Mitte Januar 2019 jährte sich das Ende der Ben-Ali-Diktatur zum achten Mal – die Feierlichkeiten wurden jedoch durch massive soziale Proteste getrübt. Im Jahr der zweiten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen seit Verabschiedung der neuen Verfassung 2014 gehen die Meinungen zu Tunesiens politischer Entwicklung auseinander – und zwar sowohl in Tunesien selbst als auch im Ausland: Während die einen die Demokratisierung für quasi abgeschlossen halten, befürchten andere einen Rückfall in die Autokratie. Nüchtern betrachtet zeigt sich, dass Tunesien trotz erheblicher demokratischer Errungenschaften in Gefahr ist, sich zu einem hybriden – teils demokratischen, teils autoritären – System zu entwickeln. Dies liegt nicht nur am schwierigen wirtschaftlichen und regionalen Kontext. Vielmehr erschweren politische, wirtschaftliche und administrative Seilschaften des alten Systems sowie nach wie vor existierende autoritäre Praktiken und eine »alte« Rhetorik in Politik und Gesellschaft die Vertiefung der fragilen Demokratie. Klares Ziel für Tunesiens internationale Partner sollte es sein, diese Gegenbewegungen zu schwächen.
Acht Jahre nach dem Ende der Diktatur gilt Tunesien als einziges Land, das sich infolge des sogenannten »Arabischen Frühlings« demokratisiert hat. Die tunesische Transition ist allein schon deshalb bemerkenswert, weil der regionale Sicherheitskontext und die tiefe Wirtschaftskrise seit 2011 die Demokratisierung alles andere als begünstigen.
Zum Jubiläum der »Revolution« im Januar 2019 prägten allerdings nicht die demokratischen Fortschritte die Schlagzeilen in tunesischen und internationalen Medien. Vielmehr standen massive soziale Proteste, ein Generalstreik sowie Machtkämpfe innerhalb der politischen Eliten im Vordergrund. Nach knapp vier Jahren steckt die Regierungskoalition aufgrund von Konflikten zwischen ihren beiden größten Parteien, der säkularen Nidaa Tounes und der moderat islamistischen Ennahdha-Partei, in einer ernsten Krise. Stein des Anstoßes waren vor allem wachsende Konflikte 2018 zwischen Staatspräsident Béji Caid Essebsi und Premierminister Youssef Chahed (damals Nidaa Tounes): Essebsi drängte auf die Ablösung des ursprünglich von ihm vorgeschlagenen Chahed. Dagegen beharrte Ennahdha im Namen von Kontinuität und Stabilität darauf, dass der Premierminister im Amt bleibt. Ende Januar 2019 gründete Chahed eine eigene politische Partei, Tahya Tounes, mit der er die gesellschaftliche und politische Mitte besetzen möchte. Es gilt als wahrscheinlich, dass Chahed für die Präsidentschaftswahlen im November 2019 kandidieren wird. Dies wird der 92-jährige Amtsinhaber Essebsi möglicherweise auch wieder tun. Ein eigener Kandidat der aktuell stärksten Partei Ennahdha ist ebenfalls nicht ausgeschlossen. Falls Ennahdha bei den Parlamentswahlen im Oktober 2019 wie erwartet erneut stark abschneidet, dürfte ihr die Rolle der Königsmacherin zufallen.
Die aktuellen Ränkespiele finden vor dem Hintergrund einer äußerst angespannten wirtschaftlichen Situation statt. Tunesien ist, um einen Staatsbankrott abzuwenden, auf internationale Kredite angewiesen. Die Geber, allen voran der Internationale Währungsfonds, fordern Sparmaßnahmen und Strukturreformen. Gleichzeitig hat die mächtige Dachorganisation der Gewerkschaften (Union Générale Tunisienne du Travail, UGTT) massiv gegen Sparmaßnahmen mobilisiert. Zwar haben Chahed und die UGTT Anfang Februar eine Einigung zu Lohnerhöhungen erzielt. Aber die über Monate anhaltende, von Streiks begleitete Pattsituation zwischen Regierung und UGTT hat die wirtschaftliche Lage verschärft und die verbreiteten sozio-ökonomischen und politischen Proteste zusätzlich angekurbelt. Es ist wahrscheinlich, dass das Ringen zwischen Regierung und UGTT um wirtschaftliche Reformen und Austeritätsmaßnahmen weitergehen wird.
