßes waren vor allem wachsende Konflikte 2018 zwi­schen Staatspräsident Béji Caid Essebsi und Premierminister Youssef Chahed (damals Nidaa Tounes): Essebsi drängte auf die Ab­lösung des ursprünglich von ihm vorgeschlagenen Chahed. Dagegen beharrte Ennahdha im Namen von Kontinuität und Stabilität darauf, dass der Premierminister im Amt bleibt. Ende Januar 2019 gründete Chahed eine eigene politische Partei, Tahya Tounes, mit der er die gesellschaftliche und politische Mitte besetzen möchte. Es gilt als wahrscheinlich, dass Chahed für die Präsi­dentschaftswahlen im November 2019 kan­didieren wird. Dies wird der 92-jährige Amts­inhaber Essebsi möglicherweise auch wieder tun. Ein eige­ner Kandidat der aktuell stärks­ten Partei Ennahdha ist eben­falls nicht aus­geschlossen. Falls Ennah­dha bei den Parlaments­wahlen im Oktober 2019 wie erwartet erneut stark abschneidet, dürfte ihr die Rolle der Königsmacherin zufallen.

Die aktuellen Ränkespiele finden vor dem Hintergrund einer äußerst angespannten wirtschaftlichen Situation statt. Tune­sien ist, um einen Staatsbankrott abzuwenden, auf internationale Kredite angewiesen. Die Geber, allen voran der Internationale Wäh­rungs­fonds, fordern Sparmaßnah­men und Strukturreformen. Gleichzeitig hat die mäch­tige Dachorganisation der Gewerkschaften (Union Générale Tunisienne du Travail, UGTT) massiv gegen Sparmaß­nahmen mobilisiert. Zwar haben Chahed und die UGTT Anfang Februar eine Eini­gung zu Lohnerhöhungen erzielt. Aber die über Monate anhaltende, von Streiks beglei­tete Pattsituation zwischen Regierung und UGTT hat die wirtschaftliche Lage verschärft und die verbreiteten sozio-ökonomischen und politischen Proteste zu­sätzlich angekurbelt. Es ist wahrscheinlich, dass das Ringen zwischen Regie­rung und UGTT um wirtschaftliche Refor­men und Austeritätsmaßnahmen weiter­gehen wird.

Diese Dynamiken primär als Folge demo­kratischer Freiheiten und politischen Wett­bewerbs zu lesen, würde zu kurz greifen. Sie sind auch Ausdruck der Schwierig­keiten, die Demokratisierung zu konsolidieren. Anti­demokratische Eliten­netzwerke in Politik, Wirtschaft und Ver­waltung, einge­schliffene autoritäre Prakti­ken und eine »alte« Rhetorik gehören nach wie vor zum poli­tischen Repertoire Tunesiens. Sie haben maß­geblich dazu beigetragen, dass es bis­lang nicht gelungen ist, die erheb­lichen politischen Errungenschaften seit 2011 so zu verankern, dass sie unumkehrbar sind.

Die Errungenschaften

Grundsätzlich wären die Voraussetzungen für die Konsolidierung der tunesischen Demo­kratie ausgezeichnet. Tunesiens 2014 verabschiedete Verfassung gilt – zu Recht – als Meilenstein in der politischen Ge­schich­te Nordafrikas. Sie ist die progressiv­ste und demokratischste Verfassung der Re­gion. Sie limitiert explizit die Rolle des Mili­tärs und garantiert die Gleichstellung von Mann und Frau, unterstreicht die Unabhängigkeit der Justiz und schafft die Grundlage für eine De­zentralisierung poli­tischer Verantwortung. Tunesiens Verfassung etabliert ein Sys­tem, in dem die exekutive Gewalt zwischen dem vom Parlament gewählten Premier­minister und dem direkt gewählten Präsidenten ge­teilt wird. Die in der Region weit verbreitete Konzentration politischer Macht auf eine einzige Person soll hierdurch verhindert werden. Nicht zuletzt legt die Ver­fassung den Grundstein für die Trennung von Poli­tik und Religion.