Diese Dynamiken primär als Folge demokratischer Freiheiten und politischen Wettbewerbs zu lesen, würde zu kurz greifen. Sie sind auch Ausdruck der Schwierigkeiten, die Demokratisierung zu konsolidieren. Antidemokratische Elitennetzwerke in Politik, Wirtschaft und Verwaltung, eingeschliffene autoritäre Praktiken und eine »alte« Rhetorik gehören nach wie vor zum politischen Repertoire Tunesiens. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass es bislang nicht gelungen ist, die erheblichen politischen Errungenschaften seit 2011 so zu verankern, dass sie unumkehrbar sind.
Die Errungenschaften
Grundsätzlich wären die Voraussetzungen für die Konsolidierung der tunesischen Demokratie ausgezeichnet. Tunesiens 2014 verabschiedete Verfassung gilt – zu Recht – als Meilenstein in der politischen Geschichte Nordafrikas. Sie ist die progressivste und demokratischste Verfassung der Region. Sie limitiert explizit die Rolle des Militärs und garantiert die Gleichstellung von Mann und Frau, unterstreicht die Unabhängigkeit der Justiz und schafft die Grundlage für eine Dezentralisierung politischer Verantwortung. Tunesiens Verfassung etabliert ein System, in dem die exekutive Gewalt zwischen dem vom Parlament gewählten Premierminister und dem direkt gewählten Präsidenten geteilt wird. Die in der Region weit verbreitete Konzentration politischer Macht auf eine einzige Person soll hierdurch verhindert werden. Nicht zuletzt legt die Verfassung den Grundstein für die Trennung von Politik und Religion.
Neben dem Inhalt der Verfassung war auch ihre Erarbeitung selbst eine wichtige Errungenschaft und brachte einigen der Protagonisten 2015 den Friedensnobelpreis ein. Akteure der Zivilgesellschaft hatten 2013 in einem durch Gewalt angeheizten Klima um Verfassungsprozess und ‑inhalte die Initiative ergriffen und einen Kompromiss verhandelt, der von nahezu dem gesamten politischen Spektrum getragen wurde.
Seit der Verabschiedung der Verfassung hat Tunesien 2014 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sowie 2018 Kommunalwahlen durchgeführt. Die Organisation der Wahlen durch die unabhängige Wahlkommission (Instance Supérieure Indépendante pour les Elections, ISIE) fand dabei internationale Anerkennung. Sowohl die beteiligten Parteien als auch internationale Wahlbeobachter erkannten die Wahlen als frei und fair an. In all diesen Prozessen zeigten sowohl islamistische als auch säkulare Parteien, dass sie sich an demokratische Spielregeln halten können.
Bei diesen positiven Entwicklungen hat sich die Relevanz der aktiven und sich schnell entwickelnden Zivilgesellschaft gezeigt. Die neu gewonnenen Bürgerrechte erlaubten sogenannten »Watch-Dog«-Organisationen wie AlBawsala, I-Watch oder Nawaat, als kritische Beobachter und Meinungsbildner die Entwicklung Tunesiens mitzugestalten – nicht zuletzt über Kampagnen in sozialen Medien. Besonders bemerkenswert ist, dass die tunesische Zivilgesellschaft mit Shams die einzige offiziell anerkannte Organisation Nordafrikas hat, die sich für die Rechte der LGBTI-Gemeinschaft einsetzt und deren Entkriminalisierung fordert.
Auch die Verabschiedung eines Gesetzes 2017, das Whistleblower schützt, die Korruption aufdecken, ist maßgeblich der Zivilgesellschaft zu verdanken. Dasselbe gilt für die Etablierung 2014 der sogenannten Wahrheitskommission (Instance de Vérité et Dignité, IVD) zur Vergangenheitsaufarbeitung, deren Mandat im Dezember 2018 ausgelaufen ist.
Allerdings haben sich gerade in dieser äußerst sensiblen Frage der Vergangenheitsbewältigung Grenzen und Defizite des neuen Tunesiens gezeigt. Um die IVD, ihre Kompetenzen, ihre Arbeitsweise und die potentielle Verlängerung ihres Mandats hatte sich ein Tauziehen zwischen reform- und status-quo-orientierten politischen Akteuren entwickelt, bei dem Letztere meist die Oberhand behielten.
Grenzen der Demokratisierung
Schwierigkeiten, die Demokratisierung zu konsolidieren, zeigen sich am deutlichsten in der Judikative, im Sicherheitssektor und in der Korruptionsbekämpfung.
Judikative. Fast fünf Jahre nach der Verabschiedung der neuen Verfassung hat Tunesien noch immer kein Verfassungsgericht – von den zwölf vorgesehenen Richtern ist erst ein einziger vom Parlament bestätigt worden. Dies hat ernste Konsequenzen: Die Rechtmäßigkeit im Sinne der Verfassung mehrerer Gesetze, die in den vergangenen Jahren verabschiedet worden sind, war ebenso umstritten wie die Befugnisse des Präsidenten und des Premierministers. Mehrfach fand sich das Land am Rande einer Verfassungskrise. Auch über das Verfassungsgericht hinaus sind weitere Reformen in der Judikative notwendig, um deren Unabhängigkeit und Transparenz sicherzustellen. So bleibt zum Beispiel die weit gefasste Zuständigkeit und Anwendung militärischer Gerichtsbarkeit problematisch.
Sicherheitssektor. Noch bedenklicher ist die Lage im Sicherheitssektor und hier insbesondere im Innenministerium. Zwar haben sich die Kapazitäten der tunesischen Sicherheitskräfte insgesamt in den letzten Jahren verbessert, vor allem aufgrund extensiver Unterstützung internationaler Partner. Dennoch sind grundlegende interne Reformen, vor allem der Polizei, verschleppt worden. Der Sektor operiert weithin intransparent, fragmentiert sowie ohne klare Rechenschaftspflicht bzw. parlamentarische Aufsicht. Die Rolle von neuen, zunehmend politisch aktiven Gewerkschaften innerhalb des Sicherheitssektors, insbesondere bei der Polizei, ist besonders besorgniserregend, da diese wiederholt durch konkrete Erpressung der Legislative und Judikative auffällig wurden (vgl. S. 4). Die häufige Verhängung des Ausnahmezustands und die ausufernde Anwendung von Antiterrorgesetzen in Fällen, in denen keine offensichtliche Verbindung zu Terrorismus besteht, verhindern mehr Transparenz im Sicherheitsapparat und können Bürger- und Menschenrechte unterwandern. So wird etwa die freie Meinungsäußerung eingeschränkt: Unter dem Vorwand der Unterwanderung des Zusammenhalts der Armee wurde der Blogger und Parlamentarier Yassine Ayari 2018 zu einer Haftstrafe wegen eines Facebook-Eintrags verurteilt.
Wirtschaft. Auch die Reform korrupter Wirtschaftsstrukturen des alten Systems hat bisher zu kurz gegriffen. Sie beschränkte sich primär auf die Familie des vorherigen Präsidenten Ben Ali sowie auf wenige, politisch opportune und öffentlichkeitswirksame Fälle. Unabhängige staatliche Institutionen zur Korruptionsbekämpfung wie die Instance Nationale de la Lutte contre la Corruption bleiben ohne ausreichende politische Unterstützung. Die Verwaltung des 2011 konfiszierten Wirtschaftsimperiums des ehemaligen Diktators und seiner Familie stellte sich ebenfalls schwierig dar. Rechtliche Unklarheiten, sich überschneidende Kompetenzen und ein Mangel an Ressourcen und politischem Willen haben zu Korruption und Misswirtschaft geführt sowie zur Rehabilitation prominenter Figuren aus dem sogenannten Ben-Ali-Clan.
Besonders kontrovers war in diesem Zusammenhang ein 2017 verabschiedetes Gesetz. Es spricht ranghohen Beamten, denen Korruption unter dem Ben-Ali-Regime vorgeworfen wurde, eine Generalamnestie aus. Ein früherer Entwurf für dieses Gesetz, der die Amnestie auch auf die komplette Privatwirtschaft ausgeweitet hätte, war als Resultat massiver Proteste aus der Zivilgesellschaft gescheitert. Dennoch ist festzustellen, dass die Entflechtung von Politik und Wirtschaftseliten bislang nicht gelungen ist. Damit ist ein zentraler Baustein der Macht- und Profit-Anhäufung des Ben-Ali-Regimes noch immer nicht beseitigt.