Neben dem Inhalt der Verfassung war auch ihre Erarbeitung selbst eine wichtige Errungenschaft und brachte einigen der Protagonisten 2015 den Friedensnobelpreis ein. Akteure der Zivilgesellschaft hatten 2013 in einem durch Gewalt angeheizten Klima um Verfassungsprozess und ‑inhalte die Initiative ergriffen und einen Kompromiss verhandelt, der von nahe­zu dem ge­samten politischen Spektrum getra­gen wurde.

Seit der Verabschiedung der Verfassung hat Tunesien 2014 Parlaments- und Präsi­dent­schaftswahlen sowie 2018 Kommunalwahlen durchgeführt. Die Organisation der Wahlen durch die unabhängige Wahl­kom­mission (Instance Supérieure Indépendante pour les Elections, ISIE) fand dabei inter­nationale Anerkennung. Sowohl die betei­lig­ten Par­teien als auch internationale Wahl­beob­achter erkannten die Wahlen als frei und fair an. In all diesen Prozessen zeigten sowohl islamistische als auch säku­lare Parteien, dass sie sich an demokratische Spielregeln halten können.

Bei diesen positiven Entwicklungen hat sich die Relevanz der aktiven und sich schnell entwickelnden Zivilgesellschaft gezeigt. Die neu gewonnenen Bürgerrechte erlaubten so­genannten »Watch-Dog«-Orga­nisationen wie AlBawsala, I-Watch oder Nawaat, als kri­tische Beobachter und Mei­nungsbildner die Entwicklung Tunesiens mitzugestalten – nicht zuletzt über Kam­pagnen in sozialen Medien. Besonders bemerkenswert ist, dass die tunesische Zivilgesellschaft mit Shams die einzige offiziell anerkannte Organisation Nord­afrikas hat, die sich für die Rechte der LGBTI-Gemeinschaft einsetzt und deren Entkriminalisierung fordert.

Auch die Verabschiedung eines Gesetzes 2017, das Whistleblower schützt, die Kor­rup­tion aufdecken, ist maßgeblich der Zivil­gesellschaft zu verdanken. Dasselbe gilt für die Etablie­rung 2014 der sogenannten Wahr­heitskommission (Instance de Vérité et Dignité, IVD) zur Vergangenheitsauf­arbei­tung, deren Mandat im Dezember 2018 aus­gelaufen ist.

Allerdings haben sich gerade in dieser äußerst sensiblen Frage der Vergangenheits­bewältigung Grenzen und Defi­zite des neuen Tunesiens gezeigt. Um die IVD, ihre Kompetenzen, ihre Arbeitsweise und die potentielle Verlängerung ihres Mandats hatte sich ein Tauziehen zwischen reform- und status-quo-orientierten poli­tischen Akteuren entwickelt, bei dem Letz­tere meist die Oberhand behielten.

Grenzen der Demokratisierung

Schwierigkeiten, die Demokratisierung zu konsolidieren, zeigen sich am deutlichsten in der Judikative, im Sicherheitssektor und in der Korruptionsbekämpfung.

Judikative. Fast fünf Jahre nach der Verabschiedung der neuen Verfassung hat Tune­sien noch immer kein Verfassungsgericht – von den zwölf vorgesehenen Richtern ist erst ein einziger vom Parlament bestätigt worden. Dies hat ernste Konsequenzen: Die Rechtmäßigkeit im Sinne der Verfassung mehrerer Gesetze, die in den vergangenen Jahren ver­abschiedet worden sind, war ebenso umstritten wie die Befugnisse des Präsi­denten und des Premierministers. Mehrfach fand sich das Land am Rande einer Ver­fassungskrise. Auch über das Ver­fassungsgericht hinaus sind weitere Refor­men in der Judikative notwendig, um deren Unabhängigkeit und Transparenz sicherzustellen. So bleibt zum Beispiel die weit ge­fasste Zuständigkeit und Anwendung mili­tä­rischer Gerichtsbarkeit problematisch.