Die Gegenbewegungen zur Demokratisierung
Die beschriebenen Tatsachen – dass die Judikative ihre unabhängige Rolle (noch) nicht voll ausüben kann, dass keine grundlegenden Reformen im Sicherheitssektor stattgefunden haben und dass korrupte Wirtschaftseliten des alten Systems weitgehend unbehelligt bleiben – sind einer Reihe von Gegenbewegungen zur Demokratisierung geschuldet. Diese unterwandern oder blockieren notwendige Reformen.
Netzwerke
Alte Netzwerke innerhalb von Sicherheitssektor, Wirtschaft und Verwaltung stellen erhebliche Störfaktoren für Tunesiens Demokratisierung dar. Sie haben sich in verschiedenen Reformprozessen eine Quasi-Vetomacht erarbeitet. Ein Beispiel hierfür sind die Polizeigewerkschaften. 2012 verhinderten sie zeitweilig die Entlassung eines Generaldirektors im Innenministerium, der später wegen Tötung von Demonstranten durch die Sicherheitskräfte 2011 verurteilt wurde. Seit 2015 versuchen diese Gewerkschaften die Legislative zur Beschäftigung mit einem bestimmten Gesetz zu zwingen, indem sie protestieren und drohen, keine Sicherheit mehr zu gewährleisten. Dieses Gesetz würde Akteuren im Sicherheitssektor unter anderem Straflosigkeit auch dann zusichern, wenn sie tödliche Gewalt zum Schutz von Eigentum anwenden.
Dabei geht es den unterschiedlichen alten Netzwerken in der Regel nicht darum, den Status quo ante wiederherzustellen. Vielmehr stehen die Sicherung eigener Pfründe und die Verfolgung partikulärer Interessen im Vordergrund. In einem konsolidierten demokratischen System mit entsprechender Transparenz und Rechenschaftspflicht ließe sich dies nur schwer realisieren.
Alte Seilschaften in der Wirtschaft
Viele Tunesierinnen und Tunesier hatten sich von der Demokratisierung nicht nur neue politische Institutionen erhofft, sondern auch eine inklusivere, fairere und weniger korrupte Wirtschaftsordnung. Diese Hoffnungen sind bislang weitestgehend enttäuscht worden. Der Familienclan des ehemaligen Präsidenten Ben Ali, der durch Korruption und Einschüchterung eine Klientelwirtschaft errichtete, hat das Land größtenteils verlassen. Andere politisch gut verbandelte Wirtschaftseliten sind jedoch weiterhin aktiv und auch international gut vernetzt. Ihr politisches Interesse liegt vor allem darin, die unter dem alten Regime gewonnenen Privilegien zu verteidigen. Überdies wollen sie Reformen abwenden, die Transparenz und Wettbewerb erhöhen und damit zur Entstehung neuer Konkurrenten führen könnten. Diese Strategie hat seit Jahrzehnten zu niedrigen Steuereinnahmen, einem wachsenden informellen Sektor und einem intransparenten System von Regulierungen beigetragen, das die tunesische Wirtschaft massiv belastet. Die strategische Intransparenz ist auch ein Grund, warum Teile der Wirtschafts- und insbesondere der Dienstleistungselite dem umfassenden Freihandelsabkommen mit der EU negativ gegenüberstehen, über das die Regierung zurzeit verhandelt.
Darüber hinaus versuchen diese Seilschaften zu verhindern, dass Wirtschaftseliten für ihre Verbindungen zu Ben Alis Regime zur Rechenschaft gezogen werden. Auch in diesem Anliegen sind sie bislang ausgesprochen erfolgreich gewesen.
Das liegt nicht zuletzt am erheblichen Einfluss, den diese Wirtschaftsseilschaften auf die öffentliche Meinung ausüben. Denn obwohl die Pressefreiheit in der neuen Verfassung verankert ist, hat die hohe Konzentration von Medienbesitz in den Händen weniger, teils politisch ambitionierter Akteure die Entwicklung einer vielseitigen, professionellen und unabhängigen Presselandschaft verhindert. Folglich spiegeln die Presse und die klassischen audiovisuellen Medien (Radio, TV) die große Vielfalt der politischen Landschaft keineswegs wider. Zudem kommt es zu konzertierten Medienkampagnen, etwa gegen Ennahdha, die in den beschriebenen Wirtschaftsseilschaften wenig Unterstützer hat.
Nicht zuletzt profitieren diese Seilschaften auch von der Rückkehr wichtiger Kader aus Ben Alis 2011 aufgelöster Quasi-Einheitspartei Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD) in hohe Positionen in Politik und Verwaltung. So zum Beispiel hatten mehr als ein Fünftel der 43 Minister und Staatssekretäre der Regierung Chahed von 2017 / 18 schon in der Ben-Ali-Zeit als Minister und / oder RCD-Kader gedient.
Abschließend muss betont werden, dass die verschiedenen Netzwerke mit Verbindungen zum alten System keine gemeinsame Front bilden. Vielmehr handelt es sich um sehr diverse Seilschaften, deren Interessen sich aber überschneiden, wenn es um das Abwehren von Regularien und Gesetzen für mehr Transparenz, Rechenschaftspflicht und Vergangenheitsaufarbeitung geht.
Praktiken
Zu den Gegenbewegungen, die die Verankerung der Demokratie erschweren, gehören auch autoritäre Reflexe und Praktiken. Sie beginnen an der Staatsspitze und reichen weit über die politische Arena hinaus in die Gesellschaft.
So hat Staatspräsident Essebsi wiederholt die Kompetenzen seines Amtes überschritten. Als Premierminister Chahed Ende 2018 eine partielle Kabinettsumbildung vornahm, verweigerte Essebsi beispielsweise anfänglich seine Zustimmung mit der Begründung, er sei nicht konsultiert worden. Dabei sieht die neue Verfassung eine solche Konsultation nicht vor. In dieses Muster passt auch, dass Essebsi wiederholt angeregt hat, zu einem reinen Präsidialsystem überzugehen.
Darüber hinaus zeigt Essebsi wenig Respekt für parteiinterne demokratische Verfahren. Einst Mitbegründer von Nidaa und heute aufgrund seiner Präsidentschaft parteilos, versucht Essebsi seit mehreren Jahren, seinen Sohn gegen erheblichen Widerstand innerhalb der Partei zum Vorsitzenden von Nidaa Tounes zu machen. Nach der Fusion von Nidaa mit der kleineren UPL-Partei ist 2018 ein Politiker Generalsekretär von Nidaa geworden, der im Februar 2019 in Abwesenheit zu fünf Jahren Haft wegen Korruption verurteilt worden ist.
Auch innerhalb vieler anderer Parteien dominieren Praktiken, die begrenzt demokratisch sind und einzelnen Personen ein überproportionales Gewicht verleihen. Oftmals werden Persönlichkeiten programmatischen Inhalten übergeordnet.
Der sehr starke Fokus auf einzelne charismatische Führungspersönlichkeiten, im Maghreb »zaïmisme« genannt, führt dazu, dass wichtige Entscheidungen zuweilen nicht in Regierung und Parlament verhandelt, sondern informell abgesprochen werden. Dies geschah wiederholt zwischen Präsident Essebsi und dem Vorsitzenden der Ennahdha-Partei, Rachid Ghannouchi, die im tunesischen Jargon bezeichnenderweise »Sheikhs« genannt werden.
Zu den für Demokratisierung problematischen Praktiken von Parteien gehört die Intransparenz bei der Parteienfinanzierung. Gemäß einer Aussage von I-Watch vom Januar 2019 weigerten sich 96 Prozent der über 200 tunesischen Parteien Finanzberichte bzw. ‑abrechnungen vorzulegen. Seit Ende 2017 steht die Verabschiedung eines Gesetzes zur Parteienfinanzierung an.