Sicherheitssektor. Noch bedenklicher ist die Lage im Sicherheitssektor und hier insbe­sondere im Innenministerium. Zwar haben sich die Kapazitäten der tunesischen Sicher­heitskräfte insgesamt in den letzten Jahren verbessert, vor allem aufgrund extensiver Unterstützung inter­nationaler Partner. Dennoch sind grundlegende interne Refor­men, vor allem der Polizei, verschleppt worden. Der Sektor operiert weithin in­trans­parent, fragmentiert sowie ohne klare Rechen­schaftspflicht bzw. parlamentarische Aufsicht. Die Rolle von neuen, zunehmend politisch aktiven Gewerkschaften innerhalb des Sicherheits­sektors, insbesondere bei der Polizei, ist besonders besorgniserregend, da diese wiederholt durch konkrete Erpressung der Legislative und Judikative auffällig wur­den (vgl. S. 4). Die häufige Verhängung des Ausnahmezustands und die ausufernde An­wendung von Antiterrorgesetzen in Fällen, in denen keine offen­sichtliche Verbindung zu Terrorismus besteht, verhindern mehr Transparenz im Sicherheits­apparat und können Bürger- und Menschenrechte unter­wandern. So wird etwa die freie Mei­nungs­äußerung ein­geschränkt: Unter dem Vor­wand der Unter­wanderung des Zusam­men­halts der Armee wurde der Blogger und Par­lamentarier Yassine Ayari 2018 zu einer Haft­strafe wegen eines Facebook-Eintrags verurteilt.

Wirtschaft. Auch die Reform korrupter Wirt­schaftsstrukturen des alten Systems hat bisher zu kurz gegriffen. Sie beschränkte sich primär auf die Familie des vorherigen Prä­sidenten Ben Ali sowie auf wenige, poli­tisch opportune und öffentlichkeitswirksa­me Fälle. Unabhängige staatliche Institutionen zur Korruptionsbekämpfung wie die Instance Nationale de la Lutte contre la Corruption bleiben ohne aus­reichende politische Unterstützung. Die Verwaltung des 2011 konfiszierten Wirt­schaftsimperiums des ehemaligen Diktators und seiner Familie stellte sich ebenfalls schwierig dar. Recht­liche Unklarheiten, sich überschneidende Kompetenzen und ein Mangel an Ressourcen und politischem Willen haben zu Kor­ruption und Misswirtschaft geführt sowie zur Rehabilitation pro­minenter Figuren aus dem sogenannten Ben-Ali-Clan.

Besonders kontrovers war in diesem Zu­sammenhang ein 2017 verabschiedetes Gesetz. Es spricht ranghohen Beamten, denen Korruption unter dem Ben-Ali-Regime vorgeworfen wurde, eine Generalamnestie aus. Ein früherer Entwurf für dieses Gesetz, der die Amnestie auch auf die kom­plette Privatwirtschaft ausgeweitet hätte, war als Resultat massiver Proteste aus der Zivil­gesellschaft gescheitert. Dennoch ist fest­zustellen, dass die Entflechtung von Politik und Wirtschaftseliten bislang nicht gelun­gen ist. Damit ist ein zentraler Bau­stein der Macht- und Profit-Anhäufung des Ben-Ali-Regimes noch immer nicht beseitigt.

Die Gegenbewegungen zur Demokratisierung

Die beschriebenen Tatsachen – dass die Judikative ihre un­abhängige Rolle (noch) nicht voll ausüben kann, dass keine grund­legenden Reformen im Sicherheitssektor stattgefunden haben und dass korrupte Wirtschaftseliten des alten Sys­tems weit­gehend unbehelligt bleiben – sind einer Reihe von Gegenbewegungen zur Demokratisierung geschuldet. Diese unterwandern oder blockieren notwendige Reformen.

Netzwerke

Alte Netzwerke innerhalb von Sicherheits­sektor, Wirtschaft und Verwaltung stellen erhebliche Störfaktoren für Tunesiens De­mo­kratisierung dar. Sie haben sich in ver­schiedenen Reformprozessen eine Quasi-Vetomacht erarbeitet. Ein Beispiel hierfür sind die Polizeigewerkschaften. 2012 ver­hinderten sie zeitweilig die Entlassung eines Gene­raldirektors im Innenministerium, der später wegen Tötung von Demonstranten durch die Sicherheitskräfte 2011 ver­urteilt wurde. Seit 2015 versuchen diese Ge­werkschaften die Legislative zur Beschäf­ti­gung mit einem bestimmten Gesetz zu zwin­gen, indem sie protestieren und drohen, keine Sicherheit mehr zu gewährleisten. Dieses Gesetz würde Akteuren im Sicherheits­sektor unter anderem Straflosigkeit auch dann zusichern, wenn sie tödliche Ge­walt zum Schutz von Eigentum anwenden.