Dass dieses Gesetz bislang nicht verabschiedet worden ist, liegt nicht zuletzt am Streben nach Konsens um jeden Preis – der von 2014 bis 2018 leitenden politischen Doktrin Essebsis und Ghannouchis. So hat sich Ennahdha im Interesse der Beibehaltung des Konsenses immer stark nach Nidaas Präferenzen gerichtet. Dies erklärt, dass Ennahdha den Gesetzen zur Amnestie für Verwaltungskader und dem Gesetz zur Terrorismusbekämpfung zugestimmt hat, obwohl beide Gesetze innerhalb der Partei höchst umstritten waren. Paradoxerweise hat das Konsensprinzip damit die Vertiefung der Demokratie ebenfalls behindert. Der Ennahdha-Partei sitzt die Angst vor erneuter Ausgrenzung im Nacken: In der Ben-Ali-Zeit war die Partei verboten, ihre Mitglieder wurden verfolgt. Diese Sorge ist durch den Coup des Militärs gegen die Muslimbrüder in Ägypten 2013 verstärkt worden und dürfte Ennahdha weiterhin nach Konsens streben lassen.
Autoritäre Reflexe wirken auch außerhalb der Politik, denn die Machtstrukturen des alten Regimes haben sich nicht auf den formalen politischen Raum beschränkt. Im Verwaltungsapparat, aber auch an Schulen und Universitäten existieren weiterhin oftmals hochgradig hierarchische Strukturen, sind Kompetenzüberschreitungen gängige Praxis und finden sich keine funktionierenden institutionellen Kontrollorgane.
All diese Praktiken reduzieren die Transparenz, stärken klientelistische und personalisierte Netzwerke und erschweren die gesellschaftliche Verankerung neuer demokratischer Spielregeln.
Rhetorik
Ein weiterer wichtiger Faktor, der einer »tiefen« Demokratisierung in Tunesien entgegenwirkt, ist eine bestimmte Rhetorik, die von tunesischen Politikern und Politikerinnen im In- und Ausland angewendet wird, um zentrale Strukturreformen abzuwehren.
In der Kommunikation mit der eigenen Bevölkerung neigen tunesische Entscheidungsträger dazu, politische Verantwortung und Handlungsmacht systematisch und unverhältnismäßig häufig auf ausländische Akteure zu schieben. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Frankreich, die Europäische Union, der sogenannte »Islamische Staat« oder die USA werden dabei auch in innenpolitischen Auseinandersetzungen als »eigentliche Strippenzieher« präsentiert. Oft werden okkulte Netzwerke evoziert, in die auch lokale Akteure eingebunden sein sollen, denen Patriotismus abgeht. Dadurch wird nicht nur der in der Bevölkerung verbreitete Hang zu Verschwörungstheorien befeuert. Vielmehr diskreditieren politische Eliten auf diese Weise ausländische Medien, die kritisch berichten, sowie unabhängige tunesische Medienschaffende und Nichtregierungsorganisationen, die »das Bild Tunesiens beschmutzen«. Diese Art von Rhetorik vernebelt die Rolle demokratisch gewählter Institutionen in der Ausübung von Politik bzw. suggeriert, dass diese Institutionen politisch wenig relevant sind.
Darüber hinaus fällt auf, wie häufig führende tunesische Politiker und tunesische Medien seit 2018 reguläre politische Prozesse, die gegen ihre Interessen gehen, als »Putschversuche« bezeichnen. Zuweilen ist auch von vereitelten Putschen externer Akteure die Rede. Hierdurch wird systematisch ein Diskurs generiert, der die Grenzen zwischen demokratischem und undemokratischem Handeln verwischt. Außerdem wird eine Atmosphäre geschaffen, die radikales politisches Handeln rechtfertigt. Diese Art von Rhetorik ist nicht neu: Der Putsch, der Ben Ali 1987 an die Macht brachte, wurde ebenfalls häufig dadurch begründet, dass er einem konkurrierenden Putschversuch der Islamisten zuvorgekommen sei.