Dabei geht es den unterschiedlichen alten Netzwerken in der Regel nicht darum, den Status quo ante wiederherzustellen. Viel­mehr stehen die Sicherung eigener Pfrün­de und die Verfolgung partikulärer Interessen im Vordergrund. In einem kon­solidierten demokratischen System mit entsprechender Transparenz und Rechenschaftspflicht ließe sich dies nur schwer realisieren.

Alte Seilschaften in der Wirtschaft

Viele Tunesierinnen und Tunesier hatten sich von der Demo­kratisierung nicht nur neue politische Institutionen erhofft, son­dern auch eine inklusivere, fairere und we­ni­ger korrupte Wirtschaftsordnung. Diese Hoffnungen sind bislang weitestgehend ent­täuscht worden. Der Familienclan des ehe­maligen Präsidenten Ben Ali, der durch Kor­ruption und Einschüchterung eine Klientel­wirtschaft errichtete, hat das Land größten­teils verlassen. Andere poli­tisch gut ver­ban­delte Wirtschaftseliten sind jedoch weiter­hin aktiv und auch international gut ver­netzt. Ihr politisches Interesse liegt vor allem darin, die unter dem alten Regime gewon­nenen Privilegien zu ver­teidigen. Überdies wollen sie Refor­men abwenden, die Trans­parenz und Wettbewerb erhöhen und damit zur Ent­stehung neuer Konkurrenten führen könn­ten. Diese Strategie hat seit Jahrzehnten zu niedrigen Steuereinnahmen, einem wachsen­den in­formellen Sektor und einem intrans­paren­ten System von Regulierungen beige­tragen, das die tunesische Wirt­schaft mas­siv belas­tet. Die strategische In­trans­parenz ist auch ein Grund, warum Teile der Wir­tschafts- und insbesondere der Dienst­leis­tungs­elite dem umfassenden Frei­handels­abkommen mit der EU negativ gegen­über­stehen, über das die Regierung zurzeit ver­handelt.

Darüber hinaus versuchen diese Seilschaften zu verhindern, dass Wirtschafts­eliten für ihre Verbindungen zu Ben Alis Regime zur Rechenschaft gezogen werden. Auch in diesem Anliegen sind sie bislang ausgesprochen erfolgreich gewesen.

Das liegt nicht zuletzt am erheblichen Einfluss, den diese Wirtschaftsseilschaften auf die öffentliche Meinung ausüben. Denn obwohl die Pressefreiheit in der neuen Ver­fassung verankert ist, hat die hohe Konzen­tration von Medienbesitz in den Händen weniger, teils politisch ambitionierter Ak­teu­re die Entwicklung einer vielseitigen, professionellen und unabhängigen Presse­landschaft verhindert. Folglich spiegeln die Presse und die klassischen audiovisuellen Medien (Radio, TV) die große Vielfalt der politischen Landschaft keineswegs wider. Zudem kommt es zu konzertierten Medien­kampagnen, etwa gegen Ennah­dha, die in den beschriebenen Wirtschaftsseilschaften wenig Unterstützer hat.

Nicht zuletzt profitieren diese Seilschaften auch von der Rückkehr wichtiger Kader aus Ben Alis 2011 aufgelöster Quasi-Ein­heits­partei Rassemblement Constitutionnel Démocra­tique (RCD) in hohe Positionen in Politik und Verwaltung. So zum Beispiel hatten mehr als ein Fünftel der 43 Minister und Staatssekretäre der Regierung Chahed von 2017 / 18 schon in der Ben-Ali-Zeit als Minis­ter und / oder RCD-Kader gedient.

Abschließend muss betont werden, dass die verschiedenen Netzwerke mit Verbindungen zum alten System keine gemeinsame Front bilden. Vielmehr handelt es sich um sehr diverse Seilschaften, deren Inter­essen sich aber überschneiden, wenn es um das Ab­wehren von Regularien und Gesetzen für mehr Transparenz, Rechenschaftspflicht und Vergangenheitsaufarbeitung geht.

Praktiken

Zu den Gegenbewegungen, die die Ver­ankerung der Demokratie erschweren, ge­hö­ren auch autoritäre Reflexe und Prak­tiken. Sie beginnen an der Staatsspitze und reichen weit über die politische Arena hin­aus in die Gesellschaft.

So hat Staatspräsident Essebsi wiederholt die Kompetenzen seines Amtes überschritten. Als Premierminister Chahed Ende 2018 eine partielle Kabinettsumbildung vornahm, ver­weigerte Essebsi beispielsweise anfänglich seine Zustimmung mit der Begründung, er sei nicht konsultiert worden. Dabei sieht die neue Verfassung eine solche Konsultation nicht vor. In dieses Muster passt auch, dass Essebsi wiederholt angeregt hat, zu einem reinen Präsidialsystem überzugehen.

Darüber hinaus zeigt Essebsi wenig Res­pekt für parteiinterne demokratische Ver­fahren. Einst Mitbegründer von Nidaa und heute aufgrund seiner Präsidentschaft partei­los, versucht Essebsi seit mehreren Jah­ren, seinen Sohn gegen erheblichen Wider­stand innerhalb der Partei zum Vorsitzenden von Nidaa Tounes zu machen. Nach der Fusion von Nidaa mit der kleine­ren UPL-Partei ist 2018 ein Politiker Gene­ralsekretär von Nidaa geworden, der im Februar 2019 in Ab­wesenheit zu fünf Jahren Haft wegen Korruption verurteilt worden ist.

Auch innerhalb vieler anderer Parteien dominieren Praktiken, die begrenzt demo­kratisch sind und einzelnen Personen ein überproportionales Gewicht verleihen. Oftmals werden Persönlichkeiten programmatischen Inhalten übergeordnet.

Der sehr starke Fokus auf einzelne cha­rismatische Führungspersönlichkeiten, im Maghreb »zaïmisme« genannt, führt dazu, dass wichtige Entscheidungen zuwei­len nicht in Regierung und Parlament ver­han­delt, sondern informell abgesprochen wer­den. Dies geschah wiederholt zwischen Prä­sident Essebsi und dem Vorsitzenden der Ennahdha-Partei, Rachid Ghan­nouchi, die im tunesischen Jar­gon bezeichnenderweise »Sheikhs« genannt werden.

Zu den für Demokratisierung problematischen Praktiken von Parteien gehört die In­transparenz bei der Parteienfinanzierung. Gemäß einer Aussage von I-Watch vom Januar 2019 weigerten sich 96 Prozent der über 200 tunesischen Parteien Finanz­berich­te bzw. ‑abrechnungen vorzulegen. Seit Ende 2017 steht die Verabschiedung eines Gesetzes zur Parteienfinanzierung an.

Dass dieses Gesetz bislang nicht verabschiedet worden ist, liegt nicht zuletzt am Streben nach Konsens um jeden Preis – der von 2014 bis 2018 leitenden politischen Dok­trin Essebsis und Ghannouchis. So hat sich Ennahdha im Interesse der Bei­behal­tung des Konsenses immer stark nach Nidaas Prä­ferenzen gerichtet. Dies erklärt, dass En­nahdha den Gesetzen zur Amnestie für Ver­waltungskader und dem Gesetz zur Terro­ris­musbekämpfung zugestimmt hat, ob­wohl beide Gesetze innerhalb der Partei höchst umstritten waren. Paradoxerweise hat das Kon­sens­prinzip damit die Ver­tie­fung der Demokratie ebenfalls be­hin­dert. Der Ennahdha-Partei sitzt die Angst vor erneuter Ausgrenzung im Nacken: In der Ben-Ali-Zeit war die Partei verboten, ihre Mitglieder wurden verfolgt. Diese Sorge ist durch den Coup des Militärs gegen die Muslimbrüder in Ägypten 2013 verstärkt worden und dürfte Ennahdha weiterhin nach Konsens streben lassen.