Alte rhetorische Muster sind auch in der tunesischen Außendarstellung der letzten Jahre zu finden. In Ben Alis Zeiten versuchten tunesische Offizielle das »Singapur-Modell« zu verkaufen, das heißt, Tunesien als zwar autoritäres, aber gut funktionierendes, gut regiertes und wirtschaftlich erfolgreiches Land zu präsentieren. In den ersten Jahren nach 2011 dominierte dann der Diskurs vom demokratischen Vorzeigemodell, das aufgrund der Verfehlungen des Ben-Ali-Regimes und der Turbulenzen der Revolution in eine wirtschaftliche Krise geschlittert sei. Seit einigen Jahren indes hat sich der Diskurs wieder verändert. Mittlerweile sind Akteure, die in der Ben-Ali-Ära hohe Funktionen innehatten und inzwischen wieder offizielle Posten bekleiden, nicht die Einzigen, die 2011 als Zwischenfall der Geschichte darstellen: Der Umbruch habe dem Land ein wirtschaftliches und ein Sicherheitsproblem sowie schlechte Regierungsführung eingebracht. In romantisierenden Darstellungen der Ben-Ali-Jahre werden die demokratischen Erfolge seit 2011 wenig erwähnt. Hier ist der Tenor, es gelte lediglich, das Land wieder auf die Spur zu setzen, die es 2011 verlassen hat. Diese Diskurse werden teilweise auch von ausländischen Partnern übernommen, deren Fokus sich von der Demokratisierung Tunesiens auf seine Stabilisierung verschoben hat.
Was alte rhetorische Muster im In- und Ausland vereint, ist, dass sie Tunesiens politische Entwicklung sowie seine Wirtschaft und Sicherheitslage als getrennte Themen behandeln. Wirtschaftliche und sicherheitspolitische Herausforderungen werden auf externe Akteure zurückgeführt und als Belastung für den politischen Reformprozess dargestellt. Damit wird das Verschleppen und Verschieben von Reformen gerechtfertigt – häufig mit Verweis auf gescheiterte Demokratisierungsprozesse in Algerien oder Libyen. Diese rhetorische Trennung verschleiert bewusst die Verknüpfungen und Seilschaften zwischen Wirtschaft, Sicherheit und Politik – eben jenen Raum, in dem die Machtbasis antidemokratischer Netzwerke verankert ist.
Der kumulierte Effekt von alter Rhetorik, autoritären Praktiken und offensichtlichen Machenschaften antidemokratischer Netzwerke erhöht die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Kosten der Transition. Dazu gehört ganz zentral ein sinkendes Vertrauen der Bevölkerung in die Kapazität demokratischer Prozesse, Ordnung und soziale Gerechtigkeit zu schaffen. So beteiligten sich an den ersten freien Kommunalwahlen in der Geschichte Tunesiens im Frühjahr 2018 lediglich 33,7 Prozent der registrierten Wählerinnen und Wähler. Eine Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung 2016 zeigte ein deutlich geringeres Vertrauen ins Parlament als in die Armee oder Polizei. Daran dürfte sich seither wenig geändert haben: Das Parlament ist nicht nur unterausgestattet und mit einer – transitionsbedingt – hohen Zahl von neuen Gesetzen beschäftigt. Vielmehr wirken sich die Machtkämpfe innerhalb der Regierungskoalition negativ auf das Tempo und die Qualität parlamentarischer Prozesse und Debatten aus.
Nur ein Déja-vu?
Ein Blick in Tunesiens Geschichte zeigt, dass Demokratisierung keineswegs ein Selbstläufer ist. Unter internationalen Beobachterinnen und -beobachtern gab es bereits Ende der 1980er-Jahre, kurz nach der Machtübernahme Ben Alis, eine kurze Phase des Optimismus. Wahlen unter der Teilnahme verschiedener Parteien, formale Bekenntnisse zu Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit sowie die Nutzung des Konsensprinzips wurden damals im Besonderen gelobt. »Die Ehrlichkeit und Hingebung von Bourguibas Nachfolger hat die Stimmung in Tunesien aufgehellt«, schrieb 1990 der amerikanische Politikwissenschaftler Mark Tessler und bekundete, das Land habe »wichtige Fortschritte in seinem Streben nach Demokratie gemacht«.