Autoritäre Reflexe wirken auch außerhalb der Politik, denn die Machtstrukturen des alten Regimes haben sich nicht auf den formalen politischen Raum be­schränkt. Im Verwaltungsapparat, aber auch an Schulen und Universitäten exis­tieren weiterhin oft­mals hochgradig hier­archische Strukturen, sind Kompetenz­überschreitungen gängige Praxis und fin­den sich keine funktionierenden insti­tutionellen Kontrollorgane.

All diese Praktiken reduzieren die Transparenz, stärken klientelistische und per­so­nalisierte Netzwerke und erschweren die gesellschaftliche Verankerung neuer demo­kratischer Spielregeln.

Rhetorik

Ein weiterer wichtiger Faktor, der einer »tiefen« Demokratisierung in Tunesien ent­gegenwirkt, ist eine bestimmte Rhetorik, die von tunesischen Politikern und Politike­rin­nen im In- und Ausland an­gewendet wird, um zentrale Strukturreformen abzuwehren.

In der Kommunikation mit der eigenen Bevölkerung neigen tunesische Entscheidungsträger dazu, politische Verantwortung und Handlungsmacht systematisch und unverhältnismäßig häufig auf aus­ländische Akteure zu schieben. Die Ver­einigten Arabischen Emirate, Frankreich, die Europäische Union, der sogenannte »Islamische Staat« oder die USA werden dabei auch in innenpolitischen Auseinandersetzungen als »eigentliche Strippenzieher« präsentiert. Oft werden okkulte Netz­werke evoziert, in die auch lokale Akteure eingebunden sein sollen, denen Patriotismus abgeht. Dadurch wird nicht nur der in der Bevölkerung ver­breitete Hang zu Ver­schwörungstheorien befeuert. Vielmehr diskreditieren politische Eliten auf diese Weise ausländische Medien, die kritisch berichten, sowie unab­hängige tunesische Medienschaffende und Nichtregierungs­organisationen, die »das Bild Tunesiens be­schmutzen«. Diese Art von Rhetorik ver­nebelt die Rolle demokratisch gewählter Institutionen in der Ausübung von Politik bzw. suggeriert, dass diese Institutionen politisch wenig relevant sind.

Darüber hinaus fällt auf, wie häufig führende tunesische Politiker und tunesische Medien seit 2018 reguläre politische Prozesse, die gegen ihre Interessen gehen, als »Putschversuche« bezeichnen. Zuweilen ist auch von vereitelten Putschen externer Akteure die Rede. Hierdurch wird systematisch ein Diskurs generiert, der die Grenzen zwischen demokratischem und undemokra­tischem Handeln verwischt. Außerdem wird eine Atmosphäre geschaffen, die radi­kales politisches Handeln rechtfertigt. Diese Art von Rhetorik ist nicht neu: Der Putsch, der Ben Ali 1987 an die Macht brachte, wurde ebenfalls häufig dadurch begründet, dass er einem konkurrierenden Putschversuch der Islamisten zuvorgekom­men sei.

Alte rhetorische Muster sind auch in der tunesischen Außendarstellung der letzten Jahre zu finden. In Ben Alis Zeiten versuch­ten tunesische Offizielle das »Singapur-Modell« zu verkaufen, das heißt, Tunesien als zwar autoritäres, aber gut funktionierendes, gut regiertes und wirtschaftlich erfolg­reiches Land zu präsentieren. In den ersten Jahren nach 2011 dominierte dann der Diskurs vom demokratischen Vorzeige­modell, das auf­grund der Verfehlungen des Ben-Ali-Regimes und der Turbulenzen der Revolution in eine wirtschaftliche Krise geschlittert sei. Seit einigen Jahren indes hat sich der Diskurs wieder verändert. Mittlerweile sind Akteure, die in der Ben-Ali-Ära hohe Funktionen innehatten und inzwischen wieder offizielle Posten be­kle­i­den, nicht die Einzigen, die 2011 als Zwischen­fall der Geschichte darstellen: Der Umbruch habe dem Land ein wirtschaft­liches und ein Sicherheitsproblem sowie schlechte Regie­rungsführung eingebracht. In romantisierenden Darstellungen der Ben-Ali-Jahre werden die demokratischen Erfolge seit 2011 wenig erwähnt. Hier ist der Tenor, es gelte lediglich, das Land wieder auf die Spur zu setzen, die es 2011 verlassen hat. Diese Diskurse werden teil­weise auch von ausländischen Partnern übernommen, deren Fokus sich von der Demokratisierung Tunesiens auf seine Stabilisierung verschoben hat.

Was alte rhetorische Muster im In- und Ausland vereint, ist, dass sie Tunesiens politische Entwicklung sowie seine Wirt­schaft und Sicherheitslage als getrennte Themen behandeln. Wirtschaftliche und sicherheitspolitische Herausforderungen werden auf externe Akteure zurückgeführt und als Belastung für den politischen Reform­prozess dargestellt. Damit wird das Verschleppen und Verschieben von Refor­men gerechtfertigt – häufig mit Verweis auf gescheiterte Demokratisierungsprozesse in Algerien oder Libyen. Diese rhetorische Trennung verschleiert bewusst die Ver­knüp­fungen und Seilschaften zwischen Wirtschaft, Sicherheit und Politik – eben jenen Raum, in dem die Machtbasis anti­demokratischer Netzwerke verankert ist.

Der kumulierte Effekt von alter Rhetorik, autoritären Praktiken und offensichtlichen Machenschaften antidemokratischer Netz­werke erhöht die gesellschaftlichen, wirt­schaftlichen und politischen Kosten der Transition. Dazu gehört ganz zentral ein sinkendes Vertrauen der Bevölkerung in die Kapazität demokratischer Prozesse, Ord­nung und soziale Gerechtigkeit zu schaffen. So beteiligten sich an den ersten freien Kommunalwahlen in der Geschichte Tune­siens im Frühjahr 2018 lediglich 33,7 Pro­zent der registrierten Wählerinnen und Wähler. Eine Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung 2016 zeigte ein deutlich geringeres Vertrauen ins Parlament als in die Armee oder Polizei. Daran dürfte sich seither wenig geändert haben: Das Parlament ist nicht nur unterausgestattet und mit einer – transitionsbedingt – hohen Zahl von neuen Gesetzen beschäftigt. Vielmehr wir­ken sich die Macht­kämpfe innerhalb der Regierungskoalition negativ auf das Tempo und die Qualität parlamentarischer Pro­zesse und Debatten aus.

Nur ein Déja-vu?

Ein Blick in Tunesiens Geschichte zeigt, dass Demokratisierung keineswegs ein Selbstläufer ist. Unter internationalen Beob­achterinnen und -beobachtern gab es bereits Ende der 1980er-Jahre, kurz nach der Machtübernahme Ben Alis, eine kurze Phase des Optimismus. Wahlen unter der Teilnahme verschiedener Parteien, formale Bekenntnisse zu Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit sowie die Nutzung des Konsensprinzips wurden damals im Besonderen gelobt. »Die Ehrlichkeit und Hingebung von Bourguibas Nachfolger hat die Stimmung in Tunesien aufgehellt«, schrieb 1990 der amerika­nische Politik­wissenschaftler Mark Tessler und bekundete, das Land habe »wichtige Fortschritte in seinem Streben nach Demo­kratie gemacht«.

Damals folgten Rückschritte auf Fortschritte und die Diktatur Ben Alis. Den­noch: Die Geschichte dürfte sich nicht wiederholen. Das aktuelle Ringen zwischen demokratisch gesinnten und Status-quo-Akteuren ist nicht mit der frühen Ben-Ali-Zeit zu ver­gleichen. Der formale politische Rahmen ist ein anderer. Die über nun gut acht Jahre in großer Freiheit agierende starke Zivilgesell­schaft hat kein historisches Äquivalent. So konnte die Organisation AlBawsala Anfang 2019 den Staatspräsidenten auf Machtmissbrauch und Ver­fas­sungs­bruch verklagen – ohne Angst vor den Folgen zu haben. Nicht zuletzt: Der Aus­gang des juristischen Verfahrens ist offen.