Damals folgten Rückschritte auf Fortschritte und die Diktatur Ben Alis. Dennoch: Die Geschichte dürfte sich nicht wiederholen. Das aktuelle Ringen zwischen demokratisch gesinnten und Status-quo-Akteuren ist nicht mit der frühen Ben-Ali-Zeit zu vergleichen. Der formale politische Rahmen ist ein anderer. Die über nun gut acht Jahre in großer Freiheit agierende starke Zivilgesellschaft hat kein historisches Äquivalent. So konnte die Organisation AlBawsala Anfang 2019 den Staatspräsidenten auf Machtmissbrauch und Verfassungsbruch verklagen – ohne Angst vor den Folgen zu haben. Nicht zuletzt: Der Ausgang des juristischen Verfahrens ist offen.
Anfang 2019 spricht folglich wenig dafür, dass eine Restitution des alten Systems ansteht. Aber auch die Konsolidierung der Demokratie ist nicht realistisch, wenn die beschriebenen Gegenbewegungen nicht schwächer werden – was sich nicht abzeichnet. Wahrscheinlich ist auf absehbare Zeit ein hybrides System, in dem sich demokratische Elemente und Prozesse mit autoritären Reflexen und zuweilen auch antidemokratischen Schritten vermengen.
Empfehlungen für externe Akteure
Vor diesem Hintergrund müssten Tunesiens deutsche und europäische Partner bzw. die internationale Gebergemeinschaft ein Interesse an der Eindämmung der beschriebenen Gegenbewegungen haben.
Um zu verhindern, dass Tunesien in einem Hybridsystem steckenbleibt, empfiehlt sich daher Folgendes:
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Weiterhin politische Prioritäten setzen, auch wenn sich der Diskurs zunehmend auf die Wirtschafts- und Sicherheitslage konzentriert. Hierzu sollten die Unabhängigkeit der Justiz und administrative Reformen gehören.
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Dabei helfen, Freiräume für »Watch-Dog«-Organisationen, Journalisten und zivilgesellschaftliche Verbände zu verteidigen.
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Innerhalb der Zivilgesellschaft und vor allem auch in der Presselandschaft Vielfalt fördern und (Meinungs-)Monopolbildungen entgegenwirken, indem für kritische und Minderheitenstimmen Plattformen geschaffen werden.
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In der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit konsequent auf offiziellen Kanälen, regelbasiertem Arbeiten sowie Transparenz bestehen.
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Die Rolle individueller Akteure, Organisationen oder Staatsorgane, also auch Partner von deutschen Stiftungen, in Tunesiens politischer Entwicklung genau beleuchten und problematische Seilschaften, Praktiken und Rhetorik offen ansprechen.
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An das Verantwortungsbewusstsein politischer Führungsfiguren appellieren und nach belastbaren Belegen fragen, wenn diese schwerwiegende Anschuldigungen wie Putschversuche vorbringen.
Umgekehrt wäre es ratsam für Tunesiens internationale Partner, im Interesse einer vertieften Demokratisierung Folgendes zu vermeiden:
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Selbst in der wirtschaftlichen oder politischen Zusammenarbeit auf intransparente Netzwerke setzen, auch wenn diese kurzfristige Vorteile versprechen.
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Tunesiens Demokratisierungserfolg als abgeschlossen bezeichnen und behandeln.
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Die vorherrschende Rhetorik unkritisch übernehmen.
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Unrealistische Vergleiche zur Dramatisierung oder Beschönigung anstellen – weder Vergleiche mit Libyen oder Syrien noch europäische Modelldemokratien sind ein angemessener Maßstab.
Demokratische Transitionsprozesse brauchen Zeit – dass Tunesien acht Jahre nach der Revolution eine konsolidierte Demokratie sein würde, war eine unrealistische Erwartung. Insofern ist die Bestandsaufnahme, dass das Land gerade in Richtung eines hybriden Systems tendiert, nicht unbedingt eine schlechte. Kritisch ist hierbei, dass ein solches Hybridsystem voraussichtlich nicht in der Lage sein würde, zentrale Reformen durchzuführen, die sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die tunesische Bevölkerung erwarten. Eine Reform des Staatsapparats und der weiterhin hochgradig korrupten Wirtschaftsstrukturen sind zwingend notwendig, um die nachhaltige gesellschaftliche und politische Stabilität in Tunesien zu gewährleisten. Deshalb gilt es zu verhindern, dass sich hybride politische Strukturen festsetzen.
Max Gallien ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.
Dr. Isabelle Werenfels ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika.
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doi: 10.18449/2019A07