Anfang 2019 spricht folglich wenig dafür, dass eine Restitution des alten Systems ansteht. Aber auch die Konsolidierung der Demokratie ist nicht realistisch, wenn die beschriebenen Gegenbewegungen nicht schwächer werden – was sich nicht abzeichnet. Wahrscheinlich ist auf ab­seh­bare Zeit ein hybrides System, in dem sich demokratische Elemente und Prozesse mit autoritären Reflexen und zuweilen auch antidemokratischen Schritten ver­mengen.

Empfehlungen für externe Akteure

Vor diesem Hintergrund müssten Tunesiens deutsche und europäische Partner bzw. die internationale Gebergemeinschaft ein Inter­esse an der Eindämmung der beschriebenen Gegenbewegungen haben.

Um zu verhindern, dass Tunesien in einem Hybridsystem steckenbleibt, emp­fiehlt sich daher Folgendes:

  • Weiterhin politische Prioritäten setzen, auch wenn sich der Diskurs zunehmend auf die Wirtschafts- und Sicherheitslage konzentriert. Hierzu sollten die Unabhängigkeit der Justiz und administrative Reformen gehören.

  • Dabei helfen, Freiräume für »Watch-Dog«-Organisationen, Journalisten und zivil­gesellschaftliche Verbände zu verteidigen.

  • Innerhalb der Zivilgesellschaft und vor allem auch in der Presselandschaft Viel­falt fördern und (Meinungs-)Monopol­bildungen entgegenwirken, indem für kritische und Minderheitenstimmen Plattformen geschaffen werden.

  • In der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit konsequent auf offi­ziellen Kanälen, regelbasiertem Arbeiten sowie Transparenz bestehen.

  • Die Rolle individueller Akteure, Organi­sationen oder Staatsorgane, also auch Partner von deutschen Stiftungen, in Tunesiens politischer Entwicklung genau beleuchten und problematische Seilschaf­ten, Praktiken und Rhetorik offen ansprechen.

  • An das Verantwortungsbewusstsein politischer Führungsfiguren appellieren und nach belastbaren Belegen fragen, wenn diese schwerwiegende Anschuldigungen wie Putschversuche vorbringen.

Umgekehrt wäre es ratsam für Tunesiens internationale Partner, im Interesse einer vertieften Demokratisierung Folgendes zu vermeiden:

  • Selbst in der wirtschaftlichen oder poli­tischen Zusammenarbeit auf intrans­parente Netzwerke setzen, auch wenn diese kurzfristige Vorteile versprechen.

  • Tunesiens Demokratisierungserfolg als ab­geschlossen bezeichnen und behandeln.

  • Die vorherrschende Rhetorik unkritisch übernehmen.

  • Unrealistische Vergleiche zur Dramatisierung oder Beschönigung anstellen – weder Vergleiche mit Libyen oder Syrien noch europäische Modelldemokratien sind ein angemessener Maßstab.

Demokratische Transitionsprozesse brau­chen Zeit – dass Tunesien acht Jahre nach der Revolution eine konsolidierte Demokratie sein würde, war eine unrealistische Er­wartung. Insofern ist die Bestandsaufnahme, dass das Land gerade in Richtung eines hybriden Systems tendiert, nicht unbedingt eine schlechte. Kritisch ist hierbei, dass ein solches Hybridsystem voraussichtlich nicht in der Lage sein würde, zentrale Reformen durchzuführen, die sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die tunesische Bevöl­kerung erwarten. Eine Reform des Staatsapparats und der weiterhin hochgradig korrupten Wirtschaftsstrukturen sind zwin­gend notwendig, um die nachhaltige gesell­schaftliche und politische Stabilität in Tune­sien zu gewährleisten. Deshalb gilt es zu verhindern, dass sich hybride politische Strukturen festsetzen.

Max Gallien ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.

Dr. Isabelle Werenfels ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.

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ISSN 1611-6364